Die Muslimin und Islamwissenschaftlerin Rifa`at Lenzin
Schweiz

Rifa'at Lenzin: «Drohnenangriffe der USA sind für mich ebenfalls Terror»

Zürich, 21.1.16 (kath.ch) Wird heute über Religion und Gewalt gesprochen, ist oft der Islam im Visier. Dahinter stecke ein altes Vorurteil, sagt die Islamwissenschafterin Rifa’at Lenzin im Gespräch mit kath.ch. Sie trat am 27. Januar an den Witiker Gesprächen «Religion ohne Gewalt» in Zürich-Witikon auf. Diese wurden von der Paulus-Akademie und der reformierten Kirche Zürich Witikon organisiert.

Regula Pfeifer

Heute wird Terror im Namen des Islam verübt. Wie beurteilen Sie das als Islamwissenschafterin?

Rifa’at Lenzin: Der Islam ist nicht gewalttätiger als andere Religionen. Aber das Cliché eines gewalttätigen Islam hat eine lange Geschichte. In der Vergangenheit wurde kaum je so viel Gewalt im Namen einer Religion ausgeübt wie im Namen des Christentums. Und immer sind es Menschen, die gewalttätig sind, nicht Religionen.

Inwiefern ist das Christentum besonders gewalttätig?

Lenzin: Der Begriff «Heiliger Krieg» kommt in der Bibel vor, nicht im Koran. In der Geschichte des Christentums gab es immer wieder Kriege im Namen der Religion – von den Kreuzzügen des Mittelalters bis zu den Eroberungszügen in Mittel- und Südamerika. Man denke nur an die Zwangsbekehrung und teilweise Ausrottung der Indianer.

Heute sind westliche Länder– insbesondere die USA – an den meisten Kriegsschauplätzen der Welt beteiligt. An diesen Schauplätzen nimmt man die USA durchaus als christliche Weltmacht war, weil sie sich auch so positionieren. Dieses Sendungsbewusstsein war besonders in der Ära von George W. Bush sehr ausgeprägt.

Weshalb gibt es aktuell Terror im Namen des Islam, aber nicht im Namen des Christentums?

Lenzin: Diese weit verbreitete Wahrnehmung ist verzerrt. Man tendiert dazu, immer nur die eigenen Opfer wahrzunehmen. Deshalb wird Gewalt an Christen in Europa viel mehr thematisiert als Gewalt an Muslimen.

Man tendiert dazu, immer nur die eigenen Opfer wahrzunehmen.

Für mich sind die Drohnenangriffe der USA oder der Bombenkrieg von Russland gegen die Zivilbevölkerung im Mittleren Osten oder in Afghanistan und Pakistan ebenfalls Terror. Und in einem gewissen Sinn noch schlimmer.

Weshalb?

Lenzin: Eine Rebellengruppe agiert ausserhalb des etablierten Rechts und kämpft gegen die Staatsgewalt. Das gilt für den sogenannten Islamischen Staat (IS) ebenso wie für die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc) in Südamerika oder für die damalige Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland. Letztere verkündete damals, im Kampf gegen die etablierte Macht sei jedes Mittel recht.

Die USA hingegen ist eine Weltmacht und reklamiert für sich moralische Überlegenheit. Sie behauptet, für das Gute, für Demokratie und Menschenrechte zu kämpfen. Da ist es besonders verwerflich, wenn sie Drohnen gegen die Zivilbevölkerung einsetzt.

Wann war der Islam historisch gesehen am gewalttätigsten, wann am friedlichsten? Und weshalb?

Lenzin: Die Ausbreitung des islamischen Herrschaftsbereichs verlief teilweise gewalttätig, teilweise friedlich. Die frühen Eroberungszüge in der islamischen Geschichte und auch die spätere Ausdehnung des Osmanischen Reichs geschahen nicht primär im Namen des Islam und waren auch nicht mit Zwangsislamisierungen verbunden. Friedlich breitete sich der Islam beispielsweise im Balkan und über Zentralasien bis nach Indien aus – über die Sufi-Bewegung und den Fernhandel. Wahrscheinlich wurde zu keiner Zeit in der Geschichte des Islams so viel Gewalt im Namen der Religion ausgeübt wie jetzt.

Die Eroberungszüge in der islamischen Geschichte geschahen nicht primär im Namen des Islam.

Ruft der Koran zu Gewalt auf?

Lenzin: Das kann man so nicht sagen, nein. Natürlich gibt es Stellen im Koran, die man so interpretieren kann. Terror und exzessive Gewalt, wie sie der IS im Namen des Islam verübt, sind ein Phänomen der Moderne. Der IS überträgt aus dem Zusammenhang gerissene Korantexte wortwörtlich in die heutige Zeit. Das ist ein typisches Vorgehen von Vertretern eines religiösen Fundamentalismus, nicht nur bei den Muslimen.

Religionshistorisch betrachtet haben alle Heiligen Schriften das Potential zum Guten wie zum Schlechten. Es kommt immer darauf an, mit welcher Intention man sie liest. Die betreffenden Koranstellen haben ganz klar historischen Kontext und müssen im Hinblick auf diesen Kontext gelesen werden. Doch der IS hat sich nie um eine Koran-Exegese gekümmert.

Ist das Wort Dschihad ein Aufruf zum Kampf für den Islam?

Lenzin: Der Begriff Dschihad hat eine breite Bedeutungspalette. Es geht primär darum, sich für etwas einzusetzen oder anzustrengen. Im eigentlich religiösen Sinn, sich einzusetzen «im Wege Gottes», so heisst es im Koran. Später wurde von den Gelehrten ein Konzept entwickelt. Dieses Dschihad-Konzept hat verschiedene Aspekte, der militärische ist einer davon. Noch wichtiger ist aber der religiös-spirituelle Aspekt. Gemäss dem klassischen Konzept konnte nur der Kalif einen Dschihad ausrufen. Vorgegeben war auch, unter welchen Umständen das möglich war und was für Bedingungen einzuhalten waren. Mit dem, was heutige Dschihadisten im Schilde führen, hat das allerdings nichts mehr zu tun.

Änderte sich die Definition später?

Lenzin: Der religiöse und staatliche Führer Irans, Ayatollah Khomeini, popularisierte seinerzeit das Verständnis des Dschihad. Dieser sei primär ein Kampf gegen das eigene Ego. Es gehe um das Bemühen, den Mitmenschen gegenüber gerecht zu sein und seine Nächsten gut zu behandeln.

Ein anderes Dschihad-Verständnis entwickelte sich in der Kolonialzeit. Man definierte den Dschihad neu auch als Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft. Dies bildete das Fundament für heutige Gruppierungen, die gegen alle kämpfen, die nicht ihrer Meinung sind.

Gibt es extreme Gewaltszenen im Koran?

Lenzin: Der Koran erzählt nicht Geschichten wie die Bibel. Es gibt darin Aussagen, dass Gott diejenigen bestraft und bestraft hat, die gegen seine Gebote verstossen haben. Gewalt selbst ist im Koran nicht tabuisiert. Es gibt eine legitime Gewalt. Aber es steht auch: Wenn jemand einen anderen ungerechterweise tötet, ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.

Was bezwecken solche Aussagen?

Lenzin: Heilige Schriften wie der Koran oder die Bibel geben Menschen unter anderem Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben. Gewalt dient dabei als Sanktion für pflichtwidriges Verhalten. Das ist alles sehr menschlich. Auch säkulare Staaten kommen nicht ohne Strafrecht aus.

Sind Gewaltdarstellungen in einem heiligen Buch nicht etwas Schlechtes?

Lenzin: Aus heutiger Sicht sind sie zumindest schwer verdaulich. Letztendlich hängt es aber wahrscheinlich mit der Einstellung einer Gesellschaft gegenüber Gewalt zusammen. In unserer Gesellschaft ist gewalttätiges Handeln hochgradig tabuisiert. In gewissen Kreisen werden sogar Jäger als Mörder bezeichnet, weil sie Tiere töten. Andererseits sind Gewaltdarstellungen in den Medien stark präsent. Shooter-Spiele sind allgegenwärtig und bei Jugendlichen äusserst beliebt.

Ihre Einschätzung: Wie friedlich oder gewalttätig ist der Islam im Vergleich zu anderen Religionen?

Lenzin: Die Frage nach der Beziehung von Religion und Gewalt kann man nicht isoliert betrachten. Man muss immer den historischen, sozialen und ökonomischen Kontext berücksichtigen. Der Islam ist so friedensfördernd oder gewalttätig wie jede andere Religion oder Ideologie auch.

Seit dem 20. Jahrhundert werden Kriege vor allem unter ideologischen Vorzeichen geführt. Deutschland tötete im Namen des Nationalsozialismus, Russland im Namen des Stalinismus, die USA im Namen der Demokratie. Das ist Missbrauch von Ideologien. (rp)

Die Muslimin und Islamwissenschaftlerin Rifa`at Lenzin | © Josef Bossart
29. Januar 2016 | 15:50
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