International

Georg Bier: «Nicht pflichtgemäss agierende Bischöfe können des Amtes enthoben werden»

Georg Bier ist Professor für Kirchenrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Im Interview erklärt er die «Meldepflicht» und unter welchen Bedingungen ein Bischof seines Amtes enthoben werden kann. Gläubige könnten zwar den Rücktritt eines Bischofs fordern, aber kirchenrechtlich stehen ihnen keine Mittel zur Verfügung, diesen durchzusetzen.

Annalena Müller

Seit 2001 sind Bischöfe kirchenrechtlich verpflichtet, sexuelle Vergehen durch Kleriker an Minderjährigen an das Dikasterium für die Glaubenslehre mitzuteilen. Was heisst das konkret?

Georg Bier*: Das heisst erst mal nur, dass ein solcher Vorfall mitgeteilt werden muss. Der Hintergrund ist folgender. Bereits vor 2001 hatten Bischöfe die Pflicht, entsprechende Vergehen kirchenstrafrechtlich zu verfolgen. Wie wir aber alle mittlerweile wissen, hat das nicht funktioniert. Bischöfe haben vertuscht und nur selten etwas unternommen. Vor diesem Hintergrund wurde 2001 festgelegt, dass sexuelle Vergehen an Minderjährigen immer dem Dikasterium für die Glaubenslehre zu melden sind.

Hat Rom als Konsequenz aus dem Nichthandeln der Bischöfe das Szepter übernehmen wollen?

Bier: Nein, es war nicht vorgesehen, dass der Apostolische Stuhl nun sämtliche Verfahren selbst führt. Seit 2001 hat der Bischof lediglich eine Meldepflicht. In Verbindung damit behält sich die zuständige kuriale Behörde die Entscheidung vor, ob sie selbst ein kirchenrechtliches Strafverfahren durchführt oder ob sie den Bischof damit beauftragt, dies zu tun. Es ging 2001 vor allem darum, sicherzustellen, dass die kirchenrechtlich immer schon bestehenden Anforderungen an die Verfolgung solche Straftaten eingehalten wurden.

Seit 2001 gilt: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen ausnahmslos nach Rom gemeldet werden.
Seit 2001 gilt: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen ausnahmslos nach Rom gemeldet werden.

In der Kirche sind an solchen Untersuchungen und Prozessen nur Kleriker beteiligt, da nur Kleriker über Kleriker richten können. Ist das ein Systemfehler?

Bier: Diese Praxis kann man berechtigterweise hinterfragen, besonders in Anbetracht der Missbrauchskrise. Die hinter dieser Praxis stehende Corps-Mentalität war und ist sicher mitunter immer noch ein Problem. Zumal das Kirchenrecht jeglichen Missbrauch bis vor kurzem zunächst einmal als Verstoss gegen das Zölibatsgebot behandelte. Lange ging es überhaupt nicht um die Opfer, oder um das, was ihnen zugefügt wurde. Die kirchenrechtliche Perspektive war die eines Verstosses gegen priesterliche Standespflichten.

Ist es nicht eigentlich viel naheliegender? Ich muss keine Kirchenrechtsexpertin sein, um zu verstehen, dass Priester genauso wenig über Priester richten sollten, wie Polizisten über Polizisten, oder Professoren über Professoren

Bier: Ja, das ist sicher problematisch. Zumal im Falle von Bischöfen und ihren Diözesanpriestern noch hinzukommt, dass sie sich meist auch persönlich kennen. Vielleicht hat man zusammen studiert oder sich in anderen Kontexten kennengelernt. Auch wohl deshalb hat das Dikasterium für die Glaubenslehre inzwischen bestimmt, dass für Personen, die mit kanonischen Verfahren betraut werden, vom Erfordernis der Priesterweihe abgesehen werden kann.

Dass also in Ausnahmefällen auch nicht-geweihte Kirchenrechtler und Kirchenrechtlerinnen ermitteln und urteilen können?

Bier: Genau. Dies wird in Einzelfällen auch praktiziert, jedenfalls in Deutschland. Wie das in der Schweiz gehandhabt wird, weiss ich allerdings nicht.

«Nicht pflichtgemäss agierende Bischöfe können des Amtes enthoben werden.»

Wenn offenkundig wird, dass ein Bischof von Missbrauchsfällen wusste und dies aber nicht vorschriftsmäßig nach Rom gemeldet hat, kann er dann zur Verantwortung gezogen werden?

Bier: Es gibt hierzu das Motu proprio «Vos estis» von Papst Franziskus aus dem Jahr 2019, das seit 2023 in geringfügig modifizierter Form in Kraft ist. Das ist ein kirchlicher Gesetzestext. Nach diesem Gesetz sind Handlungen oder Unterlassungen, die darauf gerichtet sind, kirchenrechtliche Untersuchungen, Straftaten, Delikte zu verhindern oder zu beeinflussen oder zu vertuschen, eine Pflichtverletzung.

Pflichtverletzung klingt jetzt nicht sonderlich schlimm, oder?

Bier: Eine Pflichtverletzung durch den Bischof ist ihrerseits wieder meldepflichtig. Und schon 2016 hat Papst Franziskus durch ein anderes Motu Proprio, «Come una madre amorevole», die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Bischöfe, die sich im Umgang mit sexualisierter Gewalt oder beim Schutz von Opfern unangemessen verhalten, ihres Amtes enthoben werden können. Theoretisch besteht also seit 2016 die Möglichkeiten, dass nicht pflichtgemäss agierende Bischöfe des Amtes enthoben werden können. Und dass ein Verstoss gegen die Meldepflicht eine Pflichtverletzung darstellt, hat Papst Franziskus 2019 klargestellt und 2023 nochmals bekräftigt.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Das klingt nach viel kirchenrechtlicher Theorie. Sind Ihnen denn Fälle bekannt, in denen ein Bischof abgesetzt wurde?

Bier: Das wird man in der Regel eher nicht erfahren. Ich gehe davon aus, dass der Papst in einem solchen Fall dem Bischof einen Amtsverzicht nahelegen und diesen dann annehmen würde. Derart würde der Papst dem Bischof die Möglichkeit eines gesichtswahrenden Ausscheidens geben. Es gibt sicher einige Fälle, in denen man darüber spekulieren kann, dass es so lief. Es gab in Chile vor ungefähr zehn Jahren eine Reihe von Bischofsrücktritten, da wurde der Zusammenhang zum bischöflichen Fehlverhalten im Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt auch recht deutlich kommuniziert. Aber meist bleiben die Gründe für die Annahme eines Amtsverzichts – soweit er nicht regulär aus Altersgründen angeboten wurde – ein Stück weit spekulativ.

Bleiben wir noch einen Moment bei der «Blackbox» in Sachen der Bischofsrücktritte. Laut Canon 187 und 189 kann ein Kleriker sein Amt niederlegen. Gleichzeitig sehen wir in Europa, dass Bischöfe ihren Rücktritt zwar Rom «anbieten» und, wenn keine Antwort kommt, bleiben sie weiter im Amt. Dabei könnten sie, wenn sie es ernst meinten, ihr Amt einfach niederlegen oder?

Bier: Ein Bischof kann, wie jeder andere Kleriker, auf sein Amt verzichten. Damit der Verzicht gültig ist, bedarf es aber einer Annahme des Rücktritts durch die Autorität, die das Amt verliehen hat. Im Falle eines Bischofsrücktritts ist die Autorität der Papst. Solange der Papst diesen Verzicht nicht angenommen hat, bleibt der entsprechende Bischof von Rechts wegen weiter im Amt.

«Im Kirchenrecht ist nicht vorgesehen, dass Nicht-Geweihte sich zu Richtern über Geweihte aufschwingen.»

Was könnte der Papst machen, wenn ein Bischof sagen würde: «Nein, ich mache das jetzt nicht mehr!»?

Bier: Der Papst würde wohl früher oder später einen Nachfolger ernennen müssen. Selbst der Pontifex kann keinen Bischof zwingen, sein Amt weiter auszuüben. Er könnte an die Pflicht des Bischofs zum Gehorsam appellieren. Aber wenn ein Bischof einfach nicht mehr weitermacht, liesse sich dagegen schwerlich etwas ausrichten. Allerdings ist der Gehorsam so tief in die DNA eines Bischofs eingeschrieben, dass ein solcher Akt des Ungehorsams wenig wahrscheinlich erscheint.

Die kirchliche Realität sieht ja auch anders aus. Der Kölner Erzbischof Woelki ist dafür ein Paradebeispiel. Auf massiven Druck der Öffentlichkeit hat er Papst Franziskus im März 2022 seinen Rücktritt angeboten. Die Antwort aus Rom lässt bis heute auf sich warten – was ist hier los? Meint der Papst es überhaupt ernst mit der Verantwortungsübernahme?

Bier: Das möchte ich auch gerne wissen, warum da bis heute keine Antwort eingegangen ist. Und ich kann es auch wirklich nicht verstehen. Und die Rückschlüsse, die das römische Schweigen nahelegt, sind für die Kirche und für die kirchliche Führung nicht günstig. Denn ja, eigentlich würde man erwarten, dass es – auch im Hinblick auf die entstandene Unruhe – zu einer Entscheidung kommt. Auch und besonders vor dem Hintergrund des Motu Proprio von 2016, von dem ich eben gesprochen habe.

Papst Franziskus
Papst Franziskus

Unter welchen Voraussetzungen wäre es Ihrer Meinung nach legitim, dass Gläubige den Rücktritt eines Bischofs fordern?

Bier:  Das ist eine schwierige Frage. Schlicht weil so etwas im kirchlichen Raum nicht vorgesehen ist.

Dass Gläubige Forderungen stellen?

Bier: Beziehungsweise, dass Nicht-Geweihte sich zu Richtern über Geweihte aufschwingen. Das ist im Kirchenrecht nicht vorgesehen. Gleichwohl werden Forderungen nach Bischofsrücktritten natürlich erhoben. Und ja, sie sind sicher dann legitim, wenn ein Bischof sich im Umgang mit sexualisierter Gewalt offenkundig unangemessen verhalten hat. In einem solchen Fall kommt ja, wie vorhin gesagt, kirchenrechtlich sogar eine Amtsenthebung in Betracht.

«Katholikinnen und Katholiken können lediglich auf Missstände hinweisen.»

Machen wir es anhand eines Gedankenspiels konkret: Ein Bischof einer Schweizer Diözese hat sich im Umgang mit sexueller Gewalt unangemessen verhalten, so dass die Gegebenheiten des zitierten Motu Proprio von 2016 gegeben sind. Einen Metropoliten gibt es für die Schweiz nicht, es wäre also direkt der Papst zuständig. Könnten Vertreter und Vertreterinnen aus betroffenen Pfarreien sich mit einer Klageschrift direkt an Rom wenden?

Bier: Nein, eben nicht. Es handelt sich ja nicht um ein Verfahren in dem Sinne, dass jemand auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen eine Klage erhebt. Das Motu proprio von 2016 sollte vor allem den Bischöfen signalisieren: Der Apostolische Stuhl kann euch eures Amtes entheben. Aber es gibt im Kirchenrecht für diesen Fall nicht die Möglichkeit eines Verfahrens, in dem ein öffentlicher Kläger oder eine Klägerin auftritt und etwas fordert. Es gibt nur den Weg der Meldungen nach Rom. Dann schaut sich das Dikasterium für die Glaubenslehre den Fall an. Das geschieht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Entscheidung trifft auch das Dikasterium – auch hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Es gibt in der Kirche keine Möglichkeit, von unten eine Rechtsprechung zu erzwingen?

Bier: Nein. In der Kirche kann in solchen Fällen Rechtsprechung nur aus einer Richtung initiiert werden: von oben nach unten. Katholikinnen und Katholiken können lediglich auf Missstände hinweisen. Das geschieht ja derzeit im Erzbistum Köln, wo die Gläubigen klar sagen, dass sie diesen Erzbischof nicht mehr für tragfähig halten. Aber das sind keine Forderungen im Sinne eines rechtlichen Anspruchs. Aus Sicht des Kirchenrechts ist das nur ein Ausdruck der Auffassung der Gläubigen. Ohne zwingende Konsequenzen.

*Georg Bier (64) ist römisch-katholischer Theologe und Kirchenrechtler. Er lehrt an der Universität Freiburg im Breisgau.


6. September 2023 | 17:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!