Hannah A. Schulz ist im Bereich Prävention und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch tätig.
International

Hannah A. Schulz: «Neue Gemeinschaften sind anfällig für Übertreibungen und spirituellen Druck»

Neue Geistliche Gemeinschaften neigen offenbar besonders zu Fehlentwicklungen, unter denen die Mitglieder leiden. Die Schlagzeilen der vergangenen Monate lassen zumindest diesen Schluss zu. Hannah A. Schulz (61) kennt die Schwachstellen junger Gemeinschaften: «Je erfolgreicher die Neugründungen werden, um so grösser die Tendenz zum Grössenwahn», sagt sie. Die Expertin für spirituellen Missbrauch weiss auch, was Abhilfe schaffen könnte.

Barbara Ludwig

Sie setzen sich sehr stark für die Prävention und Aufarbeitung von spirituellem Missbrauch ein und haben im letzten Jahr dazu zwei Bücher herausgebracht. Was ist spiritueller Missbrauch?

Hannah A. Schulz*: Im Unterschied zu anderen Missbrauchsformen geht es dabei um den Missbrauch von geistlichem Leben und spiritueller Erfahrung. Menschen werden mit pseudo-theologischen Argumenten manipuliert, unterdrückt und ausgebeutet. Als Mittel kann alles eingesetzt werden, was mit Spiritualität und kirchlichem Leben zu tun hat: theologische Argumente, Gebetsformen oder Sakramente. Es gibt viele Berichte von geistlichem Missbrauch innerhalb der Beichte. Es geht aber auch um den Missbrauch geistlicher Autorität und kirchlicher Macht. Eine gewisse Beeinflussung untereinander ist normal. Aber wenn Manipulation systematisch wird und Geschädigte zurücklässt, sprechen wir von Missbrauch.

«Extreme Formen von geistlichem Missbrauch können tatsächlich zu einer Art Selbstverlust führen.»

Wie fühlt sich spiritueller Missbrauch an?

Schulz: Im Französischen gibt es den Begriff «emprise», den wir nicht eins zu eins ins Deutsche übersetzen können. «Emprise» bedeutet einerseits Beeinflussung, wird andererseits aber auch übersetzt mit gewaltsamer Inbesitznahme. Der Begriff wird auch umschrieben mit Fremdkontrolle, Selbstverlust, in einem Würgegriff sein. Extreme Formen von geistlichem Missbrauch können in letzter Konsequenz tatsächlich zu einer Art Selbstverlust führen. Das heisst, die Opfer werden zu Marionetten. Dieser Zustand ähnelt ein wenig einer lang andauernden hypnotischen Trance: Meist hat man den Eindruck, eigenständig zu handeln, und nur zwischendurch gibt es kurze, luzide Momente, in denen man merkt: Hier stimmt etwas nicht. Das ist jedoch die Extremform dessen, was ein sehr umfassender, über Jahre andauernder geistlicher Missbrauch bewirken kann.

Religiöse Unterweisung als Machtinstrument.
Religiöse Unterweisung als Machtinstrument.

In letzter Zeit bekam man den Eindruck, spiritueller und sexueller Missbrauch gehen Hand in Hand.

Schulz: Sexueller Missbrauch, der im kirchlichen Kontext geschieht, hat immer auch etwas mit geistlichem Missbrauch zu tun. Aus Frankreich gibt es Berichte, die belegen, dass die Anbahnung von sexuellem Missbrauch durch spirituelle Argumente ganz skurrile Formen annehmen kann. Ein Beispiel: In der 2019 ausgestrahlten Arte-Dokumentation «Gottes missbrauchte Dienerinnen» wird erzählt, dass ein Priester eine Frau zu sexuellen Handlungen verführt hat, indem er sagte: «Ich bin das kleine Werkzeug Jesu, um dir zu zeigen, wie sehr Er dich liebt.» Es gibt natürlichen auch spirituellen Missbrauch, ohne dass es zu sexuellen Übergriffen kommt.

«Charismatisch geprägte Gemeinschaften sind anfälliger für emotionale Manipulationen.»

Charismatische Gemeinschaften sorgen vermehrt für negative Schlagzeilen. Sind diese Gemeinschaften speziell anfällig für Fehlentwicklungen wie spirituellen Missbrauch?

Schulz: Charismatische Gemeinschaften bieten eine Spiritualität an, in der Nähe, Verbindlichkeit und Emotionen viel Platz einnehmen. Das ist Teil ihres Charismas und zunächst mal eine Bereicherung. Gleichzeitig kann das auch zu einer Schwäche werden, nämlich dann, wenn es zu Übertreibungen kommt und Druck ausgeübt wird. So sind eher charismatisch geprägte Gemeinschaften anfälliger für emotionale Manipulationen. Etwa wenn Lobpreis gemacht wird, damit alle sich besser fühlen. Da sollen durch eine Gebetsweise bestimmte Gefühle produziert werden. Das wird häufig noch durch theologische Aussagen untermauert.

«Es wird versucht, einen normalen Trauerprozess durch fromme Übungen zu unterbinden.»

Zum Beispiel?

Schulz: Wenn man jemandem, der um einen Verstorbenen trauert, sagt: «Du muss jetzt Gott loben, denn wir trauern nicht wie jene, die keine Hoffnung haben.» Das ist ein Zitat aus dem Ersten Brief an die Thessaloniker. Damit wird versucht, einen normalen Trauerprozess durch fromme Übungen zu unterbinden. Das ist eine Form von spirituell gefärbtem emotionalem Missbrauch. Man spricht da auch von Spiritualisierungen.

Szenenbild "Gottes missbrauchte Dienerinnen".
Szenenbild "Gottes missbrauchte Dienerinnen".

Welche Rolle spielen charismatische Persönlichkeiten bei spirituellem Missbrauch?

Schulz: Charismatische Persönlichkeiten können Menschen begeistern und grosse Gruppen anziehen. Sie können in Kirche und Gesellschaft viel bewegen. Auch dies ist zunächst ein Schatz. Problematisch wird es erst, wenn diese Leitungspersonen nicht bereit sind, sich in Frage stellen zu lassen und mit anderen zusammenzuarbeiten. Oft wollen sie ihre persönlichen Grenzen und Schwächen nicht sehen und verweigern sich jeglicher Kritik. Wenn ihnen niemand Grenzen aufzeigt, können solche Persönlichkeiten gefährlich werden. Je erfolgreicher die Neugründungen werden, um so grösser die Tendenz zum Grössenwahn. Dafür bietet das Christentum reichlich Futter. Schliesslich geht es um nicht weniger als das Heil der Menschen, die Erneuerung der Kirche, Erlösung, Lebenssinn und ewiges Leben.

Trifft man auf solche Persönlichkeiten öfters in neuen Gemeinschaften als in den klassischen Orden?

Schulz: In Neugründungen trifft man sie deshalb leichter, weil das die idealen Menschen sind, um Neugründungen voranzubringen. In der Organisationsentwicklung spricht man von der Pionierphase. Da braucht es charismatische Gründungspersönlichkeiten. Doch auf die Pionierphase muss eine Phase der Differenzierung folgen, in der Strukturen entstehen und Verantwortung delegiert wird. Das liegt charismatischen Persönlichkeiten überhaupt nicht, weil sie lieber allein herrschen wollen. Dies kennen wir auch aus den Gründungsphasen der klassischen Ordensgemeinschaften. Aber wegen der Überalterung sind die Probleme dort zumindest in Europa derzeit eher anders gelagert.

«In den Orden gibt es Strukturen, die vom Kirchenrecht vorgegeben sind und einen gewissen Schutz bieten sollen.»

Und wo kommt es häufiger zu spirituellem Missbrauch?

Schulz: Dazu gibt es, soweit ich weiss, noch keine Studien. Im August ist ein Buch von Barbara Haslbeck und Ute Leimgruber mit Erfahrungsberichten von Frauen erschienen, die geistlichen Missbrauch in Orden und neueren Gemeinschaften in Deutschland erlebt haben. Darin wird deutlich, dass es in den Orden Strukturen gibt, die vom Kirchenrecht vorgegeben sind und einen gewissen Schutz bieten sollen. Da, wo es in den Orden trotzdem zu massivem geistlichem Missbrauch gekommen ist, haben die vorhandenen Strukturen aber nicht funktioniert beziehungsweise sind von Personen in Leitungsämtern umgangen worden. Für die neueren Gemeinschaften hingegen bestand ein gewisses rechtliches Vakuum. Da ist in den letzten Jahren aber viel passiert. Das ist eine positive Frucht der Missbrauchskrise.

Ein Mann hält in einer dunklen Kirche ein Kruzifix.
Ein Mann hält in einer dunklen Kirche ein Kruzifix.

Welche Strukturen in klassischen Ordensgemeinschaften schützen denn vor spirituellem Missbrauch?

Schulz: Zuerst einmal sind das Statuten und Direktorien, die Rechtssicherheit schaffen. Ein entscheidendes Organ der Orden sind die Kapitel. In einem demokratischen oder synodalen Prozess wird dort die Leitung gewählt und es werden ihr für das nächste Mandat – meistens vier bis sechs Jahre – klare Aufgaben mitgegeben. Diese Rechtgrundlagen sind Bedingungen für Gehorsam: Was die Leitung entscheidet, muss den Statuten und Beschlüssen des General- und Provinzkapitels entsprechen. In vielen Orden sind zudem die Mandate zeitlich begrenzt. Leitungsmandate auf Lebenszeit werden immer seltener.

Ordensfrauen unterwegs.
Ordensfrauen unterwegs.

Vor einigen Jahren hat Rom entschieden, dass die Mandate auch bei den Neuen Geistlichen Gemeinschaften zeitlich begrenzt sein müssen. Das gilt ebenso für die Gründerinnen oder Gründer, die die Leitung nach einer bestimmten Zeit abgeben müssen. Auch die Anzahl der möglichen Wiederwahlen wurde begrenzt.

Gibt es weitere Kontrollmechanismen, die im Kirchenrecht festgelegt sind?

Schulz: Ja, zum Beispiel die freie Wahl von geistlicher Begleitung oder von Beichtpriestern. In den Gemeinschaften, in denen es zu schwerem geistlichem Missbrauch gekommen ist, wurden solche Dinge häufig vernachlässigt. In manchen Fällen wurden die Mitglieder entweder direkt auf einen bestimmten Beichtvater verpflichtet oder so manipuliert, dass alle angeblich freiwillig zum selben Priester gehen wollen, weil er als besonders heilig galt.

«Wenn ein solcher Hype entsteht, schaut man nicht mehr so genau hin.»

Warum wurden die Neuen Geistlichen Gemeinschaften von der Kirche über lange Zeit zu wenig begleitet?

Schulz: Dazu gibt es ein gutes Buch von Céline Hoyeau, in dem das für Frankreich untersucht wurde. Die Neuen Geistlichen Gemeinschaften, egal ob Laien- oder Ordensgemeinschaften, erschienen in einer Zeit akuter Krise, in der die Kirchen immer leerer wurden, als eine echte Alternative. Johannes Paul II. sah in ihnen sie sogar den Frühling der Kirche. Wenn ein solcher Hype entsteht, schaut man nicht mehr so genau hin. Man vertraut, dass alles gut ist und lässt sich von den hohen Mitgliedszahlen blenden. Heute sind wir aus dieser Naivität erwacht. Die neuen Gemeinschaften sind ein zusätzliches Angebot neben den Ortkirchen, aber eben nur eines unter anderen. Auf gar keinen Fall aber sind sie die Lösung aller Probleme der Kirche.

Was empfehlen Sie religiösen Gemeinschaften, um unguten Entwicklungen vorzubeugen?

Schulz: (schmunzelt) Das mag jetzt ganz fromm klingen: Demut, Demut, Demut. Auch Gemeinschaften durchlaufen Entwicklungsphasen und leiden unter Kinderkrankheiten. Jugendliche zum Beispiel zeichnet oft ein grosser Idealismus aus, gekoppelt mit einer gewisse Überheblichkeit. Sie wollen die Welt verändern und wissen, wie alles besser wäre. Ähnliches findet sich in christlichen Neugründungen. Mitglieder sind dann überzeugt, dass bei ihnen alles besser ist und sie der Welt zeigen werden, wie Glaubens- oder Gemeinschaftsleben richtig geht. Das ist ziemlich überheblich und macht sie anfällig für Übertreibungen und spirituellen Druck. Denn wer sich für besser hält, muss auch besser sein. In dieser Dynamik liegt eine grosse Gefährdung für geistlichen Missbrauch.

Wenn eine Gemeinschaft jüngeren Datums auf ihrer Webseite von sich sagt: Wir haben aus allen grossen spirituellen Schulen – Dominikaner, Benediktiner, Karmel, Jesuiten und Franziskaner – jeweils nur das Beste herausgenommen und es zu dem verbunden, was unsere Spiritualität ausmacht. Dann lese ich das und frage mich: Geht es vielleicht auch ein bisschen kleiner?

*Hannah A. Schulz (61) arbeitet seit 2016 in eigener Praxis in Bensberg bei Köln als systemische Supervisorin und Therapeutin. Sie promovierte an der Universität Oldenburg in Deutschland. Schulz ist ignatianische Exerzitienbegleiterin und regelmässig mit Vorträgen, Fortbildungen und Seminare unterwegs. Zu ihren thematischen Schwerpunkten gehören die Prävention und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch. Dazu arbeitet sie sowohl mit Einzelnen als auch mit Gruppen. Sie war 23 Jahre Mitglied einer Neuen Geistlichen Lebensgemeinschaft.

Literatur über spirituellen Missbrauch

Wagner Doris (2019): Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Herder Verlag.

Schulz Hannah A. (2022): Bei euch soll es nicht so sein – Missbrauch geistlicher Autorität. Reihe ignatianische Impulse Bd. 94. Echter Verlag.

Schulz Hannah A. (2022): Durch Nebel hindurch – aus ignatianischer Sicht geistlichen Missbrauch erkennen und überwinden. Echter Verlag.

Haslbeck, Barbara; Leimgruber, Ute; et. al. (Hg.) (2023): Selbstverlust und Gottentfremdung. Spiritueller Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche. Patmos.

Hoyeau, Céline (2023): Der Verrat der Seelenführer – Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Herder.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene ist hier zu finden.

Für eine unabhängige Beratung ist die «Opferhilfe Schweiz» zu empfehlen.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Hannah A. Schulz ist im Bereich Prävention und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch tätig. | © zVg
15. September 2023 | 13:00
Lesezeit: ca. 7 Min.
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