Die Schepenese-Mumie in der Stiftsbibliothek St. Gallen.
Schweiz

«Ich bin ziemlich entsetzt»: Star-Ägyptologe Jan Assmann kritisiert St. Gallen wegen Schepenese

Jan Assmann (84) gehört zu den weltweit führenden Ägyptologen. Er kritisiert den Umgang der St. Galler Stiftsbibliothek mit der ägyptischen Mumie Schepenese. Diese werde «zu einem Kuriosum mit Grusel-Effekt herabgewürdigt». Die Argumentation von Bischof Markus Büchel findet er widersprüchlich.

Raphael Rauch

Kennen Sie die St. Galler Mumie Schepenese persönlich?

Jan Assmann*: Ich war mal in der Stiftsbibliothek, aber da ist mir die Mumie entgangen. Ich habe von der jüngsten Debatte erfahren und bin ziemlich entsetzt. Wie kann man eine Mumie auswickeln und sie ausgewickelt ausstellen? So haben sich die Ägypter nicht der Nachwelt präsentieren wollen. 

Jan Assmann.
Jan Assmann.

Sondern?

Assmann: Allenfalls im Schutz ihrer Hülle aus stuckierter Kartonage und Kopfmaske, vor allem im Schutz der Texte, mit denen Hülle und Särge beschriftet sind. 

«Zur ägyptischen Vorstellung der Person gehören auch noch Ba, Ka und Ach.»

In christlichen Kulturen können Verstorbene verbrannt werden. Ginge das auch im alten Ägypten?

Assmann: Nein! Den Körper zu vernichten, wäre in den Augen der alten Ägypter etwas Furchtbares. Der Körper ist eine unverzichtbare Konstituente der Person. Zur ägyptischen Vorstellung der Person gehören auch noch Ba, Ka und Ach. Ba ist die Körper-Seele, die sich vom Körper loslösen kann. Ka ist eine Sozial-Seele, seine personifizierte Würde und Ehre, die allerdings keine Verbindung zum Körper, sondern zur beschrifteten Grabanlage hat. Der Ach entsteht im Vollzug des Mumifizierungsritual. Damit Ba mit dem Körper eine Verbindung halten kann, muss der Körper konserviert werden. Sonst kann er nicht von Ba besucht werden.

Jan Assmann an der ETH Zürich.
Jan Assmann an der ETH Zürich.

Warum war die Konservierung wichtig?

Assmann: Es ging darum, den Tod zu überleben, also das Nachleben zu sichern. Und das Nachleben beruhte auf bestimmten Garanten. Etwa dass der Ba sich vom Körper lösen und sich frei bewegen konnte – in der Welt, im Himmel, auf der Erde und in der Unterwelt. Es braucht also ein anständiges Grab für den Leichnam. Die Ägypter hatten einen Horror vor Verwesung. Es gibt Texte im Totenbuch, die das auf schonungslose Weise schildern. 

Verhält sich St. Gallen pietätlos?

Assmann: Eindeutig ja!

Solidarität mit Schepenese: Aktion in St. Gallen.
Solidarität mit Schepenese: Aktion in St. Gallen.

Warum wäre es Okay, die Mumie eingewickelt zu zeigen?

Assmann: Weil sie sich zeigen wollte. In Ägypten hiess es: «Ein Mensch lebt, wenn sein Name genannt wird.» Aber dafür müssen Name und Titel sichtbar und lesbar sein. Man muss sie zurückführen in ihre äußere Hülle – Kartonnage und Särge. Es spricht nichts dagegen, Mumien auszustellen. Aber in dieser Form finde ich es entwürdigend. Wir Ägyptologinnen und Ägyptologen betreiben beruflich jede Form von Leichenfledderei. Wir graben Leichen aus – aber wir würden nie eine Mumie so der Öffentlichkeit preisgeben.

Bischof Markus Büchel
Bischof Markus Büchel

Der Bischof von St. Gallen, Markus Büchel, findet es Okay, die Mumie auszustellen – kritisiert aber gleichzeitig, wie der einbalsamierte Papst Johannes XXIII. im Vatikan ausgestellt werde. 

Assmann: Das ist widersprüchlich und interkulturell nicht sonderlich sensibel. Ich verstehe nicht, warum das bei Schepenese Okay sein soll – nicht aber bei Johannes XXIII. Ich finde es auch kein Argument, zu sagen: «Die Mumie gehört zu St. Gallen.» Es ist schon merkwürdig, wie sie in einer Bibliothek zur Schau gestellt wird.

Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen.
Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen.

St. Gallen argumentiert, im Nationalmuseum in Kairo würden auch Mumien unverstellt ausgestellt.

Assmann: Das stimmt, aber es sind Königsmumien. Es gibt eine Art öffentliches, nationales und historisches Interesse, die Physiognomien dieser Könige in ihrer mumifizierten Form zu erahnen. Und es macht einen Unterschied, ob ich Mumien in einem eigens reservierten Raum pietätvoll ausstelle. Oder ob eine barocke Stiftsbibliothek sich an einem Objekt europäischer Habgier ergötzt. Schepenese wird zu einem Kuriosum mit Grusel-Effekt herabgewürdigt. 

«Es geht nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung, sondern um den Grusel-Effekt.»

Als Professor haben Sie einen pädagogischen Eros. Freut es sie nicht, dass sich Schulklassen eher für die ägyptische Mumie interessieren als für mittelalterliche Handschriften?

Assmann: Nein, das freut mich nicht. Es geht ja nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung, sondern um den Grusel-Effekt. Mein pädagogischer Eros würde eher für die Handschriften werben. 

Die Karre für die Schepenese-Mumie Richtung Ägypten stand schon bereit – daneben eine Priesterin.
Die Karre für die Schepenese-Mumie Richtung Ägypten stand schon bereit – daneben eine Priesterin.

Schepenese war die Tochter eines Priesters. Macht sie das zu etwas Besonderem?

Assmann: Im alten Ägypten gab es zum Glück keinen Zölibat. Schepenese wurde nicht als Tochter eines Priesters einbalsamiert, sondern weil sie der Upper Class angehörte. Eine Einbalsamierung ist aufwändig und kostspielig.

Cornel Dora leitet die Stiftsbibliothek in St. Gallen.
Cornel Dora leitet die Stiftsbibliothek in St. Gallen.

Wie sollte St. Gallen vorgehen?

Assmann: Schepenese kann in St. Gallen bleiben. Aber sie sollte mit fachkundiger Expertise in ihre Hüllen zurückgeführt und adäquat ausgestellt werden. Dazu gehört auch eine entsprechende Schrifttafel mit Informationen über ihre Herkunft und den Kontext der damaligen Zeit.

* Jan Assmann (84) lebt in Konstanz und zählt zu den weltweit führenden Ägyptologen. Er forscht zu religions- und kulturwissenschaftlichen Themen mit dem Schwerpunkt Erinnerungskulturen. Am Mittwochabend hielt er an der ETH Zürich die Thomas-Mann-Lecture zum Thema: «Thomas Manns ‹Morgenlandfahrt› – die Josephsromane».


Die Schepenese-Mumie in der Stiftsbibliothek St. Gallen. | © St. Galler Stiftsbibliothek
3. Dezember 2022 | 05:00
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