Marianne Winiger pflegt das Wegkreuz seit 47 Jahren.
Schweiz

Marianne Winiger bleibt ihrem Wegkreuz treu

Einst stand das Wegkreuz am Rande von Rapperswil-Jona allein auf weiter Flur. Daneben weideten die Kühe der Familie Winiger, der das Kreuz gehört. Der Grund, auf dem es steht, ist unterdessen im Eigentum der Gemeinde. Einfamilienhäuser wurden gebaut. Doch Marianne Winiger (69) hat nicht aufgehört, das Kreuz zu pflegen. – Dies ist ein Beitrag zur Serie «Glaube volksnah».

Barbara Ludwig

Marianne Winiger kniet vor dem hölzernen Wegkreuz im Joner Quartier Langrüti, das von zwei Thujas flankiert wird. Ein Dach über dem Kreuz schützt den Korpus, den Leib des gekreuzigten Jesus, vor Regen und Schnee. Es ist Herbst geworden. Marianne Winiger hat soeben das Immergrün und die Mittagsblume, ein winterhartes Gewächs mit violetten Blüten, zurückgeschnitten und das Unkraut ausgerissen. In einer Plastikkiste stehen die Herbst- und Winterpflanzen, die sie an diesem Vormittag zu Füssen des Kreuzes setzen wird: Heidekraut, Stiefmütterchen und weisse Müllerblümchen.

«Weil der Hof von der Seuche verschont blieb.»

Die 69-Jährige arbeitet schnell und routiniert. Kein Wunder, Marianne Winiger war jahrzehntelang die Bäuerin des in der Nähe gelegenen Langrütihofes, pflegte Obst- und Gemüsekulturen und baut heute noch Gemüse für den Eigenbedarf an. Die Bepflanzung beim Wegkreuz erneuert sie drei Mal jährlich, im Frühling, Sommer und Herbst, mit Gewächsen, die zur Jahreszeit passen. Seit 47 Jahren. Zuvor pflegte ihre Schwiegermutter das Wegkreuz und vor ihr deren Schwiegermutter – eine hundertjährige Familientradition.

«Meine Schwiegermutter machte das aus Dankbarkeit, weil der Langrütihof einst von der Seuche verschont blieb», erzählt Marianne Winiger. Wäre diese ausgebrochen, hätten ihre Schwiegereltern den gesamten Viehbestand – Kühe, Rinder und Kälber – weggeben müssen.

Marianne Winiger holt die neuen Pflanzen und ihr Werkzeug aus dem Auto.
Marianne Winiger holt die neuen Pflanzen und ihr Werkzeug aus dem Auto.

Winigers mussten alle Tiere töten lassen

Eine Generation später, in den 1980er Jahren, traf das Unglück dann trotzdem ein. In Form der Buchstabenkrankheit, eine durch Virus verursachte Infektionskrankheit. Alle Kühe von Marianne und Alfred Winiger, 20 an der Zahl, mussten weggegeben und getötet werden.

«Das war ein einschneidendes Ereignis für uns.» Aber kein Grund, mit der Familientradition zu brechen. «Ich führte die Tradition fort. Auch weil ich wusste, wie viel es meiner Schwiegermutter und meinem Schwiegervater bedeutet hatte», sagt Marianne Winiger.

Für die gläubige Katholikin ist das Wegkreuz ein «Energieort», bei dem sie Kraft schöpfen kann. Dann und wann verweile sie vor dem Kreuz und denke an Angehörige oder Menschen, denen es schlecht geht.

Vandalismus und Hundekot

Marianne Winiger gibt offenbar nicht so schnell auf, wenn ihr etwas wichtig ist. Das Wegkreuz unweit der Joner Allmeind, einem Naturschutzgebiet mit Riedland, gehört dazu. Vor etwa 40 Jahren fand die Familie Winiger, es sei Zeit für ein neues Kreuz, und gab bei einem Schreiner eines in Auftrag. Dann ging lange Zeit alles gut, doch nach ungefähr 20 Jahren gab es unschöne Ereignisse.

«Es ist auch ein Kampf. Ich mache weiter.»

Die zweimalige Zerstörung des Korpus durch Unbekannte und der ständige Ärger mit Hunden – «die haben sogar auf die Pflanzen geschissen» – hätten es der Bauersfrau fast verleidet. Aber sie habe sich gesagt: «Das Leben ist nicht einfach nur da um zu geniessen. Es ist auch ein Kampf. Ich mache weiter.»

Nach Heidekraut, weissen Müllerblümchen setzt Marianne Winiger die Stiefmütterchen.
Nach Heidekraut, weissen Müllerblümchen setzt Marianne Winiger die Stiefmütterchen.

Winigers schützten die Bepflanzung vor dem Kreuz mit einem kleinen Zaun aus grünem Drahtzeug, der die Hunde fernhalten soll. Zwei Mal schafften sie einen neuen Korpus an. Das erste Mal war ihnen das 800 Franken wert; ein Bildhauer aus der Gegend hatte angeboten, für diesen Preis einen neuen Korpus zu machen. Beim zweiten Mal – der Korpus aus der Bildhauerwerkstatt war in unzählige Teilchen zertrümmert worden und konnte nicht mehr repariert werden –  fand Marianne Winiger im Internet Ersatz.

Häuser rücken dem Kreuz zu Leibe

Langrüti liegt am östlichen Siedlungsrand der St. Galler Gemeinde Rapperswil-Jona, an der Grenze zu einer noch ländlich geprägten Welt. Einst stand das Kreuz allein auf weiter Flur. Heute rücken die Häuser immer näher. Mindestens drei Baukräne sind an diesem Tag an der Arbeit. Wo noch vor wenigen Jahren die Kühe von Winigers weideten, sind Einfamilienhäuser gebaut worden. Eine weitere Wiese, die ebenfalls der Familie Winiger gehörte, wird zurzeit mit Mehrfamilienhäusern überbaut. Das Quartier Langrüti ist im Wandel.

Auch das Land, auf dem das Wegkreuz steht, gehörte früher Marianne und Alfred Winiger. Heute ist die schmale Parzelle im Eigentum der Gemeinde, die sich aber nicht um das Kreuz kümmert. Ja, der ländliche Charakter des Ortes gehe verloren, bestätigt Marianne Winiger. «Umso mehr ist es mir ein Anliegen, dass das Kreuz hier bleibt, solange niemand sagt, es müsse weg.» Die Gemeinde störe es offenbar nicht.

«Die Söhne haben kein Interesse.»

Die Umgebung wandelt sich, und vielleicht auch die Menschen. Wer wird das Kreuz pflegen, wenn Marianne Winiger das einmal nicht mehr kann? Klar ist zum vornherein, dass von den vier erwachsenen Kindern nur die Tochter in Frage käme. «Die Söhne haben kein Interesse», sagt die ehemalige Bäuerin. Kreuzpflege scheint Frauensache.

Früher Kuhweide, heute Einfamilienhäuser
Früher Kuhweide, heute Einfamilienhäuser

Die Tochter, Mitte dreissig, wohnt in einem der Mehrfamilienhäuser neben dem bald vollständig von Gebäuden umzingelten Langrütihof. Marianne Winiger hat das Thema bereits angesprochen, noch sei aber offen, ob die Tochter diese Aufgabe übernehmen werde. Die Chancen scheinen nicht schlecht. «Meine Tochter sagt oft: ‹Weil du es so gemacht hast, will auch ich das so machen.›» Auf ihrem Balkon habe sie zum Beispiel einige Kartoffeln gesetzt und sich über den Ertrag gefreut.

«Ich könnte mit einem Kreuz ohne Bepflanzung leben»

Sollte die Tochter nicht bereit sein, das Kreuz zu pflegen, würde man es dort belassen, aber auf die Bepflanzung verzichten. Marianne Winiger: «Ich könnte damit leben.»

Dieses mögliche Szenario liegt noch in weiter Ferne. Marianne Winiger hat das Heidekraut, die Stiefmütterchen und die Müllerblümchen gesetzt, frische Erde hinzugeschüttet und die Pflanzen mit Wasser aus PET-Flaschen gegossen. Das Wegkreuz ist bereit für die kalte Jahreszeit.

Marianne Winiger pflegt das Wegkreuz seit 47 Jahren. | © Barbara Ludwig
29. Oktober 2019 | 14:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

weitere Artikel der Serie «Glaube volksnah»