"Brecht ist für mich ein sehr wichtiger Autor", sagt die Autorin des Stücks, Gornaya
Schweiz

Gornaya: «Die Institution Kirche finde ich hoch problematisch»

Die Autorin Gabriele Gornaya stellt die Menschen ins Zentrum, welche die Gesellschaft übersieht. Mit der Institution Kirche hadert sie. Ebenso mit einem Zeitgeist, der das «reelle Leiden» der Menschen aus den Augen verliert und sich auf «individuelle Wahrheiten und Bubbles» fokussiert.

Annalena Müller

In «Der vergessene Prozess» und in ihrer Adaption von «Maria Stuart» spielen Religionsfragen eine wichtige Rolle: Judentum, Katholizismus und Protestantismus. Welche Bedeutung hat Religion für Sie persönlich?

Gabriele Gornaya*: Dass Religion in den beiden Stücken so zentral ist, ist Zufall. «Maria Stuart» ist ein Gemeinschaftsprojekt mit Milva Stark, einer sehr etablierten und erfolgreichen Schauspielerin. Das Stück fasziniert uns seit unserer Jugend: Schillers Sprachkraft und dieser unglaubliche Elisabethmonolog!

Friedrich Schiller
Friedrich Schiller

Persönlich beschäftigen mich religiöse Fragen auch. Ich glaube, dass es jenseits der materiellen Welt etwas gibt. Aber ich denke nicht, dass wir Menschen es erkennen können.

Religion ist auch Projektionsfläche. In «Der vergessene Prozess» geht es um Antisemitismus, in «Maria Stuart» um politische Macht, beansprucht von einer katholischen und einer protestantischen Königin. Ist das etwas, das Sie beschäftigt?

Gornaya: Absolut. In meinen Stücken stehen immer gesellschaftspolitische Fragen im Zentrum. Zur Zeit von Elisabeth Tudor und Maria Stuart…

… im 16. Jahrhundert…

Gornaya: … waren Religion und Kirche natürlich mit die wichtigsten Machtfaktoren. Ich habe zu dem Thema ein ambivalentes Verhältnis. Ich sehe, wie institutionelle Religionen ihre Macht missbrauchen. Ich halte es mit Brecht und seinem «Galilei».

«Das Brimborium beiseite lassen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen.»

Die Aufforderung, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, selbst nachzudenken und die systematische Ungerechtigkeit zu durchschauen. Also, das Brimborium beiseite lassen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen, das ist für mich ein zentraler Gedanke.

Nach dem Motto: habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen?

Gornaya: Genau, die Aufklärung ist für mich zentral. Ich sehe, dass Religion eine wichtige Rolle spielt und das darf sie auch. Aber die Institution Kirche? Die finde ich hochproblematisch, weil es eben sehr oft um Macht geht. Das habe ich auch persönlich immer wieder erlebt.

Inwiefern?

Gornaya: Meine Tochter war nicht im Religionsunterricht, weil der in der Primarschule samstags stattfand. Ich war alleinerziehend und der Samstag war der einzige freie Tag, den wir gemeinsam hatten. Und den wollte ich mit meiner Tochter verbringen. Sie hatte später den Wunsch, konfirmiert zu werden. Und als ich in der Kirchgemeinde anrief, sagte man mir, dass das nicht ginge.

«Es schien mehr um Kontrolle zu gehen und um die Macht zu entscheiden, wer dazugehört und wer nicht.»

Ohne Religionsunterricht in der Schule, keine Konfirmation. Das hat für mich viel gezeigt. Anstelle froh zu sein, dass sich ein junger Mensch interessiert, hat man sich auf Formalistisches berufen. Es schien mir da mehr um Kontrolle zu gehen und die Macht zu entscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Ich fand es sehr bezeichnend.

Um Kontrolle geht es ja auch in «Der vergessene Prozess». Nämlich um die Frage, wie man ein aus der Kontrolle geratenes Narrativ wieder einfangen kann. Was wünschen Sie sich, dass die Besuchenden aus dem Stück mitnehmen?

Gornaya: Die gleiche Frage hat mir letzte Woche eine Gruppe Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gestellt, die das Stück gesehen haben. Ich habe ihnen geantwortet, dass die, die Aufklärung brauchen, leider selten ins Theater gehen. Und dass vor allem die gehen, die sowieso schon aufgeklärt und kritisch sind.

"Der vergessene Prozess" im Theater an der Effingerstrasse
"Der vergessene Prozess" im Theater an der Effingerstrasse

Aber ich wünsche mir trotzdem, dass «Der vergessene Prozess» zum Nachdenken anregt, über die Situation, in der wir uns heute befinden. Alle leben in ihren Bubbles, in ihren eigenen Wirklichkeiten. Eine wichtige Frage ist, wie wir damit als Gesellschaft umgehen wollen, wie wir uns in der Demokratie verständigen. Wie finden wie einen gemeinsamen Nenner, und sei er auch noch so klein, um zu sagen: «Ja, in dieser Realität befinden wir uns. Und für diese Realität müssen wir Lösungen suchen.» Und ich denke, das ist ein der ganz grossen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Welchen Quellen kann man im Zeitalter von KI und Fake News noch glauben?

Was ist Ihr wichtigstes Stück – an welchem hängen Sie am meisten?

Gornaya: Ich hänge an allen. Gerade arbeite ich an einem Stück über die Unsichtbarkeit von älteren Frauen. Es sind die gesellschaftspolitischen Themen, die mich faszinieren.

«Ich interessiere mich für die Menschen, die in unserer Gesellschaft untergehen.»

Im Grunde genommen interessiere ich mich für die Menschen, die in unserer Gesellschaft untergehen. Unsere Gesellschaft ist voller selbstbewusster Menschen. Siegertypen, die sich durch nichts aufhalten lassen, werden verehrt. Menschen, die keine Stimme haben, ins Zentrum zu stellen, ist eine Perspektive, die mir sehr viel bedeutet. Ein anderes wichtiges Thema meiner Arbeit ist die Frage nach den Wirklichkeiten.

Was meinen Sie damit?

Gornaya: In unserer Gesellschaft gibt es so viele Wirklichkeiten, dass man schon fragen kann: Gibt es überhaupt noch eine Wahrheit? Oder ist alles eine Frage der Perspektive? Und dann sage ich: Das Leiden ist reell. Und die Frage danach, ob es eine Wahrheit gibt, können nur jene stellen, die nicht leiden. Solche, die Geld haben, die alle Optionen haben. Aber jemand, der übers Meer flüchten muss in einem Boot, das vielleicht untergeht, der wird sich nicht die Frage stellen: «Gibt es eine Wahrheit?». Der hat den Luxus nicht.

Sie sind also mehr Team Papst Franziskus und weniger Team abstrakte Theologie?

Gornaya: (lacht) Bin ich das? Es geht nicht darum, das Leiden zu verherrlichen. Aber in postmodernen und postfaktischen Debatten, im philosophischen Gedankenspiel, besteht das Risiko, dass das reelle Leid bis zur Unkenntlichkeit relativiert, wenn nicht sogar negiert wird. Ich sehe es als meine Aufgabe als Autorin an, jenen eine Stimme zu geben, deren Stimme nicht gehört, unterdrückt oder verfälscht wird.

*Gabriele Gornaya (58), deren künstlerische Wurzeln in Riga liegen, ist in der Nähe von Basel aufgewachsen. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin lebt sei 2004 in Bern und Wien. In der Spielzeit 2016/17 war sie Hausautorin am Konzert Theater Bern. Aktuell arbeitet sie an zwei Theater-Projekten. 

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«Der vergessene Prozess»

Uraufführung

Bis zum 20. April täglich

Theater an der Effingerstrasse

Zum Spielplan und Ticketreservierung geht es hier.

«Elizabeth – I’M NOT A BITCH!»

Feministische Adaption von Schillers «Maria Stuart» von Gornaya / Milva Stark.

Premiere 29. November 2024 im Schlachthaus Theater Bern


«Brecht ist für mich ein sehr wichtiger Autor», sagt die Autorin des Stücks, Gornaya | © Annalena Müller
12. April 2024 | 12:00
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