Christian Kind, Inkluse in der St. Galler Wiborada-Zelle, freut sich über Besuch.
Konstruktiv

Wiborada-Zellen-Besucher: «Ich könnte nicht eine Woche isoliert leben – das wäre für mich zu viel Entbehrung»

Noch bis Anfang Juni verbringen drei Inklusen jeweils eine Woche in der Wiborada-Zelle an der St. Mangen-Kirche in St. Gallen. Am offenen Fenster halten sie zweimal täglich Kontakt mit Besuchenden. Welche Anliegen und Bitten werden vorgebracht? Eine Stippvisite an einem regnerischen Mittag fördert Interessantes zu Tage. Auch wenn nur ganz wenige erschienen sind.

Wolfgang Holz

Die Turmuhr von St. Mangen schlägt gerade zweimal. 12.30 Uhr. Es geht ein feiner Nieselregen nieder. Inkluse Christian Kind, der dritte Einsiedler, der sich in diesem Frühling von der Öffentlichkeit eine Woche lang zurückgezogen hat, sitzt am Tisch in seiner Klause und trinkt gemütlich eine Tasse Tee. Der 73-Jährige ist bereit, sein Fenster für Besuchende eine Stunde lang zu öffnen. Der pensionierte Kinderarzt ist guter Dinge. Aber noch ist niemand gekommen. «Interviews darf ich keine geben», winkt er ab.

Christian Kind sitzt als Inkluse am offenen Fenster in der Wiborada-Zelle.
Christian Kind sitzt als Inkluse am offenen Fenster in der Wiborada-Zelle.

Während es vor der Klause hinter der Kirche St. Mangen noch einsamer ist als in der angebauten Wiborada-Holzzelle, herrscht rings um die Kirche buntes Treiben.

Kein Wunder. Es ist Mittagszeit. Berufsschülerinnen und Berufsschüler der gegenüberliegenden Gewerbeschule in der Kirchgasse stellen sich unter zwei Portale der Kirche ins Trockene und geniessen ihre Pause. Zwei junge Männer ziehen sich in einen Alfa Romeo auf dem Parkplatz vor der Schule zurück, nachdem sie mit ihren Kollegen ein bisschen Marihuana im geraucht haben – eine Inklusion der anderen Art.

«Da erfährt man sicher eine Menge über sich.»

Lea Kindle, Berufsschülerin

«Ich finde die Sache mit der Wiborada-Zelle ganz interessant», sagt Lea Kindle. Der Berufsschülerin aus dem liechtensteinischen Triesen gefällt dieser spirituell-religiöse Event, «weil dieser nicht so rein auf die Bibel ausgelegt ist». Ob sie sich denn auch vorstellen könnte, eine Woche ganz abgeschieden von der Welt zu leben? «Eine ganze Woche?! Das wäre vielleicht schon mal interessant. Da erfährt man sicher eine Menge über sich.» 

Lea Kindle aus Liechtenstein
Lea Kindle aus Liechtenstein

Ein 28-Jähriger, der im Park neben der Kirche auf einer Bank sitzt und ein asiatisches Reisgericht isst, findet es «sehr spannend, dass es solche Angebote gibt. Ich bin nicht wirklich religiös, aber ich bewundere solche Leute, die sich zur Meditation zurückziehen – weg vom Konsum und in die Stille hinein.»

Er ist sich aber sicher, dass ihm selbst solch ein totaler Rückzug nicht guttun würde. «So ganz allein in einem kleinen Raum? Da würde ich lieber allein durch die Natur spazieren.»

«Wiborada-Zelle hat schon Tradition»

Apropos spazieren. Im Park führt Myriam gerade ihren Hund spazieren. Die Französin aus Lyon, die seit einiger Zeit in St. Gallen lebt, ist begeistert von der Wiborada-Zelle. «Ich glaube an Gott, und ich könnte mir als Yoga-Lehrerin durchaus vorstellen, dass ich mich durch so einen Aufenthalt in der Klause weiterentwickeln könnte.» Die Wiborada-Zelle sei ja in St. Gallen schon Tradition und werde jedes Jahr richtiggehend erwartet von der Bevölkerung.

Myriam aus Frankreich ist Yoga-Lehrerin und  könnte sich einen Aufenthalt in der Wiborada-Zelle vorstellen.
Myriam aus Frankreich ist Yoga-Lehrerin und könnte sich einen Aufenthalt in der Wiborada-Zelle vorstellen.

Vor der Wiborada-Zelle herrscht immer derweil noch «tote Hose». Sprich: Besuchsflaute. Vielleicht liegt’s am Montag. Vielleicht an der nasskalten Witterung. Aber halt, da reicht eine Frau dem Inklusen einen Becher Kaffee durchs Fenster und fragt ihn, wie es ihm geht.

Ganz ohne Termine, ohne Smartphone

«Ich verbrachte selbst letztes Jahr eine Woche lang in der Zelle», sagt Kathrin Bolt. Die 42-jährige Pfarrerin von der reformierten Pfarrei Laurenzen hat diese Zeit vor einem Jahr als fantastisch, ja als tief prägendes Erlebnis in Erinnerung. «Mal ganz ohne Termine und ganz ohne Smartphone eine Woche für mich haben zu können, hat bei mir eine Sehnsucht ausgelöst, so etwas öfters erleben zu wollen.»

Die reformierte Pfarrerin Kathrin Bolt war selbst schon Inklusin und fasziniert von ihrem Aufenthalt in der Wiborada-Zelle.
Die reformierte Pfarrerin Kathrin Bolt war selbst schon Inklusin und fasziniert von ihrem Aufenthalt in der Wiborada-Zelle.

Man habe plötzlich so viel Zeit für alles. «Fürs Gebet, für Spiritualität – für Zeit, um in sich hineinzuhören «, erklärt sie. Sie habe auch nachts hervorragend geschlafen während dieser Woche.

Dabei sei es ihm Vorfeld für sie und ihre Familie nicht einfach gewesen. Vor allem musste sie ihren zwei kleinen Töchtern klarmachen, warum die Mami jetzt einfach eine Woche weg sei. «Sie haben mich natürlich anfangs sehr vermisst, dann am Fenster oft besucht», sagt Bolt.

Wünschten sich einen Freund oder eine Freundin

Berührend seien für die Pfarrerin die Bitten und Anliegen von Besuchenden am offenen Fenster gewesen, so Bolt. «Ein Vater erzählte mir über die Depression seiner Tochter. Kantischülerinnen und -schüler vertrauten mir per anonymer Zettel beispielsweise an, dass sie sich einen Freund oder eine Freundin wünschten.»

Tempi passati. Aktuell ist noch immer niemand vor dem offenen Fenster erschienen. Inzwischen ist es schon zehn nach eins. Ob da wirklich noch jemand kommt?

Inkluse Christian Kind bekommt Besuch am offenen Fenster.
Inkluse Christian Kind bekommt Besuch am offenen Fenster.

Plötzlich steht der gross gewachsene Jonas mit seiner Freundin vor dem offenen Fenster. Den 28-jährigen, den man an seinem sympathischen Akzent sofort als gebürtigen Oberbayern erkennt, hat die persönliche Neugier vors offene Fenster gelockt.

Aus der Kirche ausgetreten

«Ich habe mit Religion eigentlich nicht so viel am Hut», räumt er ein. Er sei vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil er wie seine römisch-katholischen Eltern «nie so den Bezug zur Kirche» habe herstellen können.

«Ich bewundere Leute, die so etwas machen.»

Jonas, Besucher am offenen Fenster der Wiborada-Zelle

Von der Wiborada-Zelle hat der studierte Betriebswirt aus dem Fernsehen erfahren. «Ich bewundere Leute, die so etwas machen. Für mich wäre das wohl nichts, weil für mich im heutigen Zeitalter von Internet und Social Media die Entbehrungen zu gross wären. Eine ganze Woche ist schon lang», ist er überzeugt.

Eine Scheibe Brot vom Inklusen
Eine Scheibe Brot vom Inklusen

Im Gespräch mit Christian Kind, dem dritten Inklusen im Bunde, erfahren die beiden dann einiges über die Einrichtung der Klause. «Da gibt es ja keine Dusche, und auch kein Wasserklo», sagt Jonas erstaunt.

Seine Freundin und er erhalten einige Informationen über das Leben der Heiligen Wiborada. Am Schluss des Gesprächs schneidet ihnen der 73-Jährige sogar noch eine Scheibe Brot in seiner Zelle ab – so wie es die Heilige Wiborada im Mittelalter in ihrer Klause auch gemacht hatte.

«Eine andere Hausnummer»

«Die Heilige Wiborada war ja zehn Jahre in ihre Zelle lang eingemauert», findet Jonas fasziniert. «Wenn man diese Zeitspanne mit der einen Woche vergleicht, welche die Inklusen in ihrer Zelle heute verbringen, ist das natürlich heutzutage eine andere Hausnummer.»

Eine moderne Skulptur der St. Galler Stadtheiligen Wiborada.
Eine moderne Skulptur der St. Galler Stadtheiligen Wiborada.

Danach wird’s noch kurz richtig lebendig. Christian Kind hält sein Fenster länger offen als offiziell festgelegt. Ein befreundeter Nachbar von nebenan hat seinen Bekannten mitgebracht, um ihm die Wiborada-Zelle zu zeigen. «Ich finde diese Wiborada-Zelle gut für St. Gallen. Das bringt Publicity.»

Wiborada-Zelle bis 2026 geplant

Wiborada von St. Gallen lebte im 10. Jahrhundert als Eingeschlossene bei der heute reformierten Kirche St. Mangen. Sie hatte sich einmauern lassen und lebte bis zu ihrem Tod als sogenannte Inklusin. Das heisst, als eine in einer Zelle eingeschlossene Einsiedlerin. Ihre Zelle hatte keine Türe, aber zwei Fenster. Ein Fenster in die Kirche hinein. Ein Fenster zur Welt hinaus. Wiborada von St. Gallen war eine Gottsucherin und eine Beterin. Sie konnte die Psalmen auswendig. Sie war aber auch Ratgeberin für viele.

Damit wurde Wiborada, die erste Heilige, zur Begründerin des Inklusentums, das hier bis zur Reformation weiterlebte. Nach vierjähriger Probezeit liess sie sich vom Bischof im Jahr 916 in eine Zelle an der Kirche St. Mangen einschliessen.

Die reformierte Kirche St. Mangen in St. Gallen
Die reformierte Kirche St. Mangen in St. Gallen

Am Ort, wo Wiborada an der Kirche St. Mangen eingemauert lebte, steht seit Frühjahr 2021 eine nachgebaute Zelle. Im Mai bewohnen Frauen oder Männer für je eine Woche die Zelle. Sie lassen sich einschliessen. Die Eingeschlossenen bringen Erfahrung mit dem Alleinsein und dem persönlichen Beten mit. Sie lassen sich auf das Experiment ein, in dieser besonderen Woche Gott zu suchen.

In diesem Jahr sind es ausschliesslich fünf Männer, die dieses Experiment des Eingeschlossenseins jeweils an sich erproben. Und die zweimal pro Tag am offenen Fenster der Wiborada-Zelle an der Kirche St. Mangen, ihre spirituelle Erfahrung mit Besucherinnen und Besuchern teilen. Oder die Bitten entgegennehmen. Ein ökumenisches Team hat beschlossen, das Projekt bis 2026 zu verlängern.


Christian Kind, Inkluse in der St. Galler Wiborada-Zelle, freut sich über Besuch. | © Wolfgang Holz
17. Mai 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!