Joseph Ratzinger (links) und Johann Baptist Metz im Jahr 1998.
Kommentar

«Messerscharfe Diktion»: Joseph Ratzinger und die nachkonziliare Theologie

Joseph Ratzinger war in der katholischen Kirche ganz und gar eine öffentliche Person mit höchsten Ämtern und grössten Machtbefugnissen – schon als Erzbischof von München, vor allem aber als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und als Papst Benedikt XVI. Da wäre es schlicht sträflich, wegen des Respekts dem Verstorbenen gegenüber vom Negativen zu schweigen.

Felix Senn*

In seinem über 30-jährigen Wirken in Rom war Ratzinger getrieben vom Willen, die Kirche von allem Neuen zu bewahren oder wieder zu reinigen. Auch wenn er für sich beanspruchte, nichts anderes als die legitime Deutung und Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verfolgen, so wurde bald offensichtlich, dass er mit allen ihm verfügbaren Mitteln versuchte, das Rad der Zeit zurückzudrehen hinter die Errungenschaften des Konzils.

«Hermeneutik der Kontinuität»

Mit seiner künstlich konstruierten «Hermeneutik der Kontinuität», in der er keinerlei Widerspruch zwischen vorkonziliarer und konziliarer Theologie zuliess oder anerkennen wollte, machte er sämtliche Errungenschaften des Konzils zunichte.

Mit «Dominus Iesus» brüskierte er nicht nur die Bischöfe und Theologen im asiatischen Raum, die in der Spur des Konzils (Nostra aetate!) den konstruktiven Dialog mit den östlichen Religionen vorantrieben, sondern auch zugleich die Kirchen der Reformation, denen er eine «schwer defizitäre Situation» beschied und das Kirchesein rundweg absprach.

Joseph Ratzinger bei der Priesterweihe Antonio Hautles im Oktober 1989 in Sant'Ignazio in Rom.
Joseph Ratzinger bei der Priesterweihe Antonio Hautles im Oktober 1989 in Sant'Ignazio in Rom.

Beste Theologinnen und Theologen fielen ihm zum Opfer

Seinem Furor fielen sie reihenweise zum Opfer, die besten Theologinnen und Theologen der letzten Jahrzehnte, die das Zweite Vatikanum ernstnahmen, eine Verheutigung (aggiornamento) der katholischen Kirche vorantrieben und die christliche Botschaft mit den Zeichen der Zeit zu versöhnen versuchten.

Ihnen wurde die Lehrerlaubnis entzogen oder gar nicht erst erteilt. Sie wurden in langjährige, intransparente und teilweise peinliche Lehrzuchtverfahren  verwickelt. Ein Klima der Angst entstand. Wer Karriere machen wollte, äusserte sich mit Vorteil nicht zu heissen Eisen wie aussereheliche Sexualität, strukturelle Reformen in der Kirche (z. B. Frauenordination), symbolische Deutung biblischer Texte (Wunder, Jungfrauengeburt…). Die Zahl der Fettnäpfchen, die es bei einer theologischen Laufbahn zu vermeiden galt, ist ziemlich gross.

Federführende Schlüsselfigur

Bei all dem war Joseph Ratzinger federführende Schlüsselfigur. Und seine Diktion war messerscharf. Mit seiner unsäglichen These einer angeblichen «Diktatur des Relativismus» in der Kirche verunglimpfte er sie alle: die Vertreter einer differenzierten Theologie der Religionen (Tissa Balasuriya aus Sri Lanka etwa, der 1997 sogar exkommuniziert wurde),

Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan.
Kardinal Joseph Ratzinger und Walter Kasper 2004 im Vatikan.

Ebenso wie profilierte Ökumeniker, die mit gelebter Kirchengemeinschaft ernst machen wollten (wie z. B. Hans Küng oder Gotthold Hasenhüttl); die Theologie der Befreiung und ihre herausragendsten Vertreter (wie z. B. Leonardo Boff und vor allem Jon Sobrino). Ebenso die weitaus «harmlosere» politische Theologie in Europa (eine Professur von Johann Baptist Metz in München hat Ratzinger noch als Erzbischof verhindert); ebenso eine existentielle oder tiefenpsychologische Hermeneutik der Bibel (z. B. Josef Imbach, Uta Ranke-Heinemann, Eugen Drewermann).

Ganz zu schweigen natürlich von den Vertreterinnen einer Gleichstellung der Frauen und einer feministischen Theologie (Magdalena Bussmann z. B. oder Teresa Berger, der die Lehrerlaubnis für einen Lehrstuhl im deutschsprachigen Raum, u. a. in Freiburg/Schweiz, verweigert wurde).

«Diktatur»?

Sie alle und viele mehr hat Joseph Ratzinger verdächtigt und als Relativisten und Relativistinnen abgestempelt. Ja mehr noch: Er sah sich offensichtlich von ihnen derart massiv bedroht, dass er von einer «Diktatur» sprach. Wie bitte? Wer hatte denn die Macht, wer? Wem waren all diese nachkonziliaren Theologinnen und Theologen ausgeliefert? Wer entschied über die sogenannte «Venia legendi», die «Gnade» also, an einer Theologischen Hochschule lehren zu dürfen? Wer indizierte Bücher oder entschied über Exkommunikationen? Wenn schon «Diktatur», dann wären solcherart Methoden wahrlich an anderen Stellen zu lokalisieren.

Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Papst Johannes Paul II. am 5. November 1979 im Vatikan.
Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Papst Johannes Paul II. am 5. November 1979 im Vatikan.

Vorwurf des Relativismus

Der Sache nach – nota bene – erhob Ratzinger den pauschalen Vorwurf des Relativismus an die Adresse «der modernen Theologie» schon unmittelbar nach dem Konzil, als er noch als ein aufstrebender Erneuerungstheologe gefeiert wurde, der er nie war. Im Vorwort zu seiner vielgerühmten «Einführung in das Christentum» (1968!) verglich er «die moderne Theologie» mit dem Märchen von «Hans im Glück» und fragt rhetorisch: «Hat unsere Theologie in den letzten Jahren (also im Umfeld des Konzils! Anm. von FS) sich nicht vielfach auf einen ähnlichen Weg begeben? Hat sie nicht den Anspruch des Glaubens, den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert…?»

Der aufgebahrte Benedikt XVI. im Petersdom
Der aufgebahrte Benedikt XVI. im Petersdom

Bedauerte die Gläubigen

Und er bedauerte die Gläubigen, die sich von solcher Theologie Glaubenshilfe erhofften: «Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen liess, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?»

Nein, «zu jenen Gedankenlosen (!)…,  die das Neue unbesehen jederzeit auch schon für das Bessere halten», wollte der Autor der «Einführung in das Christentum» keinesfalls gehören. Und schon in diesem Buch waren Ratzinger der johanneische Christus und die Wesenschristologie der griechisch-platonisch geprägten frühen Konzilien weit näher als der biblisch-historische Jesus von Nazareth und seine jüdisch verankerte, radikale Reich-Gottes-Botschaft und -Praxis.

Auf traditionelle Linie getrimmt

Vergegenwärtigt man sich dies alles im Rückblick, so verwundert es nicht, dass Joseph Ratzinger in seiner Amtszeit als Erzbischof von München, als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst alles daran setzte, die Theologie wieder auf traditionelle Linie zu trimmen.

Petersdom in Rom
Petersdom in Rom

Und man muss neidlos eingestehen: Es ist ihm in seiner Zeit als Präfekt gelungen, die «Kongregation für die Glaubenslehre» wieder zurückzuverwandeln in das, was sie vor dem Konzil war: ein «Heiliges Offizium» (dem damals übrigens der Papst selbst vorstand!), ja gar eine Inquisitionsbehörde (»Heilige Inquisition» hiess sie bis 1908), unter der Generationen von Theologinnen und Theologen zu leiden hatten.

Ära der Restauration

Und so war die lange Ära Ratzinger in Rom eine Ära der Restauration und auf der ganzen Linie ein Hemmschuh für die Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der dramatische Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche hat nicht zuletzt auch damit zu tun (nicht allein mit den ungeheuerlichen Missbrauchsskandalen, in denen Ratzinger ebenfalls eine höchst zwiespältige Rolle spielte).

Kardinal Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Kardinal Joseph Höffner (r.), Erzbischof von Köln, 1980.
Kardinal Joseph Ratzinger (l.), Erzbischof von München und Freising, und Kardinal Joseph Höffner (r.), Erzbischof von Köln, 1980.

Fazit: Aus der Sicht des jüngsten Konzils hätte Joseph Ratzinger nie und nimmer Karriere machen dürfen in Rom – weder als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre noch viel weniger als Papst. Sein Rücktritt 2013 war etwas vom Besten, was er als Papst getan hat. Es zeigt in allem doch eine gewisse Grösse und ist ihm hoch anzurechnen. Insgesamt jedoch war Joseph Ratzinger in seinem rückwärtsgewandten Eifer wie aus der Zeit gefallen, ein Relikt aus vergangenen Zeiten, ein Notbremser bei der Öffnung der Kirche in der Welt dieser Zeit.

Nun ist er zur Ruhe gekommen. Requiescat in pace!

* Der Theologe Felix Senn (66) war bis 2020 Bereichsleiter Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut (TBI) in Zürich.


Joseph Ratzinger (links) und Johann Baptist Metz im Jahr 1998. | © KNA
7. Januar 2023 | 12:55
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