Regisseur Mehdi Sahebi in Zürich.
Schweiz

Mehdi Sahebi: «Es gibt nicht nur Düsternis, das Leben ist trotzdem schön»

Der iranisch-schweizerische Filmemacher Mehdi Sahebi hat mit «Prisoners of Fate» einen etwas anderen Flüchtlingsfilm geschaffen. Menschlich, nahbar und berührend. Die Langzeitdokumentation wurde auch von kirchlicher Seite unterstützt.

Sarah Stutte

Wie ist die Idee zu diesem Film entstanden und wie lange haben Sie effektiv gedreht?

Mehdi Sahebi*: Die ursprüngliche Idee geht auf die Initiative von Christoph Homberger zurück. Ein Schweizer Tenor, mit dem ich befreundet bin. Er hatte 2015 die Idee, die Flüchtlinge in der Schweiz aus den Heimen und der Isolation herauszuholen und mit ihnen einen Chor zu gründen.

Der 16-jährige Omid (Mitte) rezitiert Gedichte, besucht die Pfadi und vermisst seine Eltern im Iran.
Der 16-jährige Omid (Mitte) rezitiert Gedichte, besucht die Pfadi und vermisst seine Eltern im Iran.

Als er mich um Unterstützung bat, habe ich zugesagt, das Projekt zu filmen. Dabei habe ich viele Flüchtlinge aus dem Iran, Afghanistan, Eritrea und Syrien kennengelernt. Omid beispielsweise – ein Protagonist aus meinem Film – war auch in diesem Chor und hat dadurch Pflegeeltern gefunden. Mit dem Film habe ich dann 2016 begonnen und bis 2022 gedreht.

Wie haben Sie den Protagonistinnen und Protagonisten in Ihrem Film dazu gebracht, dass sie sich Ihnen öffnen?

Sahebi: Ich habe mit viel mehr Flüchtlingen gedreht als denjenigen, die dann tatsächlich in der fertigen Dokumentation zu sehen sind. Einige wollten mit der Zeit nicht mehr gefilmt werden. Andere – wie Sanam –, um ihr Leid zu teilen und darauf aufmerksam zu machen. Meine Beziehung zu den Menschen in meinem Film wurde mit der Zeit sehr eng.

«Ein wichtiger Faktor war, dass ich alleine gearbeitet habe.»

Wenn man einfach da ist und zuhört, entsteht zwangsläufig eine Beziehung oder sogar eine Freundschaft. Mit der Zeit schafft man eine intime Atmosphäre, die dazu führt, dass sie sich öffnen und ihre persönlichsten Erfahrungen teilen. Ein wichtiger Faktor war aber auch, dass ich allein gearbeitet habe. Gewisse Stimmungen lassen sich nur so einfangen.

Einige der Flüchtlinge sind mehrmals geflohen. Aus Afghanistan in den Iran und von dort dann später weiter. Ein Protagonist meinte im Film, dass er im Iran verstecken musste, dass er aus Afghanistan ist und in der Schweiz beweisen muss, dass er Afghane ist. 

Sahebi: Das stimmt. Im Iran wurde er für seine Herkunft verprügelt. Viele Afghanen sind im Iran aufgewachsen oder sogar dort geboren und mussten ihre Nationalität verheimlichen. Während der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadineschād von 2005 bis 2013 gab es eine Art rechte Welle im Iran. Man hat alle Schuld an der Wirtschaftsmisere den afghanischen Flüchtlingen gegeben.

Mehdi Sahebi
Mehdi Sahebi

Sie haben selbst einen Flüchtlingshintergrund. Mit 20 Jahren sind Sie aus dem Iran in die Schweiz geflohen.

Sahebi: 1983. Nicht wegen des Iran-Irak-Kriegs, sondern weil diese Zeit eine der düstersten in der iranischen Geschichte war. Es wurden so viele junge Menschen hingerichtet. Die Machtergreifung der Mullahs hat das Land total militarisiert, der Krieg hat sein Übriges getan. Viele meiner Freunde sind festgenommen worden. In den Zeitungen sah man nur Fotos von den Hingerichteten. Die Behörden haben sie nicht einmal identifiziert. Das waren schlimme Zeiten. Deshalb bin ich weggegangen.

Sind Sie allein geflohen?

Sahebi: Ja. Viele meiner Geschwister hielten sich schon im Ausland auf. Ich hatte einen Bruder in der Schweiz und bin seintwegen hierhergekommen. Er hat in der Schweiz Chemie studiert und hat mir geholfen, einen Asylantrag zu stellen.

«Es ist nicht einfach, sein Land zu verlassen. Ich habe ein Jahr getrauert.»

Wie war es anfangs für Sie in der Schweiz?

Sahebi: Bekanntlich verdrängt man die schlechten Erinnerungen. Durch die Arbeit an «Prisoners of Fate» wurde ich ab wieder in meine Jugendzeit zurückversetzt. Ich habe gemerkt, wie ich selbst damals gelitten habe. Es ist nicht einfach, sein Land zu verlassen, Familie und Freunde, die im Gefängnis sind. Ich habe ein Jahr getrauert.

Sahebi ist als 20-Jähriger selbst aus dem Iran in die Schweiz geflohen.
Sahebi ist als 20-Jähriger selbst aus dem Iran in die Schweiz geflohen.

Die Migration ist eine harte Angelegenheit. Es entsteht ein radikaler Bruch in deinem Leben. Auf einmal bist du anonym. Du kennst niemanden, du bist einsam und sprachlos. Die ersten Jahre im Exil sind massgebend, aufgrund der Wandlungen, die stattfinden. Darin liegt aber auch die Chance, dass man sich mit sich selbst, der eigenen Kultur und der Vergangenheit auseinandersetzt. Das wollte ich im Film haben.

Was ist das Schlimmste daran, im Exil zu leben? Die Ungewissheit, die Einsamkeit oder die Entwurzelung?

Sahebi: Ich will es nicht bewerten. Es gibt für mich keine positiven oder negativen Erfahrungen, sondern nur Erfahrungen. Im Leben gibt es schwierige Situationen, durch die muss man durch. Für mich waren meine Protagonisten Protagonistinnen keine Flüchtlinge, sondern Menschen in schwierigen Situationen. Das ist uns allen gemein, dass wir in solchen Lebenslagen spezielle Strategien wählen, um zu überleben. Das ist etwas Menschliches.

«Das grösste Problem ist unser Mangel an Empathie»

Was würden Sie sich wünschen in Bezug auf die Schweizer Flüchtlingspolitik?

Sahebi: Ich wünsche mir vor allem gesellschaftliche Veränderungen. Wenn es in den Herzen der Menschen keine Empathie gibt, kann die Politik auch nichts ausrichten. Im Film zeige ich, wie Sanam Hosseini an einer politischen Veranstaltung teilnimmt. Von dem Politikerinnen und Politikern ist niemand zu ihr gegangen und hatte einen tröstenden Blick, ein Lächeln oder ein Wort für sie. Im Film sagt jemand: Solange du selbst nicht gelitten hast, weisst du nicht, wie der andere leidet.

Sanam Hosseini sorgt sich um ihren kleinen Jungen.
Sanam Hosseini sorgt sich um ihren kleinen Jungen.

Das grösste Problem, auch im Alltag, ist unser Mangel an Empathie. Das war schon immer ein menschliches Problem. Karl Marx hat gesagt, dass Empathie zu den Sinneswahrnehmungen des Menschen gehört. Wie Tasten oder Riechen. Es bewegt etwas in uns, ich glaube fest an diese Menschlichkeit. Man muss sie aber erwecken. Die Kunst ist eines der wichtigsten Mittel. Damit kann man die Menschen auf etwas aufmerksam machen und Sympathie bewirken.

Der Film ist von kirchlicher Seite unterstützt worden. Wie kam die Unterstützung durch Interfilm Schweiz zustande?

Sahebi: Durch Hans Hodel, den früheren Interfilm-Präsidenten. Seit ich 2012 Mitglied in der Interreligiösen Jury am Filmfestival in Nyon war, sind wir in Kontakt geblieben. Eine christliche Stiftung in Bern hat uns ebenfalls einen finanziellen Beitrag zugesprochen. An die Auflage geknüpft, dass wir den Film nach der Kinoauswertung in den Gottesdiensten verschiedener Pfarreien einbauen. Das finde ich eine grossartige Idee. Die Kirchen sind Räume, die man benutzen sollte.

«Im Namen der Menschlichkeit sollen sie ein Bleiberecht aussprechen.»

Haben Sie mit Ihren Protagonistinnen und Protagonisten noch Kontakt?

Sahebi: Ja, mit allen. Mahmad hat immer noch keinen Asylentscheid. Er ist im Flüchtlingslager Kempthal mit zehn Personen in einem Zimmer und ist in einer miserablen Verfassung. Ich habe mehrere Briefe an das Staatssekretariat für Migration (SEM) geschrieben, zusammen mit diversen Aufnahmen, die ich im Film nicht verwendet habe. Sie beschreiben seinen Zustand, seine Selbstmordgedanken, viele seiner schrecklichen Erinnerungen.

Den iranischen Kriegsveteran Mahmad lassen seine traumatischen Erlebnisse nicht los.
Den iranischen Kriegsveteran Mahmad lassen seine traumatischen Erlebnisse nicht los.

Ich habe das SEM angefleht, im Namen der Menschlichkeit ein Bleiberecht für Mahmad auszusprechen. Er ist 2019 kurzzeitig in den Iran zurückgekehrt und wurde dort festgenommen, geschlagen und gefoltert. Ich hoffe, dass sich der Kinostart oder auch die Nominierung für den Schweizer Filmpreis positiv auf eine Entscheidung diesbezüglich auswirken.

Wie hat sich die Situation der anderen über die Jahre verändert?

Sahebi: Auch mit den anderen stehe ich in engem Kontakt und nehme immer noch stark Anteil an ihrem Schicksal. Die Familie Hosseini sind die Gewinner. Der Familiennachzug hat funktioniert, als der Film noch gedreht wurde. Natürlich haben auch sie ihre Traumata. Aber ich glaube an die Stärke dieser Kinder. Ich bin optimistisch, dass sie aus ihrem Leben etwas machen.

«Die Frauen gewinnen den Kampf im Iran.»

Im Iran dauern die Proteste der Frauen an. Auch die Exekutionen nehmen zu. Aus den Medien ist der Konflikt fast vollständig verschwunden. Denken Sie, dass sich in Ihrer alten Heimat etwas Grundlegendes verändern wird?

Sahebi: Das ist schon passiert. Diese Regierung hat keine Anhänger mehr. Menschen hinzurichten, Frauen zu steinigen – das passt nicht zum modernen Iran. In meinen Augen war der Iran immer ein progressives Land, leider befindet es sich in den Krallen religiöser Fanatiker. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis dieser Übergang stattfinden wird. Für mich ist ganz klar, dass die Menschen den Marathonlauf gegen die Regierung gewinnen werden. Die Frauen gewinnen diesen Kampf.

Solidarität mit der ermordeten Iranerin Mahsa Amini: Eine Frau schneidet in Bern ein Haarbüschel ab.
Solidarität mit der ermordeten Iranerin Mahsa Amini: Eine Frau schneidet in Bern ein Haarbüschel ab.

Ihr Optimismus ist auch in ihrem Film immer wieder erkennbar…

Sahebi: Ja. Trotz all der Schwere gibt es in «Prisoners of Fate» durchaus auch witzige Momente. Die jungen Männer zeigen eine Lebenslust und relativieren Situationen mit ihrem Humor. Solange sie diese Fähigkeit haben, gibt es auch Hoffnung. Das habe ich versucht, in den Film einzubauen. Es gibt nicht nur Düsternis – das Leben ist trotzdem schön.

*Mehdi Sahebi ist ein iranisch-schweizerischer Filmemacher. Er hat an der Universität Zürich Ethnologie, Geschichte und Völkerrecht studiert und lebt mit seiner Familie in Zürich. «Prisoners of Fate» feierte im letzten Sommer am Filmfestival Locarno Premiere. Der Film ist ab dem 14. März im Kino zu sehen. Katholische Kirchgemeinden, die den Film in ihren Kirchen zeigen wollen, können sich über das Kontaktformular melden.

Anzeige ↓ Anzeige ↑

Regisseur Mehdi Sahebi in Zürich. | © Sarah Stutte
14. März 2024 | 12:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!