Giuseppe Rusconi.
Schweiz

Giuseppe Rusconi: Warum Joseph Ratzinger die Schweizer Bischöfe rüffelte

«Jugend ohne Drogen»: Die Schweizer Bischofskonferenz verhielt sich zu dieser Initiative neutral. Kein Verständnis dafür hatte Joseph Ratzinger, berichtet der Tessiner Vaticanista Giuseppe Rusconi. Ein Gespräch über Ratzingers Freundschaft zu Eugenio Corecco, Schwierigkeiten im Bistum Lugano – und ob Mauro Lepori neuer Bischof wird.

Raphael Rauch

Sie arbeiten in Rom als Vaticanista. Konnten Sie zu Joseph Ratzinger eine enge Beziehung aufbauen?

Giuseppe Rusconi*: Keine enge Beziehung, aber er wusste, wer ich bin. Bei unserer ersten Begegnung sagte er zu mir: «Ich bin Bayer, Sie sind Schweizer. Geben wir uns die Hand.» Ich habe Joseph Ratzinger immer sehr herzlich wahrgenommen. Jahre später habe ich ihm einmal meine Frau vorgestellt, eine Römerin. Er gab sich gespielt empört: «Sie haben mir nie Ihre Frau vorgestellt!» (lacht).

Raphael Rauch und Giuseppe Rusconi im Gespräch.
Raphael Rauch und Giuseppe Rusconi im Gespräch.

Wann sind Sie Ratzinger zum ersten Mal begegnet?

Rusconi: 1996 wechselte ich von Bern nach Rom. Damals lernte ich Ratzinger bei Medienkonferenzen  im Vatikan kennen. 1998 hatte Ratzinger neue Kriterien für die Zuständigkeit der nationalen Bischofskonferenzen erläutert. Ich habe ihm dann auf dem Flur eine Frage gestellt. Die Schweizer Bischofskonferenz wollte sich bei der Initiative «Jugend ohne Drogen» nicht positionieren. Ich habe Ratzinger gefragt, was er davon halte. Er fand das total daneben. Er meinte, er hätte die Sitzung nicht verlassen, bis die Bischöfe einstimmig beschlossen hätten, die Initiative «Jugend ohne Drogen» zu unterstützen. Kardinal Schwery hat als einziger Schweizer Bischof die Initiative öffentlich unterstützt. Die anderen Bischöfe argumentierten, ein klares Ja könnte zu einer Stigmatisierung von Drogenabhängigen führen.

«Die römische Kurie war gegen eine völlige Autonomie der nationalen Bischofskonferenzen.»

Wollte Ratzinger starke Bischofskonferenzen, die öffentlich mitmischen?

Rusconi: Er wollte ein gewisses Gleichgewicht zwischen den nationalen Bischofskonferenzen, die in den letzten Jahren ihre Kompetenzen und Befugnisse erweitert haben, und Rom. Die römische Kurie war gegen eine völlige Autonomie der nationalen Bischofskonferenzen, liess ihnen aber einen gewissen Spielraum – in bestimmten Fragen, die die Weltkirche nicht berührten.

Welche Frage, die Sie als Journalist Joseph Ratzinger gestellt haben, sorgte für Wirbel?

Rusconi: Ich habe ihn am 17.September 2004 nach seiner Meinung zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei gefragt – es gab damals offizielle Verhandlungen. Er meinte, aus kulturellen und religiösen Gründen sei er gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Ratzinger war der Ansicht, die Türkei solle eine Brückenfunktion zwischen der EU und der arabischen Welt einnehmen – aber nicht selbst Teil der EU werden. Diese Schlagzeile kam auf die Titelseite des «Corriere della Sera» und auch von «Le Monde».

Giuseppe Rusconi.
Giuseppe Rusconi.

2002 war Ratzinger in Lugano. Wie kam’s dazu?

Rusconi: Er war mit Eugenio Corecco befreundet, der von 1986 bis zu seinem frühen Tod 1995 im Alter von 64 Jahren Bischof von Lugano war. Corecco war wie Ratzinger ein Intellektueller. Er war Professor für Kirchenrecht. 2002 gab es eine Konferenz zu Ehren Coreccos. Ich habe ihn gebeten, Coreccos Persönlichkeit in wenigen Worten zu beschreiben. Und er sagte mir, dass er ein Mann von grosser Güte und tiefem Glauben sei, was sich in seinem Handeln widerspiegele. Und zweitens sei er ein Mann gewesen, der sehr tiefgründig dachte und versuchte, eine Brücke zwischen Kirchenrecht und Theologie zu schlagen. Er sagte auch, dass das kanonische Recht auf der Theologie basiert – und nicht autonom sei.

«Ratzinger war er viel menschlicher, als man ihn oft dargestellt hat.»

Wie würden Sie die Freundschaft zwischen Ratzinger und Corecco beschreiben?

Rusconi: Es war eine intellektuelle Freundschaft – aber auch eine menschliche. Joseph Ratzinger war ein schüchterner Mensch und auch zurückhaltend bei Freundschaften. Und doch war er viel menschlicher, als man ihn oft dargestellt hat. Als er zum Papst gewählt wurde, hat ihn eine italienische Zeitung als deutschen Schäferhund bezeichnet. Gemeint war kein fürsorglicher Hund, der nach der Herde schaut – sondern ein Wachhund. Ich habe Joseph Ratzinger als Mann mit grossem Sinn für Menschlichkeit und einer grossen Sensibilität kennen gelernt.

Giuseppe Rusconi.
Giuseppe Rusconi.

Wie würden Sie den Tessiner Katholizismus beschreiben?

Rusconi: Kulturell sind wir oberlombardisch, also von der lombardischen Kultur durchdrungen, aber politisch stehen wir zweifellos Bern nahe und damit sind wir richtige Schweizer. Das Abstimmungsverhalten im Kanton Tessin entspricht oft jenem der Innerschweiz. Was anders ist als in der Innerschweiz: Die Katholikinnen und Katholiken schauen im Tessin eher auf Mailand und Rom. Deshalb ist der Tessiner Katholizismus im Allgemeinen konservativ.

«Valerio Lazzeri ist ein wenig wie Joseph Ratzinger.»

Wie bewerten Sie den Rücktritt von Bischof Valerio Lazzeri im Alter von 58 Jahren?

Rusconi: Das Bistum Lugano ist kein einfaches Bistum. Es gibt Probleme im Klerus, es gab einige schmerzhafte Skandale. Valerio Lazzeri ist ein wenig wie Joseph Ratzinger: ein Professor, kein Manager.

Wird der Zisterzienser Mauro Lepori Nachfolger von Valerio Lazzeri?

Rusconi: Es könnte so sein. Aber Papst Franziskus ist völlig unberechenbar.

* Der Tessiner Giuseppe Rusconi (73) arbeitet seit knapp drei Jahrzehnten als Journalist im Vatikan. Zuvor war er sieben Jahre lang in Bern als Bundeshauskorrespondent für den «Corriere de Ticino» tätig. Er bloggt auf rossoporpora.org.


Giuseppe Rusconi. | © Oliver Sittel
5. Januar 2023 | 11:02
Lesezeit: ca. 3 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!