Kirche wird zur Tanzfläche.
Schweiz

Gott und Techno bewegen – Zürcher Wasserkirche wird zur Tanzfläche

Still sitzen, beten und singen gehören zu einem traditionellen Gottesdienst. Es geht aber auch anders, wie der interreligiöse Raver-Gottesdienst in der Zürcher Wasserkirche zeigt: Alte und Junge tanzen. Die katholische Theologin in der Albe wippt mit. Der reformierte Pfarrer mischt sich unters Publikum. Und der Imam rezitiert Sure 1 aus dem Koran – auf Arabisch.

Barbara Ludwig

Kurz vor elf Uhr vormittags sind am grossen Tag der Street Parade erst wenige Menschen in Zürich unterwegs. Am Limmatquai säumen Essstände das Trottoir. Bratwürste liegen schon auf dem Grill, es duftet nach exotischem Essen. Die Stadt ist bereit für den Ansturm. Zürich ist dieses Wochenende Treffpunkt für Hunderttausende Raverinnen und Raver.

Mitten drin ist die reformierte Wasserkirche, die am Samstag ihre Tore für den zweiten Raver-Gottesdienst in der Geschichte der Stadt geöffnet hat. Organisiert hat ihn der Freundeskreis Grossmünster. Den Wänden entlang gibt es einige Stühle, die bald einmal besetzt sind. Schnell ist klar, dass hier kein klassischer Gottesdienst stattfinden wird.

Annette und Frieder Harz wollen eine andere Art von Gottesdienst kennenlernen.
Annette und Frieder Harz wollen eine andere Art von Gottesdienst kennenlernen.

Neben der Kanzel hat das DJ-Duo «Forgotten Notes» ein kleines Mischpult aufgestellt. Was man zu hören bekomme, sei Melodic Techno, Techno-Musik also mit sehr viel Melodie und Emotionen, sagt einer der beiden Musiker zu kath.ch.

«Ich möchte Kirche mal anders denken und erleben.»

Frieder Harz, pensionierter Pfarrer

Annette Harz (53) und Frieder Harz (79) sind Touristen aus Bayern. Sie hätten per Zufall von dem Anlass erfahren und wollten mal eine andere Art von Gottesdienst kennenlernen, sagt Tochter Annette. Ihr Vater, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, sagt: «Ich erlebe so viele Gottesdienste für Senioren. Ich möchte Kirche mal anders denken und erleben.»

Federico (links) und sein Freund wollen an die Street Parade.
Federico (links) und sein Freund wollen an die Street Parade.

Federico weiss noch weniger, was ihn hier erwartet. Draussen habe ihm eine Frau einen Flyer gegeben mit einer Einladung zu dem Anlass, sagt der junge Mann auf Italienisch. Federico, ärmelloses T-Shirt und Tätowierungen am Oberarm, stammt aus der Nähe von Mailand und ist mit seinem Freund nach Zürich gereist – an die Street Parade natürlich.

Mehr Leben in die Kirche bringen

Daniel Inderwies (57) ist reformiert und Mitglied im Parlament der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Zürich. Der 57-Jährige trägt ein knallgrünes T-Shirt und einen dazu passenden Hut. Den Raver-Gottesdienst besuche er, weil ihm der Glaube sehr wichtig sei. Nach dem Gottesdienst will Inderwies den «Sound» der Street Parade geniessen und in der Menge mittanzen.

Daniel Inderwies wünscht sich mehr Leben in der Kirche.
Daniel Inderwies wünscht sich mehr Leben in der Kirche.

«Leider geht es in der Kirche oft verstaubt zu und her. Man sollte unbedingt mehr Leben in die Kirche bringen», meint der Mann. Nun sei er gespannt, ob man die Leute mit dem Raver-Gottesdienst begeistern könne.

Alt und jung am Raver-Gottesdienst in der Wasserkirche.
Alt und jung am Raver-Gottesdienst in der Wasserkirche.

«Bewege mich Gott von innen her»

Dies kann man – ganz offensichtlich. Die Wasserkirche hat sich nach und nach gefüllt. Rund 150 Personen sind es geschätzt, die den Kirchenraum unter dem spätgotischen Netzgewölbe bevölkern. Ältere Menschen, aber auch junge, in mehr oder weniger schrillen Kostümen. Die meisten müssen mitten drin stehen – ein Umstand, der die Beobachterpose erschwert. Und so lassen sich denn viele mitreissen von den Beats, die den Kirchenraum durchzucken. Wippen mit den Beinen mit oder schütteln gar den ganzen Körpern.

V.l.: Imam Kaser Alasaad, Pfarrer Christoph Sigrist und Veronika Jehle, katholische Theologin.
V.l.: Imam Kaser Alasaad, Pfarrer Christoph Sigrist und Veronika Jehle, katholische Theologin.

«Bewege mich Gott von innen her, inspiriere mich Gott in die Bewegung, raus aus dem Kopf, hinein ins Herz», betet Veronika Jehle. Sie ist katholische Theologin und hat den Gottesdienst gemeinsam mit Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster, gestaltet. Jehle steht vorne im Chorraum, neben Sigrist und dem Imam von Volketswil ZH, Kaser Alasaad. Und sie hat keine Hemmung, mit den Elektro-Rhythmen mitzugehen und in ihrer hellen Albe, die bis zum Boden reicht, sanft hin- und herzuwippen.

Koran-Rezitation der Sure 1

Christoph Sigrist trägt als reformierter Geistlicher den schwarzen Talar mit dem weissen Beffchen. Zur Freude des Publikums – auch der anwesenden Medienvertreter – stürzt er sich immer wieder mitten unter die Menschen in der Kirche.

Moment der Andacht im Raver-Gottesdienst.
Moment der Andacht im Raver-Gottesdienst.

Zwischen den musikalischen Sequenzen gibt es ruhigere Momente. Zum Beispiel, wenn Imam Kaser Alasaad Sure 1 aus dem Koran rezitiert. Es ist ein melodiöser Sprechgesang auf Arabisch, dem viele mit geschlossenen Augen lauschen. Auch andächtige Momente haben Platz in diesem ungewöhnlichen Gottesdienst. Das freut Christoph Sigrist besonders. «Mich hat berührt, dass die Sure 1 rezitiert worden ist und dass Ihr plötzlich ruhig geworden seid», sagt der Pfarrer.

«Ihr alle seid freiwillig in diesem Kirchenraum hier.»

Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster

Er wünsche sich, dass das, was man hier in der Wasserkirche erlebe, normal werde. Ihm sei egal, ob die Menschen katholisch, reformiert, Agnostiker oder Atheisten seien, so Sigrist. «Mir ist gleich, ob ihr Kirchensteuer zahlt oder nicht. Ihr alle seid freiwillig in diesem Kirchenraum hier.» Die Aussage wird mit lautem Applaus und Jubel quittiert.

Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist im Gespräch mit einem Raver.
Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist im Gespräch mit einem Raver.

Der Pfarrer fordert die Anwesenden auf, gemeinsam das Vaterunser zu beten – nachdem er erklärt hat, dass die rezitierte Koransure inhaltlich dem wichtigsten Gebet der Christenheit entspreche. Es klappt tatsächlich: Die meisten Menschen beten laut und deutlich mit.

Zum Schluss der Feier drehen die Musiker nochmals voll auf – und die Wasserkirche wird vollends zur Tanzfläche. Auch eine Gruppe junger Raverinnen und Raver – verkleidet als römische Legionäre – hat sich unters Volk gemischt. Die Street Parade kann losgehen.


Kirche wird zur Tanzfläche. | © Barbara Ludwig
13. August 2023 | 10:00
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