Hannah A. Schulz ist im Bereich Prävention und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch tätig.
Schweiz

Hannah Schulz über Machtmissbrauch: «Ein Machtvakuum verleitet zu Manipulationen»

Macht ist im Grunde positiv, sofern sie klar ausgestattet ist und gut ausgeübt wird. Das sagt die promovierte Supervisorin und geistliche Begleiterin Hannah Schulz. Wenn nicht, kann es zu Missbrauch kommen. Ein erhöhtes Risiko für spirituellen Machtmissbrauch sieht sie in kirchlichen Leitungsämtern und seelsorgerlichen Beziehungen.

Regula Pfeifer

«Wir reden in der Kirche im Moment so viel über Machtmissbrauch. Da entsteht der Eindruck, Macht sei an sich schon etwas Schlechtes», sagt Hannah Schulz. Dabei sei sie positiv, solange sie nicht missbraucht werde. Hannah Schulz ist systemische Supervisorin, Therapeutin und Coach. Eine ihrer Spezialisierungen liegt im Bereich des spirituellen Missbrauchs. Sie berät Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen.

Für Opfer von Machtmissbrauch sei es essenziell, die erlernte Hilflosigkeit wieder hinter sich zu lassen und in eine gute Selbstwirksamkeit zu finden. Das würde ihnen helfen, ihre Menschenwürde wiederzuerlangen.

Weiterbildung geplant

Hannah Schulz hat im Januar im Bistum St. Gallen einen Studientag zum Thema Missbrauch von Macht und Autorität in kirchlichen Feldern durchgeführt. Darauf aufbauend wird eine Projektgruppe unter der Leitung von Dolores Waser Balmer und Franz Kreissl Schulungen für kirchliche Mitarbeitende entwickeln, schreibt Bistumssprecherin Isabella Awad an kath.ch.

Führungsperson als Vorbild...
Führungsperson als Vorbild...

Das Bistum St. Gallen plant eine Weiterbildung zum Thema Macht und Gleichstellung. Im Jahr 2025 sollen erst alle hauptamtlichen Mitarbeitenden dazu weitergebildet werden, später – in gekürzter Version – alle Angestellten und interessierten Freiwilligen.

Macht ist positiv, wenn…

Im Gespräch mit kath.ch beschreibt Hannah Schulz Macht als grundsätzlich positiv: «Es braucht Hierarchien, es braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen.» Doch damit diese konstruktiv mit Macht umgingen, seien vier Bedingungen Voraussetzung:

  • Die Person muss über Leitungskompetenzen verfügen.
  • Die Person muss den Willen haben, die Leitungsfunktion aktiv und konstruktiv auszuüben.
  • Der Umfang der Weisungsbefugnisse und deren Grenzen müssen deutlich sein und respektiert werden.
  • Die Ziele der Leitungsaufgabe müssen so klar wie möglich definiert sein.

Würden all diese Punkte gefördert, sei das gute Prävention gegen Machtmissbrauch, ist Schulz überzeugt. Seien diese Voraussetzungen hingegen nicht erfüllt, steige die Gefahr des Machtmissbrauchs. Die Supervisorin gibt ein Beispiel.

Problem: Leitung nicht ausüben

«Weil Macht im kirchlichen Umfeld oft als etwas Schlechtes gilt», sagt die Expertin, herrsche in manchen Gruppen die Meinung vor, dass alle immer alles gemeinsam entscheiden sollten. «Die Leitungsperson übt dann ihre Funktion nicht mehr aus. Es entsteht ein Machtvakuum, das meist durch manipulatives Verhalten gefüllt wird.»

Ein Priester und sein langer Schatten.
Ein Priester und sein langer Schatten.

Das geschehe durch die Leitungspersonen selber oder sogenannte graue Eminenzen im Hintergrund. Statt klare Ansagen zu machen und Konflikte auszutragen, werden Teams dann emotional und spirituell beeinflusst und unter Druck gesetzt.

Grenzüberschreitungen

Auch zu Kompetenz- und Grenzüberschreitungen kommt es laut Schulz häufig im kirchlichen Umfeld. Pastorale Verantwortliche hätten die Grenzen ihrer Zuständigkeit nicht immer im Blick. «Wenn sie es gewohnt sind, sich für alles verantwortlich zu fühlen, werden sie dazu tendieren ihre Zuständigkeiten zu überschreiten. Das gilt auch für Angelegenheiten, die sie an andere delegiert haben.» Sei etwa eine Katechetin für die Vorbereitung der Erstkommunion zuständig, könne sich der Priester nicht plötzlich einmischen und alles über den Haufen werfen.

Als typisch für die Kirche bezeichnet Schulz die Vermischung von Privatleben und Beruf. Doch Personen mit Leitungsfunktion dürften ihren Angestellten nicht ungebeten ins Privatleben dreinreden. «Das wäre grenzverletzendes, missbräuchliches Verhalten», betont die Beraterin.

Ziele unklar oder willkürlich geändert

Auch bei der Bestimmung der Ziele, auf die hingearbeitet werden sollte, gibt es laut der Expertin Stolpersteine. Entweder werde nicht auf die vereinbarten Ziele hingearbeitet, sie würden – mit Berufung auf Gottes Willen – plötzlich und willkürlich verändert.

Bei all diesen Aspekten geht es laut Schulz um den Missbrauch der Macht, die sich aus einer Leitungsfunktion ergibt. Hier werde objektive Macht missbraucht, die sich aus den Strukturen ergebe. «Mein Eindruck ist, dass es in Pfarreien eher ein Problem mit strukturellen Machtfragen gibt, weil Zuständigkeiten nicht klar definiert und respektiert werden», sagt Schulz. Daneben gebe es auch die subjektive persönliche Seite der Macht, «die man Autorität nennen kann».

Spirituelle Autorität ist erstmal gut

Neben dem spirituellen Machtmissbrauch gibt es in der Kirche auch den Missbrauch spiritueller Autorität. Auch Autorität an sich ist für die Expertin erst einmal etwas Gutes. Manche Menschen seien eine Inspiration für andere, man vertraue ihnen. Bei spiritueller Autorität betreffe das ihre spirituelle Ausstrahlung, ihr Gebetsleben oder ihre Predigten.

Josef Annen in der Kirche Peter und Paul, Zürich, April 2023
Josef Annen in der Kirche Peter und Paul, Zürich, April 2023

Problematisch werde es, wenn diese Autoritätspersonen ihre Position ausnutzten und die sie bewundernden Personen manipulierten und unterdrückten. «Wenn das mit theologischen, spirituellen, frommen Argumenten passiert, sprechen wir von spirituellem Missbrauch oder vom Missbrauch spiritueller Autorität.» Das passiere in Seelsorge-Beziehungen oder in geistlichen Gemeinschaften insbesondere, wenn die Autoritätspersonen narzisstische Tendenzen aufwiesen.

Jugendliche anfällig – weil auf der Suche nach Vorbildern

«Jugendliche sind für diese Form von Missbrauch besonders anfällig», findet Schulz, «weil sie sich für die Identitätsentwicklung Vorbilder suchen». Gleichzeitig könnten sie missbräuchliche Vorgehensweisen noch nicht so gut durchschauen und sich dagegen wehren. Manche kirchliche Vorbilder nutzten das für eigene Interessen aus.

Jugendliche schwenken die Südkorea-Fahne am Weltjugendtag im Tejo-Park in Lissabon (Portugal) am 5. August 2023.
Jugendliche schwenken die Südkorea-Fahne am Weltjugendtag im Tejo-Park in Lissabon (Portugal) am 5. August 2023.

Das passiere zum Beispiel, wenn ein Seelsorger die Jugendlichen seiner Pfarrei mit immer mehr Veranstaltungen und Aufgaben an die Kirche bindet, um ihr ganzes Leben auch privat beeinflussen zu können.

Missbräuchliche Systeme

Wenn strukturelle Macht und subjektive Autorität zusammenfallen und spirituell überfrachtet werden, entstehen missbräuchliche Systeme, erläutert die Expertin. Dies geschehe in Zweierbeziehungen und in Gemeinschaften. Dabei gilt, so Schulz: «Je grösser die Abhängigkeit, umso schmerzhafter die Konsequenzen des missbräuchlichen Verhaltens.»

Personen, die nur zum Gottesdienst kämen und sonst nicht weiter kirchlich gebunden seien, könnten sich übergriffigem Verhalten leichter entziehen – etwa indem sie einen anderen Gottesdienst aufsuchten.

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Ausserdem ermutigt Schulz, sich nicht alles vorschreiben zu lassen «und selber aktiv zu werden». Auch das sei eine Form der Selbstwirksamkeit. Man sei frei, allein und mit anderen im privaten Raum zu beten und über spirituelle Themen zu reden. Dafür brauche es keine Genehmigung der kirchlichen Hierarchie.


Hannah A. Schulz ist im Bereich Prävention und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch tätig. | © zVg
1. März 2024 | 17:04
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