Eine Päpstin? Frauengestalt mit frühmittelalterlicher Papstkrone und Petersschlüssel im Petersdom in Rom
Porträt

Gab es doch eine Päpstin? Grafologin Marguerite Spycher hat neue Indizien entdeckt

Auch wenn stichhaltige Beweise fehlen, hält sich der Mythos einer Päpstin nachhaltig: Die Schweizer Grafologin Marguerite Spycher ist auf zwei Silbermünzen aus dem 9. Jahrhundert gestossen, welche die Gerüchte neu anfachen. Ihre Recherche beschreibt sie im Buch «Ein Papst zuviel».

Eva Meienberg

Der Bestseller "Die Päpstin" von Donna W. Cross
Der Bestseller "Die Päpstin" von Donna W. Cross
Die Legende kennen viele: Im 9. Jahrhundert gab es eine Päpstin. In der Version der amerikanischen Schriftstellerin Donna W. Cross wurde die Geschichte zum internationalen Bestseller. Der historische Roman aus dem Jahr 1996 erzählt die Geschichte Johannas, die im 9. Jahrhundert in Ingelheim am Rhein aufwuchs.

Frau wird Ordensbruder, später Papst

Im Roman wird das intelligente Mädchen zunächst von einem Gelehrten aus Byzanz unterrichtet. Später gelangt sie an die Domschule in Dorstadt. Von dort zieht sie, getarnt als Ordensbruder Johannes Anglicus, ins Kloster Fulda.

Johannes Anglicus entwickelt sich zu einem begnadeten Mediziner. Sie wird Leibarzt des Papstes. Später wird Johannes Anglicus sogar selbst zum Papst gewählt. Die Täuschung fällt erst während einer Prozession in der Via Sacra in Rom auf. Johannes, hochschwanger, gebiert auf offener Strasse. Als die Menge erkennt, dass ihr Papst eine Frau ist, steinigte sie die Gebärende.

Im Buch "Papstgeschichte" von Bartolomeo Platina, Ausgabe 1630, ist eine Päpstin erwähnt.
Im Buch "Papstgeschichte" von Bartolomeo Platina, Ausgabe 1630, ist eine Päpstin erwähnt.

«Diese Geschichte gehört ins Reich der Fantasie»

Marguerite Spycher

«Diese Geschichte gehört ins Reich der Fantasie», sagt Marguerite Spycher. Für diese Version hat sie nichts übrig. Ein süffiger Plot für Bestseller, Filme, Theaterstücke und, in jüngster Zeit, sogar für ein Musical. Eine Geschichte mit Ventilwirkung, um sich über Kirche und Klerus lustig zu machen.

Rund 500 Versionen der Geschichte Johannas gebe es, sagt Spycher. Vor einem Jahr hat sie ein Buch über ihre Forschung zur Päpstin veröffentlicht: «Ein Papst zuviel». Nicht mit einer weiteren Version der Geschichte, sondern mit drei Thesen zur Existenz einer historischen Johanna. Mit detektivischer Neugier ist sie dem Rätsel um den weiblichen Papst auf der Spur.

Expertin für Handschriften

Im Winter 2018 bekam Marguerite Spycher eine Mail mit einer ungewöhnlichen Anfrage. Ein Archäologe wollte wissen: «Lassen sich aus Monogrammen von Königen und Kirchenleuten auf Dokumenten aus dem Mittelalter Aussagen zu Charakter und Wesensart ableiten?»

Päpstin Johanna – dargestellt auf einem Kupferstich
Päpstin Johanna – dargestellt auf einem Kupferstich

Als Grafologin begutachtet Spycher normalerweise Handschriften lebender Menschen. Personalverantwortliche greifen bei Anstellungen auf ihre Expertise zurück. Seit dreissig Jahren erstellt sie Gutachten. Mittelalterliche Monogramme hat sie bisher noch nie untersucht. Probeweise wollte sie es versuchen.

Hinweise auf Münzen

Marguerite Spycher
Marguerite Spycher
«Wenn mich etwas packt, dann bleibe ich dran», sagt Spycher. Die Autorin hat ihre berufliche Laufbahn als Realschullehrerin begonnen. Später wurde sie Dozentin für französische Fachdidaktik am Lehrerseminar und der pädagogischen Hochschule in Zürich. Als Hörerin an der Universität und am C.-G. Jung-Institut belegte sie Psychologie, Geschichte, Literatur. Sie besuchte Vorlesungen und Seminare, schrieb Arbeiten und hielt Referate. Zudem liess sie sich zur Grafologin mit Diplomabschluss ausbilden.

Die zu untersuchenden Monogramme befinden sich auf mittelalterlichen Münzen. Konkret: Silberdenare aus dem neunten Jahrhundert. Diese wurden gemeinsam von Papst und Kaiser herausgegeben.

Auf der einen Seite der Münze ist das Monogramm des Papstes geprägt, auf der anderen das des Kaisers. Sie waren rechtsverbindlich und mussten daher unverwechselbar sein. Das Besondere an den untersuchten Monogrammen: zwei von ihnen sind fast identisch. Aber eben nur fast.

Auf der Spur zweier Johannes

Spycher kam zum Schluss, dass die beiden Münzen mit der Aufschrift Johannes nicht der gleichen Person zugeordnet werden können. Sie hielt es für möglich, dass es zwei Päpste mit Namen Johannes gegeben hat. Mit dieser Meinung stellt sie sich gegen die Ansicht vieler Historikerinnen und Historiker.

Spycher vermutet: Diese Münze mit Papst Johannes auf der einen Seite und Kaiser Ludwig auf der anderen könnte von Päpstin Johanna sein.
Spycher vermutet: Diese Münze mit Papst Johannes auf der einen Seite und Kaiser Ludwig auf der anderen könnte von Päpstin Johanna sein.

Sie steht mit ihrer Vermutung aber nicht alleine da. Ihre Zeitzeugen sind die Silbermünzen. Und verschiedene schriftliche Quellen stützen ihre Annahme.

Spycher hatte Lunte gerochen und wollte der Sache auf den Grund gehen. Ihre Recherche begann in der Zürcher Zentralbibliothek. Und sie führte sie bald in die virtuellen Bibliotheken von Paris, Rom, München, Heidelberg und Berlin. Die Quellen sind nämlich so alt, dass sie zum Schutz der Archivalien längst digitalisiert worden sind. Als im März 2020 der Lockdown verhängt wurde, konzentrierte sich Spycher ganz auf ihre Recherche.

Spycher zieht Leserinnen und Leser in ihren Bann

Die Didaktikerin lässt ihre Leserinnen und Leser an ihrer spannenden Recherche teilhaben. Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel geht sie mit ihnen den Forschungsweg. Die Autorin erklärt ihre Methode und lässt an ihren Entdeckungen teilhaben.

Im Rahmen ihrer Forschung las Spycher das Werk der deutschen Theologin Elisabeth Gössmann. Die Pionierin der historisch-theologischen Frauenforschung veröffentlichte 1994 ein Buch zur Rezeptionsgeschichte der Päpstin Johanna. Darin geht es um eine kritische Beurteilung und Neudeutung der Quellen. Nach dieser Lektüre gab es für Spycher kein Zurück.

Viele Ungereimtheiten

«Je länger und intensiver ich mich mit der Frage nach einem möglichen historischen Hintergrund eines weiblichen Papstes befasste, umso mehr Ungereimtheiten traten bei meiner Recherche zutage», schreibt Spycher.

"Wenn ich gross bin, werde ich Päpstin". Drei Frauen demonstrieren in Frankfurt, am 4. September 2020
"Wenn ich gross bin, werde ich Päpstin". Drei Frauen demonstrieren in Frankfurt, am 4. September 2020

Was treibt die Autorin an? Steht sie auf Kriegsfuss mit der katholischen Kirche? «Nein, Religiosität gehört zum Menschsein», sagt Spycher. Religion sei eine menschliche Grundkonstante, gebe Orientierung und organisiere das gesellschaftliche Zusammenleben. Gegen Religion habe sie nichts, solange eine einzelne Sichtweise nicht verabsolutiert werde.

Frauen werden nicht ernstgenommen

Die Autorin sieht sich nicht als Feministin, noch weniger als Revoluzzerin. Wie viele Frauen habe auch sie in ihrem Leben immer wieder die Erfahrung gemacht, als Frau nicht ernst genommen zu werden. In ihrem Buch aber ginge es ihr um etwas Grundsätzlicheres: Um den Umgang mit historischen Begebenheiten, und die Auswirkungen auf die Gesellschaft, etwa bezüglich der Rolle der Frau.

«Wir sind in einer Tradition, die das antike Wissen und seine Rezeption in der Renaissance überhöht», sagt Spycher. Das Wissen über Kulturen, die uns geprägt haben, aber von denen wir keine schriftlichen Quellen besitzen, habe es schwer, in den Schulkanon aufgenommen zu werden. «Hier ist eine Korrektur angesagt», findet Spycher. Die Berücksichtigung dieses Wissens würde unter anderem die Stellung der Frau in der Gesellschaft verändern.

Ein Diskurs, der Seitenpfade mitberücksichtigt

Und dann kommt ein Motiv zum Vorschein, das Marguerite Spycher besonders zum Schreiben dieses Buches motiviert haben dürfte: «Ich wünsche mir einen fairen Diskurs, in den alle verfügbaren Quellen einfliessen dürfen, in dem man ich auch auf Seitenpfaden gehen darf und in dem eine breite Palette von Aspekten zur Geltung kommt.»

Am Ende ihres Buches hat auch Marguerite Spycher keine Gewissheit über die Existenz einer Päpstin. Aber das Ende ihres Buches ist nicht das Ende ihrer Forschung. Die Autorin hat bereits eine weitere Fährte aufgenommen. Sie führt auch in die vatikanischen Bibliotheken. Wenn Marguerite Spycher etwas packt, dann bleibt sie dran.

Warum die Forschung nicht an die Historizität der Legende glaubt

Die Geschichtswissenschaft behandelt die Päpstin-Legende traditionell als Fiktion. Genauer: als spätmittelalterliche Kleriker-Satire. Diese macht sich über gelehrte Kirchenherren lustig, die sich von einer Frau an der Nase herumführen lassen. Und die ihren Irrtum erst bemerken, als diese auf offener Strasse gebiert. Nach dem Motto: Wie dumm kann man als Studierter eigentlich sein?

Kleriker-Satire erhält Aufmerksamkeit

Dennoch gibt es wohl keine andere Kleriker-Satire, die bis heute so viel Aufmerksamkeit bekommt. Seit dem 19. Jahrhundert wurden immer wieder Argumente hervorgebracht, die auf einen wahren Kern der Legende hindeuten sollen. Etwa die Untersuchung der Geschlechtsteile oder vermeintliche Korrekturen in mittelalterlichen Papstchroniken.

Allerdings hat die Forschung bisher immer Erklärungen geben können. So ist die Untersuchung der Geschlechtsteile ein Aspekt der körperlichen Untersuchung, welche sich ein Papst seit dem Mittelalter unterziehen muss. Denn im mittelalterlichen Kirchenrecht ist festgeschrieben, dass nur unversehrte Männer Priester werden können. Eine abgeschnittene Fingerkuppe ist leichter erkennbar als andere fehlende Teile.

Auch Korrekturen in Chroniken sind nichts Ungewöhnliches. Fehler des Kopisten sind die häufigste Erklärung. Numismatiker, also diejenigen Forschenden, die sich mit historischen Münzen befassen, dürften nun ähnlich argumentieren. Denn auch für Abweichungen in der Prägung gibt es viele Erklärungen. So wurden etwa neue Münzstempel verwendet, weil der alte zerbrochen war. (am)


Eine Päpstin? Frauengestalt mit frühmittelalterlicher Papstkrone und Petersschlüssel im Petersdom in Rom | © M. E. Habicht
7. März 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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