Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Schweiz

Kirchenrechtler Thomas Schüller: «Amtierende und ehemalige Schweizer Bischöfe haben das Recht mit Füssen getreten»

Der deutsche Kirchenrechtler Thomas Schüller begrüsst die Absicht der Schweizer Bischöfe, ein nationales Strafgericht einzurichten. «Gut ausgebildete Kleriker sind auch im rechtlichen Bereich ein Segen», sagt er und übt Kritik an der jetzigen Generation von Bischöfen. Schüller geht davon aus, dass Rom der Errichtung des Strafgerichts zustimmt.

Barbara Ludwig

Die Schweizer Bischöfe wollen ein kirchliches Straf- und Disziplinargericht in der Schweiz einrichten. Hintergrund ist der Missbrauchsskandal, den die jüngst publizierte Pilotstudie dokumentiert. Was halten Sie von der Idee eines solchen Gerichts?

Thomas Schüller*: Die Idee ist nicht neu und im Nachbarland Frankreich seit Anfang Jahr auch schon Realität. Dahinter steckt die Überlegung, dass man gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz die vorhandene kirchenrechtliche Kompetenz in einem eigenständigen Gericht für die Behandlung von strafrechtlich relevanten Sachverhalten konzentriert.

Damit schafft man eine grössere Unabhängigkeit, als wenn jedes einzelne Bistum mit einer eigenen Strafgerichtsbarkeit operiert. Denn in den kleineren Diözesen kennt jeder jeden und so stünde sofort die Sorge der Befangenheit im Raume. Ich kann die Idee nur begrüssen. Ich begrüsse insbesondere auch, dass man nicht nur an ein Strafgericht denkt, sondern auch eine Disziplinargerichtsbarkeit etablieren will.

Warum finden Sie das wichtig?

Schüller: Es gibt viele Sachverhalte, die als Übergriffe zu werten sind, für deren Beurteilung es aber weder im staatlichen Sexualstrafrecht noch im kirchlichen Strafrecht eine Rechtsgrundlage gibt. Und doch sind es Übergriffe, die Seele und Körper von Menschen schwer verletzen. Zum Beispiel eine Nichtbeachtung des Nähe-Distanz-Verhältnisses oder eine verbale Entgleisung. Über solche Sachverhalte könnte ein Disziplinargericht urteilen.

«Die Schweizer Bischöfe könnten sich in der Nachbarschaft umschauen, da gibt es durchaus Vorbilder.»

Für welche Delikte wäre denn das Strafgericht zuständig?

Schüller: Für sämtliche Straftatbestände, die im kanonischen Strafrecht genannt werden. Seit 2001 sind jedoch bestimmte Straftatbestände dem Dikasterium für die Glaubenslehre vorbehalten: Das sind alle Sexualstraftaten von Klerikern, aber auch Delikte gegen die Sakramente. Bestimmte Straftatbestände sind also der bischöflichen Gerichtsbarkeit erstmal entzogen. Nun ist es aber so, dass das Dikasterium für die Glaubenslehre überhaupt keine personellen Kapazitäten besitzt, um diese Fälle selber zu entscheiden. Deshalb hat man sie bislang einem diözesanen Gericht überwiesen, meistens nicht demjenigen, auf dessen Gebiet die Taten stattgefunden haben, sondern dem Gericht eines benachbarten Bistums, um die Unabhängigkeit zu garantieren.

Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Universität Münster.
Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Universität Münster.

Wenn die Schweiz nun auf nationaler Ebene einen unabhängigen Strafgerichtshof bekäme, würde das Dikasterium für die Glaubenslehre diese Fälle künftig genau diesem neuen Strafgericht zuweisen. Alle übrigen strafrechtlichen, insbesondere auch die vermögensrechtlichen Tatbestände könnten hingegen einem solchen Gericht direkt zugeführt werden.

Wäre ein Disziplinargericht sowohl für Kleriker als auch für kirchliche Angestellte zuständig, die nicht geweiht sind?

Schüller: Das müssen die Schweizer Bischöfe entscheiden. Zentral wäre die Frage, welche Personen man unter die Disziplinargerichtsbarkeit stellt. Zunächst wäre an Kleriker zu denken, also Priester, Diakone und Bischöfe. Man kann aber auch an verbeamtete Personen denken. Ein Verhalten, das zwar nicht strafrechtlich relevant, aber dennoch übergriffig ist, würde man bei Personen im Angestelltenverhältnis eher mit den normalen arbeitsrechtlichen Instrumenten ahnden: Also mit einer Ermahnung, einer Abmahnung in einem schwerwiegenden Fall und dann möglicherweise mit einer Kündigung. Die Schweizer Bischöfe könnten sich in der Nachbarschaft umschauen, da gibt es durchaus Vorbilder. So hat im Erzbistum Freiburg Bischof Stephan Burger vor kurzem ein eigenes Disziplinarrecht entwickelt.

«Man kann den Schweizer Bischöfen nur wünschen, dass sie diese Frauen und Männer jetzt schon im Portfolio haben.»

Welches Profil sollten Richterinnen und Richter eines interdiözesanen Strafgerichts haben?

Schüller: Es müssen Männer und Frauen sein, die ein Lizentiat im kanonischen Recht haben, noch besser ein Doktorat. Nicht zwingend, aber hilfreich wäre zusätzlich ein Abschluss in staatlichem Recht. Es ist sinnvoll, sich im staatlichen Strafrecht des jeweiligen Landes auszukennen. Weiter sollten die Frauen und Männer eine gewisse Erfahrung mitbringen, da es um heikle Materien geht. Man kann den Schweizer Bischöfen nur wünschen, dass sie diese Frauen und Männer jetzt schon im Portfolio haben oder alles dafür tun, dass in Bälde entsprechend gut ausgebildeter Nachwuchs das Studium aufnehmen und abschliessen kann, um später als Richterinnen und Richter zu arbeiten.

Würden Sie Kleriker per se ausschliessen?

Schüller: Nein. Wichtig ist, dass es unabhängige Kleriker sind, die in keiner freundschaftlichen, beruflichen oder institutionellen Verbindung zu dem Beschuldigten stehen. Gut ausgebildete Kleriker sind auch im rechtlichen Bereich ein Segen. Gerade die Pilotstudie zum Missbrauch in der Schweiz zeigt ja, dass amtierende Bischöfe und auch ehemalige Bischöfe wie Kurt Koch Fehler gemacht haben. Umso mehr ist es sinnvoll und gut, wenn kirchenrechtlich ausgebildete Kleriker auch der jüngeren Generation mit den entsprechenden Abschlüssen bei einem interdiözesanen Gericht arbeiten. Ich mache da keinen Unterschied zwischen Laien und Klerikern.

Man muss also keine Angst haben, dass Richter, wenn sie zugleich Kleriker sind, beschuldigte Kleriker mit Samthandschuhen anfassen?

Schüller: Ein Kleriker ist als Richter ausschliesslich dem Recht verpflichtet. Er hat die Wahrheit zu ermitteln im Verfahren. Und er hat ohne Ansehen des Beschuldigten zu urteilen – ob das nun ein Kleriker, eine Ordensfrau oder ein Laie ist. An unserem Institut in Münster bilden wir regelmässig Kleriker aus und vermitteln diese Standards sehr genau. Nein, Kleriker unter einen Generalverdacht zu stellen, halte ich für ungerecht.

«Die jetzige Generation von Schweizer Bischöfen hat dafür gesorgt, dass ein tiefes Misstrauen in die Rechtstreue entstehen konnte.»

Auch angesichts der Vertuschung durch Bischöfe?

Schüller: Das ist eine ganz andere Generation von Bischöfen, die mit Ausnahme von Joseph Bonnemain keine kirchenrechtliche Ausbildung aufweisen. Sie haben das Kirchenrecht mit Füssen getreten. Und sorgen damit dafür, dass Ihre Frage verständlich ist, ob es heute Kleriker gibt, die sich tatsächlich rechtstreu und rechtskonform verhalten. Ja, die gibt es. Aber die jetzige Generation von Schweizer Bischöfen hat dafür gesorgt, dass ein tiefes Misstrauen in die Rechtstreue entstehen konnte, da das Kirchenrecht in den Schweizer Diözesen augenscheinlich keine bedeutende Rolle gespielt hat.

Schweizer Bischöfe bei Papst Franziskus.
Schweizer Bischöfe bei Papst Franziskus.

Als Laie hat man deshalb auch leicht den Eindruck bekommen, dass Vertuschung von sexuellen Übergriffen vom Kirchenrecht gar nicht verboten ist. Seit wann verbietet das Kirchenrecht Vertuschung? 

Schüller: Papst Franziskus hat 2021 bei der Überarbeitung des kanonischen Strafrechts einen eigenen neuen Straftatbestand der Vertuschung geschaffen. Das war überfällig.

Kann ein interdiözesanes Gericht dazu beitragen, die ramponierte Glaubwürdigkeit der Kirche wieder herzustellen?

Schüller: In dem künftigen Strafgericht werden hoffentlich nur Frauen und Männer eingesetzt, die um die Vorgeschichte der Institution wissen und ihre Urteile streng nach Recht und Gesetz fällen – und eben nicht wie die amtierenden Bischöfe das Recht beugen. Wenn die Bischöfe absolut unabhängige Richterinnen und Richter berufen, die sich einzig dem Recht verpflichtet fühlen, sehe ich eine Chance, auch wieder Vertrauen in der katholischen Bevölkerung herzustellen.

«Ich empfehle den Schweizer Bischöfen, das französische Modell zu übernehmen.»

Sie haben den neuen nationalen Gerichtshof in Frankreich erwähnt. Welche Erfahrungen hat man dort damit bislang gemacht?

Schüller: Im Moment ist es noch zu früh für eine erste Bilanz. Stellen Sie mir diese Frage nach ein paar Jahren wieder.

Wichtig ist jedoch zu wissen, dass die Deutsche Bischofskonferenz 2018 in Rom ebenfalls ein solches nationales Strafgericht beantragt hat. Der Antrag ist noch hängig. Rom lehnt zurzeit alles ab, was die deutschen Bischöfe vorlegen – aus kirchenpolitischen Gründen. Das ist ärgerlich, weil es sehr hilfreich wäre, wenn auch wir in Deutschland auf nationaler Ebene ein fachlich gut ausgebildetes kirchliches Strafgericht hätten.

Der Vatikan, konkret die Apostolische Signatur, muss der Errichtung eines interdiözesanen Gerichts in der Schweiz zustimmen. Bischof Bonnemain zeigte sich zuversichtlich, dass das klappen könnte. Wie sehen Sie die Chancen?

Schüller: Ich empfehle den Schweizer Bischöfen, das französische Modell zu übernehmen. Dann wird bei der Apostolischen Signatur, die die Gerichtsaufsicht ausübt, nichts passieren. Die französische Gerichtsordnung ist kirchenrechtlich korrekt. Es gäbe keinen sachlichen Grund für das oberste Gericht in Rom, die Genehmigung zu verweigern.

*Thomas Schüller (62) ist Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster und Direktor des Instituts für Kanonisches Recht. Zudem begleitet er seit vielen Jahren ehrenamtlich Opfer von sexualisierter Gewalt.


Thomas Schüller, Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. | © Andreas Oertzen/KNA
28. September 2023 | 09:00
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