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Theologie konkret

Männliche Mutter: Wenn Frauen als Männer ins Reich Gottes eingehen

Die frühe Kirche kannte viele Märtyrerinnen. Da Frauen in der Antike als schwach galten, der Mut und die Tapferkeit der Märtyrerinnen aber manchen starken Mann übertraf, half ein erstaunliches Gedankenkonstrukt: Vor ihrem Tod wurde aus der angehenden Märtyrerin ein Mann.

Judith Rosen*

Ende des Jahres 249 promulgierte der römische Kaiser Decius ein reichsweites Opferedikt. Strittig ist, ob er die monotheistischen Christen direkt treffen wollte. Denn seine religionspolitischen Massnahmen sind eher im Zusammenhang mit einer allgemeinen restaurativen Politik zu sehen, um die Gunst der Götter zu bewahren und so das Heil des Römischen Reiches zu sichern.

Ziel der lokalen Behörden, die das Opfergebot umsetzen mussten, war daher nicht die Ausrottung der christlichen Religion. Opferten die Christusgläubigen den Göttern und dem Kaiser, konnten sie in ihr bisheriges Leben zurückkehren. Wer sich dem Willen des Kaisers gebeugt hatte, erhielt eine Opferbescheinigung («libellus»). Findige Christen, die genügend Geld hatten, verfielen auf einen Trick: Sie bestachen Magistrate oder schickten einen Ersatzmann, um sich eine Bescheinigung zu erschleichen.

Über die sogenannten «lapsi» entbrach nach dem Ende der Christenverfolgung (251), die sich an den standhaften Gläubigen entzündet hatte, eine heftige innerkirchliche Kontroverse. Denn nicht wenige Abgefallene zog es wieder in den Schoss von Mutter Kirche.

Weibliche Geschlecht überwunden

Mit Bewunderung und Stolz blickte die frühe Kirche auf die Gläubigen, die für Jesus Christus in den Tod gegangen waren, unter ihnen auch etliche Frauen. Über sie bemerkt Bischof Cyprian von Karthago in seiner Schrift «Über die Gefallenen»: «Mit den im Triumphzug einziehenden Männern kommen auch Frauen, welche die Welt und zugleich auch ihr eigenes Geschlecht überwunden haben. Es kommen auch, mit doppeltem Kriegsruhm ausgezeichnet, Jungfrauen und Knaben, ihrem Alter weit an Kräften voraus.»

Antikisierendes Bild des heiligen Bischofs Cyprian von Karthago im Bischofshaus von Tunis am 21. April 2017.
Antikisierendes Bild des heiligen Bischofs Cyprian von Karthago im Bischofshaus von Tunis am 21. April 2017.

Heutige Leser und Leserinnen mögen den Zusatz «welche die Welt und zugleich auch ihr eigenes Geschlecht überwunden haben» als diskriminierend empfinden. Aus Cyprian sprach jedoch schiere Bewunderung, galten doch Frauen in der gesamten Antike traditionell als schwach und leichtsinnig.

Eintritt ins Reich Gottes nur für Männer

Da man sich den Mut und die Tapferkeit der Märtyrerinnen, die manchen starken Mann übertrafen, nicht erklären konnte, half ein erstaunliches Gedankenkonstrukt weiter: Vor ihrem Tod wurde aus der angehenden Märtyrerin ein Mann.

Diese Sicht bestätigt das koptische Thomasevangelium: «Frauen gehen als Männer in das Reich Gottes ein.» Später wird der Kirchenvater Augustinus diejenigen stützen, die von der Auferstehung beider Geschlechter ausgehen. Im Jenseits falle die Begierde weg, weswegen die schöne Frauenfigur nicht mehr unter diesem Aspekt angesehen werde («Der Gottesstaat» 22,17).

Müttermärtyrerinnen

Theologische Spitzfindigkeiten waren nicht das Thema der Märtyrerinnen. Ihr Antrieb war die Liebe zu Jesus Christus. Sie war so stark, dass selbst natürliche Bindungen zurücktraten. Dafür steht Agathonike aus Pergamon. Um 160 war sie Augenzeugin bei der Hinrichtung des Karpus. Die Martyriumsakte berichtet: «Sie erblickte die Herrlichkeit des Herrn, die auch Karpus gesehen hatte, wie er beteuerte.»

Das göttliche Zeichen empfand Agathonike als Aufruf, sich freiwillig dem Martyrium zu stellen. Die paganen Zuschauer reagierten entsetzt und erinnerten sie an ihren Sohn. Doch Agathonike war wie andere Müttermärtyrerinnen überzeugt: «Er hat Gott, der sich seiner annehmen kann, den, der für alles sorgt.»

Frauen trauern um den gekreuzigten Jesus: Ausschnitt aus einem Fresko in der Kirche Santo Stefano in Miglieglia TI
Frauen trauern um den gekreuzigten Jesus: Ausschnitt aus einem Fresko in der Kirche Santo Stefano in Miglieglia TI

Wer nun die berechtigte Frage stellt, wie Gott ein solches Opfer verlangen kann, vergisst, dass es Agathonike war, die wie Isaak der Auffassung war, man müsse die Gottesliebe höher als die Elternliebe werten. Trotzdem war sie keine «Rabenmutter», weil sie felsenfest glaubte, Gott nehme ihren Sohn gleichsam als Mutter und Vater an und werde ihn behüten. Ohne diesen Glauben hätte sie sich nicht für das Martyrium entschieden.

Das psychologisierende 20./21. Jahrhundert würde wohl von einem klassischen Selbstbetrug sprechen. So weit ging die frühe Kirche nicht. Ihre Kritik betraf Agathonikes Martyriumssehnsucht, die sie in die Tat umsetzte.

Fall für Genderdebatte

Diese Kritik kümmerte Agathonikes Mitbrüder und Mitschwestern wenig. Heimlich bargen sie den Leichnam, bestatteten ihn und pflegten die Erinnerung an «ihre» Heilige. Nach theologischer Lesart wäre sie als männliche Mutter oder mütterlicher Mann gestorben. Das ist ein Fall für die Genderdebatte.

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Und die Vielgötterverehrer? Sie waren hin- und hergerissen. Zwischen Bewunderung und Abscheu. Kaltgelassen hat Agathonikes Schicksal wohl kaum jemanden. Und das Christentum war im Gespräch, eine gute Voraussetzung für die Ausbreitung des Osterglaubens.

*Judith Rosen ist Historikerin und war Dozentin für Alte Geschichte an der Universität Bonn.


Himmel | © kath.ch
14. April 2024 | 06:00
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