Bildschirmfoto Online-Interview mit Michael Omonua und C.J. Obasi.
Religion anders

Kurzfilmtage Winterthur: «Alle Religionen sind miteinander verbunden»

Am 7. November starten die Kurzfilmtage Winterthur. Im Programm steht diesmal ein nigerianischer Schwerpunkt, der sich den spirituellen Mythen des Landes verschrieben hat. Daran mitgewirkt haben die beiden Regisseure C.J. Obasi und Michael Omonua.

Sarah Stutte

Ein Programm aus der Nigeria-Filmreihe der Kurzfilmtage trägt den Titel «Spiritual Connections and the Power of the Mystical». Inwiefern beeinflussen spirituelle Kräfte das alltägliche Leben in Nigeria und den nigerianischen Film von heute?

C.J. Obasi*: Ich würde sagen, dass sie die nigerianische Filmindustrie schon immer beeinflusst haben. Tatsächlich begann Nollywood Mitte der 90er-Jahre mit übernatürlichen Filmen. Dann wurden die Filme ein wenig actionlastiger und komödiantischer und der ursprüngliche Aspekt des Mystischen wurde aus den Augen verloren.

«Das Übernatürliche ist Teil unserer DNA.»

In unserer Gesellschaft sind wir uns des Übernatürlichen stets bewusst. Weil wir alle damit aufgewachsen sind und der Aberglaube, die Religion und die Traditionen weiterhin sehr lebendig sind. Das ist ein wesentlicher Teil unserer DNA.

Michael Omonua**: Wir sind in Nigeria mit vielen Volksmärchen aufgewachsen. Grundsätzlich sind viele Nigerianerinnen und Nigerianer sehr traditionell religiös und eng mit ihren Wurzeln verbunden. Hier kommen sie her und ihre Spiritualität ist deshalb selbstverständlich ein Teil von ihnen.

Screenshot aus dem Film «Rehearsal» von Michael Omonua (Nigeria 2021).
Screenshot aus dem Film «Rehearsal» von Michael Omonua (Nigeria 2021).

Geld und Macht verführen auch Geistliche

Michael, Ihr Film «Rehearsal», der in der Reihe läuft, zeigt die Inszenierung des Glaubens. Normales Öl wird als Heiliges verkauft, die Wunderheilung geübt. Wird die Religion oft instrumentalisiert?

Omonua: Insbesondere in Nigerias Pfingstkirchen sind Pastoren angesehene Persönlichkeiten, die in der Gesellschaft respektiert werden. Es ist die perfekte Tarnung für jemanden, der keine guten Absichten hat und es gibt – wie überall – auch in der Kirche Einzelpersonen, die diese Stellung ausnutzen.

Screenshot aus dem Film «Rehearsal» von Michael Omonua (Nigeria 2021).
Screenshot aus dem Film «Rehearsal» von Michael Omonua (Nigeria 2021).

Zudem geht es in der Pfingstkirche um eine Menge Geld und die Massen können viel leichter ausgebeutet werden. Das hängt auch mit der Kultur gewisser politischer Kreise in Nigeria zusammen. Es gibt also definitiv Korruption in der Kirche, die ich im Film verdeutlichen wollte.

Sie zeigen in Ihrem Film auch Gewalt im Namen der Religion, vor allem gegen Frauen. Bei uns in der Schweiz ist die Missbrauchsthematik gerade ein grosses Thema. Wie ist das in Nigeria?

Omonua: Finanzieller, spiritueller und sexueller Missbrauch sind hier ebenfalls ein Thema. In Nigeria gab es vor einigen Jahren einen grossen Fall – einem Pastor wurde vorgeworfen, eine Frau vergewaltigt zu haben. Sie ist bei uns ebenfalls sehr bekannt und erklärte öffentlich, dass dieser Pastor sie als Teenagerin missbrauchte. Auf diesen Fall habe ich mich bezogen.

Die magische Kraft des Juju

Viele Mythen und Volksmärchen in Nigeria drehen sich um die magische Kraft des Juju. Was ist darunter genau zu verstehen?

Obasi: Das ist schwierig zu definieren, weil das Wort von jahrhundertealten Überzeugungen, Philosophien und Traditionen herrührt. Im Englischen gibt es keine adäquate Übersetzung dafür, denn Mystik oder Magie als Synonym zu verwenden, ist völlig unzureichend.

Das Juju-Haus (The Ju-ju house), Illustration nach Mr Harries F.R.G.S.,erschienen in Illustrated London News vom 29.11.1873.
Das Juju-Haus (The Ju-ju house), Illustration nach Mr Harries F.R.G.S.,erschienen in Illustrated London News vom 29.11.1873.

Das Juju ist sowohl magisch als auch mystisch, aber es umschliesst darüber hinaus Praktiken, Regeln und Gesetze, die diese Welt und angeblich auch die übernatürliche Welt regieren. Daher wurde das Wort lange Zeit verteufelt. Im Film können wir zeigen, dass das Juju gut oder schlecht sein kann und dem Ganzen eine differenzierte Sichtweise geben.

Den dreiteiligen Film «Juju Stories» haben Sie beide zusammen mit Regisseur Abba Makama gemacht. Was war dort der Ansatz, um die uralten Glaubenssysteme und den Aberglauben neu zu interpretieren?

Omonua: Wir wollten bekannte, übernatürliche Volksgeschichten erzählen. Diese werden seit den 90er-Jahren immer wieder mündlich weitergegeben und wir wollten sie neu interpretieren.

«Wir wollten die übernatürlichen Geschichten aus dem Volk so erzählen, dass sie für alle verständlich sind.»

Respektive so, wie sie in den Anfängen von Nollywood erzählt worden wären und gleichermassen für nigerianische Zuschauerinnen und Zuschauer als auch für internationale verständlich sind.

Denn viele Nollywood-Filme der 90er-Jahre wurden für ein einheimisches Publikum gedreht und Nicht-Afrikaner können sich, aufgrund der Art und Weise, wie diese Storys erzählt wurden, nur schwer auf diese Geschichten einlassen.

Die Dorfbewohnenden.
Die Dorfbewohnenden.

Starke Frauen als Inspiration

C. J., Ihr Spielfilm «Mami Wata» war kürzlich bei uns im Kino zu sehen. Dort gerät der Glaube an die im afrikanischen Raum bekannte Wassergöttin ins Wanken. Was war Ihnen hier wichtig aufzuzeigen – die weibliche Kraft oder die Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne?

Obasi: Beides ist miteinander verbunden und irgendwie unzertrennlich. Man kann keine weibliche Macht zeigen, ohne die bestehende Dichotomie aufzuzeigen. Warum und wie kam es zu dieser mächtigen Position? Die Gedanken, die ich mir mache, wenn ich auf die Welt blicke, spiegeln sich in meinem Film wieder. Er ist zugleich sehr afrikanisch und dann auch wieder sehr universell. Alles, was mir am Herzen liegt, worin ich meine Wurzeln begründet sehe, koexistiert hier mit der Gegenwart. Ich möchte ein Filmemacher sein, der zu den Dingen eine Meinung hat.

Mama Efe (Rita Edochie) ist Mittlerin zwischen der Meerjungfrauengottheit «Mami Wata» und den Menschen.
Mama Efe (Rita Edochie) ist Mittlerin zwischen der Meerjungfrauengottheit «Mami Wata» und den Menschen.

Und ich möchte auch die Art von Filmemacher sein, der auch später noch zu den Gefühlen und Gedanken in meinen Filmen steht. Ich habe grossen Respekt vor den Frauen, die mich grossgezogen haben. Natürlich für meine Mutter, aber auch für meine Grossmutter, die mir Geschichten über Mami Wata erzählt hat, bis hin zu meinen älteren Schwestern.

«Mit meinem Film ‹Mami Wata› danke ich den wichtigen Frauen aus meiner Familie.»

Ich habe einen Weg gesucht, ihnen zu danken. Das war also ein sehr persönlicher Gedanke, der mich zu diesem Film geführt hat, mehr als ein politischer Ausdruck. Es ging mehr darum, mich selbst und meine Stimme in der Welt zu finden.

Afro-Katholizismus als koloniales Erbe?!

Im Zuge der Kolonialisierung vermischten sich früh afrikanische Glaubensbilder und Rituale mit dem Katholizismus. Man spricht dabei vom sogenannten Afro-Katholizismus. Aber ist das nicht eigentlich ein Widerspruch, weil die christliche Lehrmeinung die spirituellen Weltbilder der verschiedenen afrikanischen Volksgruppen ablehnte?

Obasi: In Bezug auf den Kapitalismus oder sogar die Religion des Christentums, ist es eine Ablehnung auf ganzer Linie, nicht nur in Nigeria. Das hat mit Tradition zu tun, insbesondere mit der traditionellen afrikanischen Spiritualität. Nicht nur das Christentum, auch der Islam lehnt alles, was mit afrikanischer Tradition zu tun hat, völlig ab. Als Filmemacher versuche ich weder die afrikanische Tradition noch das Christentum oder den Islam zu dämonisieren. Stattdessen versuche ich, Gemeisamkeiten hervorzuheben und das Gleichgewicht zu leben, das in allen, seit tausenden von Jahren existierenden, Religionen irgendwie verloren gegangen ist.

«Vielleicht sind wir heute religiöser, aber wir finden kein inneres Gleichgewicht.»

Die Erinnerung an unsere Vorfahren ist wichtig. Sie lebten in einer Familie. Sie konnten Harmonie in der Natur und in ihren Traditionen finden. Heute können sie das nicht mehr, obwohl sie vielleicht sogar noch religiöser sind als damals. Warum herrscht jetzt in ihren Herzen und in ihrer Seele kein Gleichgewicht? Das ist meiner Meinung nach eine interessantere Frage, die ich mit «Mami Wata» untersuchen wollte. Ich hoffe, dass ich am Ende des Films eine Art Meinung dazu abgegeben habe.

Die lebensspendende Kraft des Wassers entspricht der Kraft der Frau.
Die lebensspendende Kraft des Wassers entspricht der Kraft der Frau.

Wie ist das heute? Gibt es diese Vermischung nach wie vor? Auf Kuba ist beispielsweise die Santería – die Vermischung von eigenen Göttern und katholischen Heiligen – eine der Hauptreligionen. Wie ist das in Nigeria?

Obasi: Wir praktizieren in Nigeria kein Santería. Doch auch bei uns gibt es solche Vermischungen. Ich glaube, der Kern des Lebens ist es, Frieden und Ausgeglichenheit zu finden.

«Was ist der Mittelweg unserer afrikanischen Existenz?»

Auch wir müssen uns fragen: Was bedeutet es überhaupt 2023 Afrikaner zu sein? Heisst das, wir müssen alles Westliche ablehnen und zu unseren alten Gewohnheiten zurückkehren? Oder müssen wir unsere Traditionen begraben, um die westliche Mentalität anzunehmen? Was ist der Mittelweg unserer Existenz? Diese Fragen stelle ich mir.

Anscheinend soll es auch Ähnlichkeiten zwischen katholischen Marienbildnissen und bestimmten afrikanischen Gottheiten wie eben Mami Wata geben. Das verbindende Element ist das Wasser.

Obasi: Die Verbindung zwischen afrikanischen Gottheiten und dem Christentum war schon immer da. Auch schon davor beeinflussten alle Kulturen sich gegenseitig – die Römer, die Griechen, die Mesopotamier, die Babylonier – natürlich auch religiös. Von Ägypten, bis zum Sudan und hinunter nach Westafrika lassen sich diese Spuren verfolgen. Es ist alles miteinander verbunden. Ich bin daran interessiert, diese Verbindungen zu finden.

Film still Facebookseite Notre Dame de Yagma, 17.8.2019
Film still Facebookseite Notre Dame de Yagma, 17.8.2019

Sie lassen sich auch in «Mami Wata» erkennen. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten oder dritten. Es gibt eine Szene, in der die Figur Priska jemanden in den Armen hält. Und diese Aufnahme wurde absichtlich gerahmt, um ein Bild der Jungfrau Maria zu vermitteln, die Jesus hält. Das ist es, was Kino für mich so spannend macht: die Fähigkeit, diese Bilder zu spiegeln und in einen anderen Kontext zu setzen.

*C.J. Obasi und **Michael Omonua sind nigerianische Regisseure, die schon zusammen als Filmkollektiv «Surreal 16» gearbeitet haben. Für die diesjährigen Winterthurer Kurzfilmtage haben sie gemeinsam das Programm «Love & War» kuriert und zeigen zusätzlich ihre Filme «Juju Stories», «Hello, Rain» und «Rehearsal» in weiteren Reihen des nigerianischen Schwerpunkts.


Bildschirmfoto Online-Interview mit Michael Omonua und C.J. Obasi. | © sas
4. November 2023 | 06:30
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Winterthurer Kurzfilmtage

Die Winterthurer Kurzfilmtage finden vom 7. November bis zum 12. November statt. Hier sind nähere Infos zum Programm. (sas)