Ihre Mutter in der Türkei hat ihre Wohnung durch das Erdbeben verloren, die Nachbarsfamilie ist tot: Aysel Günüs Tasan.
Schweiz

«Ich weine jeden Tag für die Kinder und die vielen Menschen, die beim Erdbeben umgekommen sind»

Die Welt ist nach wie vor geschockt. Mehr als 22’000 Todesopfer hat das riesige Erdbeben in der Südtürkei und in Syrien gefordert. Auch für Türkinnen und Türken in der Schweiz hat sich mit einem Schlag ihr Leben verändert. Ein Augenschein in Baar.

Wolfgang Holz

Noch ist es ganz ruhig im «Kebap und Pizza House» im Baarer Oberdorf. Der frische Dönerspiess steht bereit für hungrige Gäste. An diesem Samstagmorgen hat es noch keine Besucherinnen und Besucher. Aysel Günüs Tanan räumt im Lokal auf.

Mit ihren Gefühlen ganz in der Türkei

Doch mit ihren Gedanken, Gefühlen und mit ihrem Herzen ist die Reinigungskraft ganz woanders. Ganz weit weg. Dort, wo am 6. Februar das Monster-Erdbeben in der Südtürkei und in Syrien Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat. Ihre Stadt Antakya, wo sie herkommt, sei völlig verwüstet.

Die Trauer über die schlimme Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien steht ihr ins Gesicht geschrieben: Aysel Günüs Tasan.
Die Trauer über die schlimme Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien steht ihr ins Gesicht geschrieben: Aysel Günüs Tasan.

«Die Wohnung meiner Mutter ist total kaputt», sprudelt es sofort aus ihr heraus, als man sie anspricht auf die Katastrophe. Gottseidank habe ihre 73-jährige Mutter das Erdbeben überlebt. Ein Cousin habe sie inzwischen in eine sichere Stadt gebracht.

Kaum noch Schlaf, kein Hunger

«Meine Nachbarin ist unter den Trümmern umgekommen – mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern», berichtet die 49-Jährige. Sie selbst ist Mutter und lebt seit 2002 in Cham ZG. Sagt’s und bricht unmittelbar in Tränen aus. «Ich weine jeden Tag für die Kinder und die vielen Menschen, die beim Erdbeben ums Leben gekommen sind», seufzt Aysel Günüs.

«Es geht mir natürlich auch nicht gut, und die vielen Toten schmerzen mich sehr.»

Celik Ramazan

Sie müsse die ganze Zeit an die Opfer denken, versichert die alevitische Kurdin. Sie könne kaum schlafen noch essen. Inzwischen habe sie zwei Kartons Kleider gepackt und diese mit einem Transport aus Winterthur in die Türkei geschickt.

Familie in die Berge geflüchtet

Szenenwechsel. Im BBQ-Restaurant am Baarer Bahnhof sitzt Lokalbetreiber Celik Ramazan am Tresen. Der 43-Jährige erhält gerade einen Anruf auf dem Smartphone von seinem Bruder aus dem Katastrophengebiet. «Meine Familie ist jetzt in die Berge in Sicherheit geflüchtet», sagt der 43-Jährige. Auch er weiss von vielen Todesopfern aus seinem Bekanntenkreis.

Der 65-jährige Yasar Zorcakmakci sieht auch die Regierung in der Schuld wegen des verheerenden Erdbebens.
Der 65-jährige Yasar Zorcakmakci sieht auch die Regierung in der Schuld wegen des verheerenden Erdbebens.

«Es geht mir natürlich auch nicht gut, und die vielen Toten schmerzen mich sehr», räumt der kurdische Wirt ein. Wobei seiner Meinung nicht nur das starke Erdbeben für die vielen Todesopfer ursächlich ist. «Es sind vor allem die vielen neuen Gebäude, die schlecht gebaut sind.»

Schlecht gebaute Häuser wegen Korruption

Denn der Untergrund, auf dem viele Häuser in der Erdbebenzone errichtet wurden, sei instabil und lasse eigentlich nur Gebäude mit maximal drei Stockwerken zu. «Doch Architekten haben die Baubehörden der Städte teilweise bestochen, damit sie höher bauen können», ist Celik Ramazan überzeugt.

«Wichtig ist nur das Geld, nicht die Menschen.» Deshalb sei auch das Baumaterial nicht immer das Beste: «Denn dann kann man noch grössere Gewinne herausschlagen.» Dabei habe der türkische Staat nach dem verheerenden Erdbeben 1999 in Gölçük, so der BBQ-Wirt, extra eine Erdbebensteuer erhoben, um besser bauen und vorsorgen zu können. «Man fragt sich jetzt, wo das ganze Geld ist.»

Türkische Hilfsorganisationen sammeln ebenfalls Spenden für die Erdbebenopfer.
Türkische Hilfsorganisationen sammeln ebenfalls Spenden für die Erdbebenopfer.

Ganz zu schweigen davon, dass laut Celik Ramazan die Hilfe der Behörden in der Türkei viel zu langsam angelaufen sei. «Es ist doch sehr kalt – und die Menschen frieren.»

«Präsident Erdogan ist kein korrekter Politiker, sondern ein Diktator.»

Yasar Zorcakmakci

Auch Yasar Zorcakmakci im «Carerra»-Kebap-Take Away, wenige hundert Meter vom Baarer Bahnhof entfernt, ist überzeugt, dass der türkische Staat eine Mitschuld an der Katastrophe trage. «Präsident Erdogan ist kein korrekter Politiker, sondern ein Diktator.» Er denke nur an sich und nicht an die Gesellschaft, sagt der 65-Jährige, der schon seit 25 Jahren in Baar lebt. «Ich schaue den ganzen Tag Fernsehen und verfolge die Nachrichten. Manchmal kann ich einfach nur noch weinen.»

Eingang zur Fatih Camii-Moschee in Baar.
Eingang zur Fatih Camii-Moschee in Baar.

In der Fatih-Cami-Moschee im Baarer Gewerbegebiet ist gerade das Mittagsgebet beendet. Die Moschee steht in der Obhut der Türkisch-Islamischen Vereinigung in Zug, die 1982 gegründet wurde. Ihr gehören 240 aktive und rund 300 passive Mitglieder an.

Auch der Imam ist geschockt

In den Räumlichkeiten findet auch der Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene statt. Die Menschen lesen zusammen den Koran und feiern gemeinsam Feste. Für Nicht-Muslime bietet der Verein in der Moschee Führungen an oder lädt zu interkulturellen Anlässen, etwa im Fastenmonat Ramadan.

Nach dem Mittagsgebet in der Moschee (v.l.): Ismail Gül, Imam Ismail Ünal und Ibrahim Bilgin.
Nach dem Mittagsgebet in der Moschee (v.l.): Ismail Gül, Imam Ismail Ünal und Ibrahim Bilgin.

Für Imam Ismail Ünal ist das aktuelle Erdbeben in der Türkei und in Syrien ebenfalls eine unglaubliche Katastrophe. «Wir müssen alle mitfühlen mit den Menschen dort und für sie beten – vor allem für die trauernden Hinterbliebenen, um ihnen Trost zu spenden», sagt er. Das sei das schlimmste Erdbeben seit 400-500 Jahren. «Es hat sehr viele Tote gegeben, deshalb ist es ein grosses Drama.»

Aber lässt sich dieses unermessliche Leid überhaupt erklären? Laut den Versen im Koran gibt es Prüfungen für den Menschen, die von Allah auferlegt seien, sagt Imam Ismail Ünal. Diese Prüfungen seien nicht immer positiv.

Der Gebetsraum in der Baarer Fatih Camii-Moschee.
Der Gebetsraum in der Baarer Fatih Camii-Moschee.

«Allah erwartet von uns Menschen, dass wir diese Botschaft klar verstehen», sagt der Imam. Aus menschlicher Sicht könne man jedoch nicht verstehen, warum Allah den Menschen solche Prüfungen auferlege. «Für uns Menschen sind solche Prüfungen dennoch eine positive Botschaft – damit wir uns weiter im Glauben an Allah stärken und uns verbessern.»


Ihre Mutter in der Türkei hat ihre Wohnung durch das Erdbeben verloren, die Nachbarsfamilie ist tot: Aysel Günüs Tasan. | © Wolfgang Holz
11. Februar 2023 | 16:16
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