Nicola Neider Ammann, Leiterin des Bereiches Migration und Integration der Katholischen Kirche Stadt Luzern.
Porträt

«Jesus könnte einer der Geflüchteten sein»

Nicola Neider Ammann (60) braucht keine Karwoche, um das Leid der Menschheit zu verstehen. «Die Vorstellung, durch den Tod eines Menschen erlöst zu werden, finde ich unerträglich.» Ihr Engagement gegen die Nato-Aufrüstung brachte sie in den 1980er-Jahren vor Gericht.

Eva Meienberg

Die freie Sicht auf den Vierwaldstättersee ist verstellt durch einen zweieinhalb Meter hohen Grenzzaun mit Stacheldraht. In der Mitte prangt eine riesige blaue Hand mit Schweizer Kreuz. Es ist keine schützende Hand der Fatima. Die Hand symbolisiert die Kräfte, die an den EU-Aussengrenzen die Menschen abhalten nach Europa zu reisen, etwa die Grenzschutzagentur Frontex.

Die Luzerner Theologin Nicola Neider Ammann unterstützt das Bündnis «Kirchen gegen Frontex-Ausbau» und engagiert sich in der lokalen Gruppe «No Frontex». Die europäische Flüchtlingspolitik hält sie für falsch. 2015 hat sie an der Migrationscharta mitgewirkt. Diese fordert freie Niederlassung für alle. Nicola Neider Ammann sagt: «Ich bin keine Realpolitikerin.»

Die Theologin Nicola Neider Ammann steht vor dem Grenzzaun von "No Frontex" in Luzern.
Die Theologin Nicola Neider Ammann steht vor dem Grenzzaun von "No Frontex" in Luzern.

Engagement für Sans-Papiers

Seit 2008 leitet die Theologin den Bereich Migration und Integration der katholischen Kirche in Luzern. In diesem Bereich ist auch die Beratung für Sans-Papiers angesiedelt. Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung kommen und brauchen Unterstützung.

Aktuell kümmert sie sich um eine Familie mit drei Kindern aus dem Nordirak. Sie sollen demnächst nach Kroatien ausgeschafft werden. Die Mutter hat drei Suizidversuche hinter sich. Die Caritas-Anwältin sei verzweifelt, weil sie für die Familie nichts mehr tun könne. «Übrig bleibt oft eine Wut», sagt Nicola Neider Ammann. «Die Wut versuche ich in Energie zu wandeln. Sie hilft mir, immer wieder neu anzufangen und dranzubleiben, wenn andere aufgeben.»

Der Grenzzaun vor der Hofkirche in Luzern soll «darauf hinweisen, dass an den europäischen Grenzlinien jeden Tag Menschen gekreuzigt werden», sagt die Theologin. «Das bewirkt die Frontex-Politik: Menschen ertrinken, verhungern oder werden in den Flüchtlingslagern völlig vergessen.»

Opfer und Sühne

Sie ist überzeugt: «Jesus könnte einer der Geflüchteten sein.» Sie braucht keine Karwoche, um sich das Sterben Jesu in Erinnerung zu rufen. Auch mit Opfer und Sühne kann die Theologin nichts anfangen: «Die Vorstellung, durch den Tod eines Menschen erlöst zu werden, finde ich unerträglich.»

Für Nicola Neider Ammann steht fest: «In jedem Menschen ist ein göttlicher Funke. Gott hat nur uns zum Handeln, er greift nicht in das Geschehen ein.» An den Ostertagen schätzt sie die reiche Liturgie mit ihrer Lebendigkeit, die sie unter dem Jahr in den Gottesdiensten vermisse. «Jesus ist auferstanden in jedem von uns und gibt uns die Möglichkeit, am Reich Gottes zu bauen.»

Engagement für Flüchtlinge im September 2021: von links Chika Uzor, Nicola Neider Ammann, Bischof Felix Gmür, Reza Hosseini, Stefanie Gisler und Christoph Albrecht.
Engagement für Flüchtlinge im September 2021: von links Chika Uzor, Nicola Neider Ammann, Bischof Felix Gmür, Reza Hosseini, Stefanie Gisler und Christoph Albrecht.

Nicola Neider Ammann spricht leise, schnell und hat viel zu sagen. Beim Sprechen schaut sie konzentriert in die Weite. Nur dann und wann kreuzen sich unsere Blicke. Dann lächelt sie. «Wenn ich nur Nicola bin, dann bin ich ein scheuer Mensch», sagt sie. Aber wenn sie in einer Funktion sei, dann könne sie problemlos in einem vollen Saal zu den Leuten sprechen.

Westberlin und die Mauer

Die Theologin aus West-Berlin ist 1961 geboren – im gleichen Jahr, als die Berliner Mauer gebaut wurde. Der Schulhausplatz endet an der Mauer, die sonntägliche Velotour verläuft entlang der Mauer. Sie habe sich zu Kinderzeiten aber wenig Gedanken gemacht über diese Grenze: «Sie war einfach da.»

Blick durch die ehemalige Berliner Mauer
Blick durch die ehemalige Berliner Mauer

Mehr als der Eiserne Vorhang beschäftigt die junge Nicola die Gewalt auf dem Schulhof. «Meine Schule hatte ein Gewaltproblem.» Nicola lässt sich zur Friedensstifterin ausbilden: «Schon damals war für mich klar, Gewalt ist keine Lösung.» Auch heute propagiert die Theologin den gewaltlosen Widerstand.

Als Studentin wurde sie dafür sogar verhaftet und angezeigt. Mit ihren Kommilitoninnen sass sie vor einer Militärkaserne in Münster und hinderte die Lastwagen am Durchfahren. Der gewaltlose Protest richtete sich gegen die Nato-Aufrüstung in den 1980er-Jahren. Der Prozess gegen die Studentin endete mit einem Freispruch in zweiter Instanz.

Drei-Zimmer-Wohnung als Kirche

Auf die Idee, Theologie zu studieren, kam Nicola Neider Ammann in der katholischen Pfarrei St. Dominicus. Je nach Quartier war West-Berlin für die katholische Kirche ein schwieriges Pflaster. Nicola Neider Ammann wächst in der Diaspora auf: «Der Pfarrer bekam bei Stellenantritt die Schlüssel zu einer Drei-Zimmer-Wohnung.»

Seelsorge-Gespräche, Gottesdienste, Erstkommunion: All das spielte sich in der Drei-Zimmer-Wohnung oder in der öffentlichen Schule ab. Der hölzerne Tabernakel stand auf Rädern, damit er unter der Woche in die Küche geschoben werden konnte. «Wir hatten keine Kirche», sagt Nicola Neider Ammann. «Aber Menschen, die sich engagierten.»

Als junge Erwachsene sei ihr die Stadt plötzlich eng geworden. Darum zog Nicola Neider Ammann für ihr Theologiestudium nach Münster. Mit vier Frauen lebte sie in einer Theologinnen-WG. «Die haben mich aus der Reserve gelockt», sagt Nicola Neider Ammann. Erst da habe sie gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen. Das hätten ihr die Eltern zu Hause nicht beigebracht.

Jüdische Opfer des Faschismus: Figuren von Will Lammert an der Grossen Hamburgerstrasse in Berlin
Jüdische Opfer des Faschismus: Figuren von Will Lammert an der Grossen Hamburgerstrasse in Berlin

Jüdische Familie in Konzentrationslagern getötet

Auch ihr Vater habe nicht über sich selbst gesprochen. So erfuhr Nicola Neider Ammann erst mit 16 Jahren, dass ihre Vorfahren väterlicherseits jüdisch waren. All die Cousinen, Cousins, Onkel und Tanten, die sie nie kennengelernt hatte, weil sie in den Konzentrationslagern getötet wurden, waren plötzlich auf eine traurige Weise präsent. «Ihre Geschichten haben mich sensibilisiert für alle Geschichten von Vertreibung und Flucht», sagt Nicola Neider Ammann. In Münster hört sie Vorlesungen bei Johann Baptist Metz. Sein grosses Thema: Theologie nach Auschwitz.

Auf einer Tagung in Deutschland lernt Nicola Neider Daniel Ammann aus Emmenbrücke LU kennen. Die Theologin zieht in die Schweiz, das Paar bekommt zwei Töchter. Als diese noch Kleinkinder waren, ist die Familie für die Bethlehem Mission Immensee auf den Philippinen im Einsatz. Drei Jahre engagiert sich das Theologenpaar für die Kirche des Südens. «Wir sind als Beschenkte wieder nach Hause gegangen», sagt Nicola Neider Ammann «aber etwas Bleibendes konnten wir und viele andere Missionarinnen und Missionare dort nicht hinterlassen – bis auf die Erinnerung der Philippinerinnen und Philippiner, dass wir bei ihnen waren.»

Heute glaubt sie, dass es ihre erste Verantwortung sei, sich im globalen Norden für die Menschen zu engagieren, die hier am Rande stehen. Denn die Not im Süden habe mit der Wirtschaft des Nordens zu tun. Nachhaltige Hilfe sei schwierig und erschöpfe sich im besten Fall in einem schlichten Dasein, das den Menschen signalisiere, dass man sie nicht vergessen hat.

Nicola Neider Ammann hinter dem Grenzzaun von "No Frontex"
Nicola Neider Ammann hinter dem Grenzzaun von "No Frontex"

Abgeholt und ausgeschafft

Nicola Neider Ammann hat sich 2019 in Migrationsrecht weitergebildet. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie zum Thema der Rechtmässigkeit von Kirchenasyl. Die Kirchgemeinde St. Leodegar in Luzern gewährte zur selben Zeit einer tschetschenischen Mutter und ihrer zwölfjährigen Tochter Kirchenasyl – über ein Jahr lang. Vier Tage vor dem Datum, an dem Mutter und Tochter in der Schweiz einen Asylantrag hätten stellen können, wurden die beiden von der Polizei abgeholt und ausgeschafft. ” Diese Geschichte hat mich erschüttert und herausgefordert wie keine zuvor.»

In der Karwoche wird der Grenzzaun von «No Frontex» vor der Hofkirche stehen. Das Leid der Menschen heute steht für Nicola Neider Ammann immer im Zentrum – ob Karwoche ist oder nicht: «Wenn wir uns abschotten, sind wir mitverantwortlich für den Tod der Geflüchteten. Wenn wir humanitäre Fluchtwege und Asylverfahren bieten würden, wo die Menschen im Mittelpunkt stehen, müssten diese nicht sterben.»


Nicola Neider Ammann, Leiterin des Bereiches Migration und Integration der Katholischen Kirche Stadt Luzern. | © Eva Meienberg
12. April 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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