Karin Iten
Schweiz

Karin Iten: «Drei Jahre im katholischen System waren genug»

Karin Iten hat den Verhaltenskodex durchgesetzt. Es war für sie ein harter – und oftmals energieraubender – Weg. Nach drei Jahren im Generalvikariat des Bistums Chur hat sie gekündigt. Ein Gespräch über das System Kirche, Chancenungleichheit und den Scheideweg, an dem die katholische Kirche steht.

Annalena Müller

Schmeissen Sie das Handtuch, Frau Iten?

Karin Iten*: Nein, so würde ich das nicht bezeichnen. Mit dem Verhaltenskodex ist jetzt ein solides Etappenziel erreicht, an dem die Staffel von der Prävention rund um den Verhaltenskodex auf die Leitungen übergeht. Es ist ein Erfolg, dass alle Körperschaften und Bistumsregionen dieses Instrument verbindlich eingeführt haben. Ich schmeisse also nicht das Handtuch, sondern ich spiele den Ball klar der Führung zu, die den Kodex jetzt umsetzen muss.

Das ist sehr diplomatisch – es gab doch sicher auch persönliche Gründe?

Iten: Natürlich. Persönliche Gründe spielen bei Stellenwechsel immer eine Rolle. Als Frau, als Feministin fiel es mir zunehmend schwer, im System Kirche zu arbeiten. Drei Jahre innerhalb des katholischen Systems waren für mich genug. Die Kirche bietet mir zu wenig Perspektiven. Und auch die Zukunftsfähigkeit der Kirche im Allgemeinen bereitet mir Sorgen.

«Es gibt kaum gute und kritisch denkende Leute, die für die wichtigen Ämter zur Verfügung stehen.»

Worin bestehen diese Sorgen?

Iten: Die Kirche hat ein eklatantes Personalproblem.

Sie meinen die Überalterung?

Iten: Ich habe noch nirgends so viele Leute getroffen, die kurz vor der Pensionierung stehen. Was kommt danach? Es gibt kaum gute und kritisch denkende Leute, die für die wichtigen Ämter zur Verfügung stehen. Vor allem für Führungspositionen von Dekan, Fachstellenleitungen bis zum Generalvikar und Bischof – ist die Personaldecke extrem dünn.

Überrascht Sie das?

Iten: Überhaupt nicht! Es ist ja nicht verwunderlich, bei den eingeschränkten Selektionskriterien wie Geschlecht und Weihe. Die Kirche schrumpft und verliert an Qualität und an Diversität. Das macht mir als Präventionsbeauftragte Sorgen. Für die Prävention braucht es auf allen Führungsebenen vor allem Professionalität und Kompetenz.   

Konservative Priester haben ihn bekämpft und müssen ihn nun nicht unterschreiben: Churer Verhaltenskodex
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Die Kirche als alternder Herrenclub…

Iten: … mit unverzichtbaren Frauen, die viel wertvolle Basis- und Freiwilligenarbeit leisten.

Ist die gläserne Decke in der Kirche für Frauen besonders niedrig?

Iten: Berufene Frauen werden hingehalten. Und sie werden kleingehalten. Gleichzeitg ist die Kirche für viele Frauen Heimat. Und daraus ergibt sich ein enormes Spannungsfeld, eine echte Zerreissprobe für diese Frauen. Besonders auch hier in der Schweiz.

«Da ist eine grosse Kälte und Empathielosigkeit.»

Wie meinen Sie das?

Iten: Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, in der das patriarchale Gefüge endlich ins Wanken gekommen ist. Und wenn man dann sieht, wie ignorant die Amtskirche in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit bleibt, dann hinterlässt das eine lähmende Ohnmacht.

Ausserhalb der Kirche haben Frauen bessere Chancen, gehört zu werden?

Iten: Die Kirche kultiviert Chancenungleichheit. Und sie lässt Frauen, auch gerade qualifizierte Frauen, alleine. Frauen müssen die Spannung zwischen den frauenfeindlichen Kirchenstrukturen und dem eigenen Wunsch, Kirche zu gestalten, mit sich selbst ausmachen. Da ist eine grosse Kälte und Empathielosigkeit.

Wie ist Ihr Eindruck nach drei Jahren Arbeit in der Kirche – wie gehen Frauen mit diesem Dilemma um?

Iten: Das ist sehr unterschiedlich. Einige gehen irgendwann, mehr oder minder still und heimatlos. Andere bleiben, weil sie zurecht Anspruch auf ihre spirituelle Heimat erheben. Sie wirken subversiv oder bleiben mit inneren Wertekonflikten und Not allein. Das raubt viel Energie. Zum Glück vernetzen sich diese Frauen zunehmend untereinander. Vernetzung ist eine wirksame Gegenstrategie.

«Der Verweis auf einen vermeintlichen ‹Zeitgeist› blendet die ethische Dimension völlig aus»

Die Forderung von Chancengleichheit wird von Traditionalisten als Zeitgeist abgetan – was sagen Sie dazu?

Iten: Das ist ein verkürzter und kalter Blick – es geht hier um zeitlose Fragen der Gerechtigkeit und Würde. Und der Verweis auf einen vermeintlichen «Zeitgeist» blendet die ethische Dimension völlig aus.

Machtgefälle sind charakteristisch für die Kirchenstruktur – Männer und Frauen, Laien und Kleriker. Kann man Machtmissbrauch überhaupt effektiv unterbinden, wenn die Ungleichheit systemisch ist?

Iten: Die Kirchenstruktur ist ein menschliches Konstrukt, das darf man nicht vergessen! Und weil sie ein menschliches Konstrukt ist, ist sie veränderbar. Aber trotzdem: Machtmissbrauch lässt sich nirgends ganz unterbinden. Man kann ihn aber überall erschweren.

Aber die Kirche ist schon ein besonders schwieriger Fall?

Iten: Ja, weil es ein äusserst hierarchisches System ist, das eigene Irrtümer und kritische Fragen ausblendet und Macht bewusst kumuliert. Wir haben in der Kirche nicht nur funktionale Macht, sondern dazu kommt spirituelle Überhöhung. Machtgefälle werden mit spirituellen Argumenten legitimiert und zementiert. Damit einher geht Bevormundung und Manipulation. Bevormundet werden aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer, die nicht geweiht sind. Bis heute fehlt vielerorts der echte Perspektivenwechsel.

«Die Kirche muss sich dieser unbequemen Auseinandersetzung stellen – unabhängig von mir als Person.»

Was meinen Sie mit Perspektivenwechsel?

Iten: Ich meine einen Perspektivenwechsel von Seiten der Kleriker, die innerhalb des Systems Kirche in einer privilegierten Position sind. Manche sind aufgrund von Loyalitäten zu einem Bischof oder anderen Mitgliedern ihres «Standes» gefangen. Oder aber sie haben durch ihre kirchliche Sozialisierung ein enggeführtes Mindset entwickelt und Ungerechtigkeiten und Selbstüberhöhung verinnerlicht. Die leitenden Kleriker sind ja alle in diesem System Kirche grossgeworden.

Das klingt für mich noch recht abstrakt. Können Sie ein Beispiel geben?

Iten: Ein Generalvikar hat kurz nach seinem Antritt öffentlich gesagt, dass er sich noch nie mit der Stellung der Frauen in der Kirche befasst habe. Da konnte ich als Frau nur staunen: Wie verschüttet der Gerechtigkeitssinn und wie scheuklappenhaft die Wahrnehmung vieler Kleriker ist. Aber es ist natürlich auch viel bequemer nichts zu hinterfragen, besonders aus der privilegierten klerikalen Warte.

Sie sind eine wichtige Stimme nicht nur im Bistum Chur, sondern in der gesamten Schweizer Kirche. Wenn Ihre Stimme wegfällt, dann steigt das Risiko, dass die Rückwärtsgewandten wieder Oberwasser bekommen. Teilen Sie diese Befürchtung?

Iten: Die systemkritische Stimme ist nicht an meine Person gebunden, sondern an die Funktion der Prävention. Die muss ehrlich und deshalb auch systemkritisch sein. Auch mein geschätzter Präventionskollege Stefan Loppacher findet sehr klare Worte. Aber wir müssen ganz klar sagen: Missbrauch in der katholischen Kirche ist systemisch begründet. Die Kirche muss sich dieser unbequemen Auseinandersetzung stellen – das ist unabhängig von mir als Person. Ebenfalls unabhängig von mir ist die grundsätzliche Frage, die sich die Führung stellen muss: Werden systemkritische Menschen in der Kirche genügend getragen und gepflegt? Oder möchte man, dass zum Schluss nur jene bleiben, die nichts verändern wollen?

*Karin Iten (52) ist Präventionsbeauftragte des Bistums Chur. Sie hat die sexualisierte Gewalt und den Machtmissbrauch in der katholischen Kirche als systemische Probleme benannt und bekämpft. Am 1. Juni 2023 hat sie ihren Rückzug als Präventionsbeauftragte bekannt gegeben. Ab August 2023 wird Iten ausserhalb der Kirche tätig sein.


Karin Iten | © Christian Merz
4. Juni 2023 | 10:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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