Titelseite des 114-seitigen Berichts, der am 12.09.2023 veröffentlicht wurde.
Schweiz

Missbrauchsvorstudie: Was steht drin?

Das Forschungsteam der Universität Zürich hat 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs aufgedeckt. Bis zur Jahrtausendwende wurde systematisch vertuscht und es wurden kaum Fälle nach Rom gemeldet. Auch danach bleiben Meldungen Ausnahmen. Nur der Druck von Betroffenenorganisationen und Medien zwingt die Kirche in der Schweiz, Missbrauch zu verfolgen.

Annalena Müller

Die gute Nachricht zuerst: Die Forschenden der Universität Zürich hatten vollen Zugang zu den diözesanen Archiven. Kein Bistum hat gemauert, alle haben ihre Archive geöffnet. Und die Archive zeigen: Von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart war klerikaler Missbrauch auch in der Schweiz endemisch. Diese Erkenntnis ist wenig überraschend, aber sie ist deswegen nicht weniger erschütternd.

Zahlen, die erschüttern

1002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Laut Historiker Lucas Federer dürften diese Zahlen «nur die Spitze des Eisbergs sein.» Denn die Arbeit des Teams hat erst begonnen. Die abschliessende Studie wird in drei Jahren vorliegen.

«Die Schweiz ist kein Sonderfall.»

Schon jetzt ist klar: Die Schweiz ist kein Sonderfall. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, auch was die Altersstruktur der Betroffenen angeht. 74 Prozent der identifizierten Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen – «von Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen».

74% betrafen Minderjährige: «von Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen».
74% betrafen Minderjährige: «von Säuglingen und vorpubertären Kindern bis hin zu postpubertären jungen Erwachsenen».

Die Zahlen werden noch steigen. Das Team hat erst angefangen, Akten der Diözesanarchive und Betroffenenorganisationen auszuwerten. Dokumente aus katholischen Fürsorgeinstitutionen wie Heimen und Schulen konnten noch nicht berücksichtigt werden. Auch Ordensgemeinschaften und Neue geistliche Gemeinschaften und Bewegungen haben ihre Archive bisher nur sehr begrenzt zugänglich gemacht.

Kultur des Wegschauens

Bereits die Vorstudie zeigt, was die Hauptstudie breiter untermauern dürfte. Während des Untersuchungszeitraums, der sich von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart erstreckt, herrschte eine Kultur des Wegschauens. Anhand von Fallbeispielen zeigen die Forschenden, dass Bistümer ihre Priester selbst dann schützten, wenn diese von weltlichen Gerichten verurteilt wurden.

Ein Priester und sein langer Schatten.
Ein Priester und sein langer Schatten.

Ein solches Beispiel ist K.M. Der Priester wurde 1989 von einem Bündner Gericht wegen einer «Vielzahl an Übergriffen auf Buben» verurteilt. Berufliche Folgen hatte das Urteil für ihn keine. K. M. durfte weiter mit Jugendlichen arbeiten. Ein kirchliches Verfahren wurde nie eröffnet, obwohl die interne Kommunikation des Bistums zeigt, dass man sich der Probleme und Risiken bewusst war.

Systematische Vertuschung

Im Untersuchungszeitraum wurden kirchenrechtliche Strafverfahren systematisch vermieden. Die dahinterstehende Geisteshaltung zeigt sich im Brief eines Basler Domherren. Dieser schrieb 1968 an einen Beschuldigten: «Der Fall müsste nach Kirchenrecht nach Rom berichtet werden. Wir tun das gewöhnlich nicht, damit die Priester nach Verbüssung der Strafe leichter wieder irgendwo verwendet werden können.»

«Ohne den Druck der Betroffenenorganisationen und der Medien hätte sich bis heute nichts geändert.»

Diese Haltung änderte sich auch in späteren Jahrzehnten nicht. Der St. Galler Bischof Otmar Mäder (1976-1994) nutzte in den 1980er Jahren die Androhung eines kirchenrechtlichen Prozesses als Disziplinierungsmassnahme. Das Forschungsteam fand aber keine Belege, dass auf die Drohung je Taten folgten.

Ignorieren des Kirchenrechts

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Kirchenrecht verpflichtet den Ortsbischof seit 1917 zur kirchenstrafrechtlichen Untersuchung und Ahndung eines jeden Missbrauchsfall. Wie ihre Amtskollegen weltweit, haben die Schweizer Bischöfe das Kirchenrecht also wissentlich ignoriert. Auch hier haben Bischöfe die Täter geschützt.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Heute wissen wir, dass das Ignorieren des Kirchenrechts unter Bischöfen weltweit endemisch war. Es führte zur Einführung der unbedingten Meldepflicht im Jahr 2001.

Betroffenenorganisationen und Medien

Allein, die Einführung der Meldepflicht änderte in der Schweiz wenig. Sie führte zwar in den Nullerjahren zur Gründung der diözesanen Fachgremien, an die sich Missbrauchsbetroffene wenden konnten. Doch das Forschungsteam zeigt, dass diese Gremien zahnlos blieben. Erst der seit 2010 stetig wachsende Druck der Öffentlichkeit führt zur vermehrten Anwendung des Kirchenstrafrechts.

Ihr Druck zwingt die Kirche zum Handeln: Jacques Nuoffer (SAPEC) und Vreni Peterer (IG-MikU)
Ihr Druck zwingt die Kirche zum Handeln: Jacques Nuoffer (SAPEC) und Vreni Peterer (IG-MikU)

Ohne den Druck der Betroffenenorganisationen SAPEC, CEECAR und IGMikU* und der Medien hätte sich am Agieren der Bistumsoberen bis heute nichts geändert. Ohne den Aussendruck, kein Wandel im Kircheninneren. Das ist eine Erkenntnis der Vorstudie.

Schweigende Gemeinden

Eine zweite Erkenntnis: Nicht nur Bischöfe, sondern auch Gemeinden schützten Täter. In einer Walliser Gemeinde sagten in den 1970er Jahren 27 Kinder gegen den Pfarrer R.G. aus, der die Taten gestand. Trotzdem waren nur zwei Mütter bereit, sich öffentlich zu exponieren und als Nebenklägerinnen aufzutreten.

Ein Kinderschuh liegt auf dem Boden.
Ein Kinderschuh liegt auf dem Boden.

Ein Betroffener berichtet, dass es in der Folge zu Konflikten im Dorf gekommen sei. Die Mütter und Kinder seien von Pfarreimitgliedern unter Druck gesetzt worden, ihre Anklage zurückzuziehen. Noch in den 1970er Jahren war der Pfarrer als «Vertreter Gottes» für viele Gläubige selbst bei schweren Vergehen unantastbar.

Lücken durch Aktenvernichtung

Neben strukturellen Fragen legt die Vorstudie ein grosses Augenmerk auf die Aktenbestände. Die Lage in den diözesanen Archiven unterscheidet sich dabei beträchtlich. In Basel, Chur, Sitten und St. Gallen fanden die Forschenden professionelle Archive vor. In LGF und Lugano war die Situation hingegen unübersichtlich.

Nicht überall fanden die Forschenden ein gut strukturiertes Archiv vor.
Nicht überall fanden die Forschenden ein gut strukturiertes Archiv vor.

Fast alle Bistümer – mit Ausnahme Basels – haben Akten vernichtet. Grösstenteils taten sie dies im Einklang mit dem Kanonischen Recht. Das CIC verlangt, Personalakten von Priestern, denen «Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren» vorgeworfen werden, nach zehn Jahren zu zerstören. Allerdings sind Bistümer verpflichtet, vor der Zerstörung eine schriftliche Zusammenfassung der Vorwürfe anzufertigen und diese aufzubewahren.

Zusammenfassungen fehlen

Die Forschenden halten fest, dass solche Zusammenfassungen nicht überall aufgehoben wurden. Besonders die Lücken in St. Gallen, LGF und Chur werfen Fragen auf.

Um kirchlichen Missbrauch aufarbeiten zu können, sind Personalakten von mutmasslichen Tätern unabdingbar. Im Idealfall die kompletten Dossiers, mindestens aber deren inhaltliche Zusammenfassungen. Die Vorstudie schliesst daher mit der dringenden Empfehlung, «dass zukünftig innerhalb der kirchlichen Institutionen keine thematisch relevanten Dokumente mehr vernichtet werden.»

*Betroffenenorganisationen:

SAPEC Soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse, gegründet 2010.

CECAR Commission d’Ecoute, de Conciliation, d’Arbitrage et de Réparation, gegründet 2016.

IG-MikU Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld, gegründet 2021.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene ist hier zu finden.

Für eine unabhängige Beratung ist die «Opferhilfe Schweiz» zu empfehlen.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Titelseite des 114-seitigen Berichts, der am 12.09.2023 veröffentlicht wurde. | © Screenshot
12. September 2023 | 09:30
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!