Hans Zollner, SJ
Schweiz

Hans Zollner: «Über Missbrauch zu schweigen, ist keine Lösung»

Der vatikanische Präventionsbeauftragte äussert sich zur Schweizer Missbrauchsstudie. «Vertuschen und Leugnen des Missbrauchs durch die Kirchenoberen» sei für viele der eigentlichen Skandal. Nicht nur Bischöfe, sondern auch Laien müssen Verantwortung übernehmen. Nur so kann die Kirche verlorenes Vertrauen zurückgewinnen, sagt Hans Zollner.

Annalena Müller

Sie haben sich intensiv mit der Schweizer Pilotstudie zum Missbrauch im kirchlichen Umfeld befasst. Sind solche Studien wichtig?

Hans Zollner*: Solche Studien sind sehr wichtig. Denn sie zeigen, was geschehen ist. Das ist in erster Linie für Missbrauchsbetroffene wichtig – und für deren Familien und Freunde. Aber auch für die Kirche, damit sie sieht, was alles an Verbrechen und Vertuschung geschehen ist. Schliesslich ist es auch für die Öffentlichkeit wichtig. Auch sie hat ein Anrecht auf ein realistisches Bild der Dinge, die in der Kirche geschehen sind. Denn daraus kann man Schlüsse ziehen, über das, was auch in anderen Institutionen und in der Gesellschaft insgesamt zu tun ist. Missbrauch ist ja kein Problem das kirchenexklusiv ist.

Symbolbid: Missbrauchsopfer
Symbolbid: Missbrauchsopfer

Einige Stimmen in der Kirche sagen: Es wäre besser zu schweigen, weil das Sprechen über Missbrauch die Opfer retraumatisieren würde. Was sagen Sie dazu?

Zollner: Natürlich kann man eine Retraumatisierung nie ausschliessen. Aber das kann man auch bei einem Gerichtsverfahren, einer Anzeige oder einer Nachrichten-Meldung nicht. Über Missbrauch grundsätzlich zu schweigen, ist sicher keine Lösung. Aber zum Schutze der Opfer muss man darauf achten, dass Missbrauchsberichte immer von Massnahmen flankiert werden.

«Wir wissen ja mittlerweile, dass Berichterstattung über Missbrauchsfälle oft dazu führt, dass sich weitere Betroffene melden.»

Welche Massnahmen meinen Sie genau?

Zollner: Zum Beispiel, indem Medienschaffende Informationen aufschalten, an wen sich Betroffene wenden können. Wir wissen ja mittlerweile, dass Berichterstattung über Missbrauchsfälle oft dazu führt, dass sich weitere Betroffene melden. Daher ist es wichtig, dass die Angabe einer Meldestelle und auch von weiterführenden Begleitungsmöglichkeiten mit der Berichterstattung einhergeht. Betroffene können sich dann Hilfe holen, wenn sie das wollen.

V.l.: RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger, Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller, Medienverantwortlicher der Universität Zürich und die Projektleiterinnen Marietta Müller und Monika Dommann an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.
V.l.: RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger, Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller, Medienverantwortlicher der Universität Zürich und die Projektleiterinnen Marietta Müller und Monika Dommann an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.

In den letzten Monaten habe ich aus Kirchgemeinden immer wieder gehört: An der Basis läuft es eigentlich gut. Die Menschen würden vor allem den Bischöfen und kirchlichen Führungspersonen misstrauen und deshalb austreten. Woher kommt dieses Misstrauen gegen die Spitze?

Zollner: Ich denke, das ist eine natürliche Reaktion. Man hat der Kirche, also den Menschen, welche Kirche vertreten, lange ein hohes Ideal zugesprochen. Dieses Ideal wurde auch von den Vertreterinnen und Vertretern selbst propagiert. Wenn dann der Unterschied zwischen dem, was gepredigt und dem, was gelebt wird, zu gross ist, dann ist das natürlich eine Enttäuschung.

Ist es alleine diese Diskrepanz zwischen Wort und Tat?

Zollner: Nein, eigentlich ist das zu allgemein gesprochen. Für viele liegt der entscheidende Skandal im systematischen Nicht-Handeln, dem Verschweigen, Vertuschen und Leugnen des Missbrauchs durch die Kirchenoberen. Allerdings muss man an dieser Stelle auch sagen: Es ist zu einfach nur auf die Bischöfe und die kirchliche Obrigkeit zu zeigen. Das zeigt ja auch gerade die Schweizer Pilotstudie.

«Es ist tatsächlich ein systemisches Problem.»

Was genau meinen Sie?

Zollner: Die Studie der Universität Zürich hat deutlich gezeigt: Im dualen System haben auch Kirchgemeinden Priester weiter eingesetzt, obwohl sie von Missbrauchsvorwürfen wussten. Neben den Bischöfen ist also sicher auch die Laien-Verantwortung mit einzurechnen. Das wird gerne übersehen, wenn man nur auf die Bischöfe zeigt.

Bischöfe und Kardinäle in Rom.
Bischöfe und Kardinäle in Rom.

Sie legen den Finger in die Wunde. Viele haben gehofft, dass dank des dualen Systems hier alles weniger schlimm sei. Die Pilotstudie hat uns eines Besseren belehrt. Ist Missbrauch ein systemisches Problem der Kirche – sowohl der Laien als auch der Kleriker?

Zollner: Darüber reden wir ja seit einigen Jahren. Es ist tatsächlich ein systemisches Problem. Und damit ist es auch eine systemische Aufgabe, das Problem anzugehen und zu lösen.

Wie kann diese Lösung aussehen?

Zollner: Am Institut für Anthropologie an der Gregoriana versuchen wir daran zu arbeiten. Wir bilden Menschen aus, damit sie die Rechtsnormen kennen und umsetzen, die den Kinderschutz und die Bestrafung von Verbrechen betreffen. Ausserdem helfen wir unter anderem dabei, Sprachräume zu eröffnen, um dieses Thema überhaupt ansprechen zu können.

Zwei Madonnen in der Cafeteria der Gregoriana in Rom.
Zwei Madonnen in der Cafeteria der Gregoriana in Rom.

Was heisst das genau?

Zollner: Es gibt weltweit eine unglaubliche Scheu, auch nur über Sexualität zu reden, geschweige denn über sexuelles Fehlverhalten. Das gilt nochmals besonders für Autoritätsfiguren in der Kirche, die ja mit dem Heiligen identifiziert werden.

Das sind sicher ganz wichtige Schritte. Aber was können die Ortskirchen tun, die nicht auf die Priester warten können, die jetzt in Rom ausgebildet werden?

Zollner: Die Institutionen selbst – sowohl die Bistümer als auch Laienorganisationen – müssen bei der Auswahl der Personen genau hinschauen. Sie müssen transparent agieren und die Rechenschaftspflicht dort einfordern, wo sie oft verleugnet wird. Sie müssen also wissen, was sie zu tun haben. Und sie müssen hinschauen, wenn sie erfahren, dass jemand nicht das macht, was von ihm oder ihr gefordert wurde, um Missbrauch anzuzeigen oder zu verhindern.

Der Einsiedler Abt Urban Federer, St. Galler Bischof Markus Buechel und Basler Bischof Felix Gmuer, von links, im Gottesdienst im Rahmen der Bischofskonferenz in St. Gallen.
Der Einsiedler Abt Urban Federer, St. Galler Bischof Markus Buechel und Basler Bischof Felix Gmuer, von links, im Gottesdienst im Rahmen der Bischofskonferenz in St. Gallen.

Bedarf es einer Professionalisierung des kirchlichen Personalwesens?

Zollner: Ja, eine professionelle Führung. Aber vor allem: ein Mehr an Klarheit. Gerade in der Kirche ist häufig nur unklar definiert, wer wann für was zuständig ist. Hinter dieser Art von überlappenden Verantwortlichkeiten lässt es sich leicht verstecken, weil man sich für nicht zuständig erklären kann.

«Der Massnahmenkatalog ist ein wichtiger Schritt, der ganz eindeutig in die richtige Richtung geht.»

Nach Veröffentlichung der Pilotstudie haben die Verantwortlichen der SBK, der RKZ und der Ordensoberen einen Massnahmenkatalog vorgestellt. Was halten Sie davon?

Zollner: Der Massnahmenkatalog ist ein wichtiger Schritt, der ganz eindeutig in die richtige Richtung geht. Er zeigt, dass man gelernt hat. Aber es ist auch klar: Die Verantwortlichen müssen sich künftig an ihren Worten messen lassen. Die Verantwortungsträger müssen die Dinge jetzt auch umsetzen. Daran wird man die Kirche künftig messen.

Ein grosses Thema in der Schweiz ist die Einrichtung eines nationalen Kirchenstrafgerichtes. Es soll kein zahnloser Tiger wie in Frankreich sein, sondern eher dem deutschen Vorschlag ähneln. Dieser aber kommt seit Jahren in Rom nicht durch. Ist es realistisch, dass die Schweiz innerhalb eines Jahres vom Papst ein entsprechendes Partikularrecht erhält?

Zollner: Ich kann mich nicht dazu äussern, ob es realistisch ist. Aber ich denke, dass regionale Tribunale sinnvoll sind. Zum einen, weil man damit das völlig überlastete Dikasterium für die Glaubenslehre entlastet. Wenn es solch eine Regionalisierung gibt, muss allerdings sichergestellt werden, dass die entsprechende Unabhängigkeit gewährleistet ist. Dazu muss man entsprechende Mechanismen einbauen, die die Unabhängigkeit aller Verfahrensebenen von Anfang bis Ende gewährleisten.

Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen
Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen

Was wären solche Mechanismen, die es Ihrer Meinung nach unbedingt braucht?

Zollner: Weder die Person, welche die Untersuchung leitet, noch der Richter können aus der gleichen Diözese stammen, wie die beschuldigte Person. Das soll eine gewisse Distanz und damit auch möglichst viel Objektivität gewährleisten. Und ein solches Tribunal muss natürlich unabhängig von den Bischöfen agieren können.

Was müssen kirchliche Verantwortungsträger in Rom und den Ortskirchen tun, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?

Zollner: Vertrauen gewinnt man nicht, indem man sich an die Strassenecke stellt und ruft: «Ihr könnt mir wieder vertrauen. Ich habe gelernt und jetzt wird alles besser.» Vertrauen wächst nur, wenn Leute merken: Das Gesagte wird auch tatsächlich umgesetzt. Und das ist ein langwieriger Prozess.

«In relativ wenigen Jahren wurde das Vertrauen zerstört, das über Jahrhunderte gewachsen ist.»

Auf welche Zeiträume stellen Sie sich ein? Jahre oder Jahrzehnte?

Zollner: In relativ wenigen Jahren wurde das Vertrauen zerstört, das über Jahrhunderte gewachsen ist. Das lässt sich nicht in fünf oder zehn Jahren wiedergewinnen. Das ist ein mittel- und langfristiger Prozess, bei dem klar sein muss: Wir lassen uns an den Massnahmen messen, die wir jetzt vorgeben und umsetzen. Und wir müssen uns dabei einer objektiven, kritischen und externen Bewertung stellen. Wenn das alles über Jahre hinweg geschieht, dann wächst das Vertrauen wieder. Ansonsten wird das sehr schwierig.

*Der Jesuitenpater Hans Zollner SJ (57) ist Theologe, Psychologe und Psychotherapeut. Er leitet das römische «Institut für Anthropologie». Im März 2023 gab der Präventionsexperte bekannt, dass er die Päpstliche Kinderschutzkommission verlässt.


Hans Zollner, SJ | © zVg
6. Dezember 2023 | 17:15
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