Werner Schneider-Quindeau
Schweiz

Für Werner Schneider ist Locarno ein Lernort für die Kirchen

Locarno, 6.8.16 (kath.ch) Am Filmfestival von Locarno sind die Kirchen mit einer eigenen Jury präsent. Werner Scheider-Quindeau ist evangelischer Pfarrer aus Frankfurt und Präsident der Ökumenischen Jury am Filmfestival. Er pflegt das Filmeschauen als die «Kunst der Unterscheidung». Für ihn ist die Piazza Grande ein starkes Symbol.

Charles Martig

Was ist Ihre Aufgabe als Präsident der Ökumenischen Jury am Filmfestival Locarno?

Werner Schneider-Quindeau: Das spannende an der Ökumenischen Jury ist die Tatsache, dass hier verschiedene Perspektiven, wie Filme wahrgenommen werden, zusammentreffen. Die Internationalität mit Mitgliedern aus Nigeria, den USA und aus Europa ist vielversprechend. Ich sehe mich als Moderator zwischen diesen verschiedenen kulturellen Horizonten. Das heisst, alle Stimmen müssen gehört werden und auch ihr entsprechendes Gewicht finden.

Handelt es sich dabei vor allem um interkulturelle Fragen?

Schneider-Quindeau: In der Tat: ich bin gespannt wie unser nigerianischer Kollege Walter Ihejrika, die Filme wahrnimmt. Wir haben es in der Jury mit Menschen verschiedener Kulturen zu tun. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Man muss über die Grenzen der eigenen Kultur hinausgehen und versuchen zu verstehen. Es geht auch bei den Filmen um eine grosse kulturelle Spannweite. Wie stellt ein Film aus China die Gesellschaft oder ein existentielles Problem dar, das wir aus europäischer Sicht ganz anderes beschreiben würden?

Filmfestivals sind Schaufenster der Kulturen

Das ist der grosse Gewinn dieser Filmfestivals. Es handelt sich um Schaufenster der internationalen Filmkultur auf der einen Seite, aber zugleich auch der Kulturen global. Und wir wissen heute ganz genau, wie schwierig es ist, solche interkulturellen Kommunikationen auch wirksam zu gestalten. Dies ist mehr als zu sagen, das sind schöne Absichten, aber wir können angesichts der Konflikte nicht viel damit anfangen. Ich finde, Filmfestivals sind ein verheissungsvoller Ansatz, diese Lähmung in der interkulturellen Verständigung zu überwinden. Durch den Austausch kommen wir zu gemeinsamen Perspektiven in Konfliktsituationen.

Filmfestivals stehen also zwischen den Kulturen. Stehen sie auch zwischen den Religionen?

Schneider-Quindeau: Die Religionen spielen in den Filmen, zumindest als kultureller Teil, natürlich eine wichtige Rolle. Wobei ich immer noch unterscheiden würde zwischen Religion und Glaube. Im Film kommt die der Glaube als existentielle Dimension, als Vertrauen auf Gott viel stärker zum tragen als zum Beispiel in der Wissenschaft. Im Film sind es die alltäglichen Geschichten, die zählen: mit ihren existentiellen, sozialen und politischen Fragen. Damit werden auch religiöse Fragen selbstverständlich zum Thema.

Finden Sie diese existentielle Dimension des Glaubens auch in Filmen des internationalen Wettbewerbs in Locarno?

Schneider-Quindeau: Ich fasse den Begriff «Glaube» ein bisschen weiter. Ich würde diesen jetzt nicht konfessionell, wie zum Beispiel im Glaubensbekenntnis verstehen. Wenn wir Filme sehen wie den polnischen Beitrag «The Last Family» (»Ostatnia rodzina»), dann geht es natürlich auch um die Frage: Was trägt diese Familie? Was bedeutet Glaube dort? Es geht um einen post-apokalyptischen Maler, der ganz schreckliche Bilder macht und fürchterliche Fantasien hat. Entweder deutet man das alles nihilistisch oder geht einen anderen Weg. Es gibt auch die Gestalt der Mutter, die durchaus katholische ist, die aufgrund ihres Glaubens diese Familie zusammen zu halten versucht.

Die Familie ist ein starkes Thema im Filmschaffen

Das ist ein Beispiel, wie wir Familiengestalten deuten, die  gegen alle Formen von Überforderung und Ideologie antreten. Da müssen sich die Kirchen fragen: Wie verhalten wir uns in einer Situation, wo Familien auseinanderbrechen? Bei der Familiensynode in Rom oder bei familienpolitischen Stellungnahmen der EKD müssen wir wissen, dass Familie auch sehr stark ein Thema im Filmschaffen ist.

Kann man daraus schliessen, dass Filmfestivals auch ein Lernort für die Kirchen darstellen?

Schneider-Quindeau: Das ist das Entscheidende! Deshalb haben wir auch Jurys auf den Festivals. Und deshalb sind sie auch unverzichtbar. Die Aufgabe besteht darin, die Kunst der Unterscheidung einzuüben; nämlich zu sagen: Es gibt Filme, die haben eine bestimmte Qualität, die andere nicht haben. Aus diesem Wettbewerb des Filmfestivals auszuwählen und dabei zu fragen: Was lernen wir hier? Ein Filmfestival ist ein Bildungsraum par exellence.

Als protestantischer Theologe spreche ich dabei von der Kunst der Unterscheidung, so wie es schon von Anfang darum ging, was gelten soll. Wie müssen wir uns unterscheiden von allen anderen Vorstellungen in dieser Welt, die natürlich existieren? Unterscheiden heisst nicht trennen und es heisst nicht, Dialoge zu führen. Aber darin, dass wir die Unterscheidung lernen, lieben wir den Dialog. Nur dadurch lernt man. Es ist wie beim Weintrinken. Man muss verschiedene Weine trinken und dadurch lernen. Ich wähle die aus, die mir am besten Schmecken. Diese Metapher gilt auch für die Auswahl von Filmen.

Kulturelle Dialoge geben den Nährboden für unsere Bildung

Was heisst das für die Kirchen?

Schneider-Quindeau: Man muss die Unterscheidung lernen. Diese kulturellen Dialoge in den Filmfestivals sind für unsere Sprachfähigkeit wichtig. Sie geben den Nährboden für unsere Bildung.

In diesem Sinne ist also ein Filmfestival nicht nur ein Lernort für die Kirchen, sondern für jeden religiösen Menschen?

Schneider-Quindeau: Die Jury empfiehlt ja diese Filme. Damit werden sie zu Lernorten in Gemeinden, Filmclubs und Filmgesprächen. Das ist für mich ein ganz wichtiger Aspekt. So wie auch der «Film des Monats» in Deutschland, deren Jury ich präsidiere, eine zentrale Bedeutung für die Bildung hat. Ich bekomme unglaublich viele Anfragen zur Planung von Filmreihen. Unsere prämierten Filme sind ein Schatz, der bis jetzt erst zu einem Drittel gehoben ist.

Locarno definiert sich als Arthouse- und Filmkunst-Festival. Welche Bedeutung hat das Festival aus Ihrer Sicht?

Schneider-Quindeau: Ich finde dies einen wunderbaren Ansatz. Wir haben in der Zwischenzeit eine Reihe von Bilderfabriken, sei es Fernsehen oder aus Hollywood. Die Filme in Locarno aber, ich nenne sie einmal die «kleinen Filme», die oft sehr genau sind in der Wahrnehmung der Wirklichkeit aus der sie stammen, diese Filme brauchen Aufmerksamkeit. Sie fordern uns heraus zur interkulturellen Wahrnehmung. Sie nehmen die wunderbare Fülle von Kultur wahr, die manchmal auch verloren zu gehen droht unter einer globalisierten Bildkultur, die sich am Markt und am Konsum orientiert. Natürlich sind Filme auch immer wahr. Aber der eine ist sehr viel wahrer als der andere.

Die Piazza ist ein Ort der kulturellen Begegnung

Auf welche Filme freuen Sie sich ganz besonders?

Es sind nicht bestimmte Filme oder Filmregionen, die mich besonders interessieren. Locarno hat ein Alleinstellungs-Merkmal: das ist die Piazza Grande und zwar unabhängig von der Qualität der Filme. Ich schätze die Piazza Grande ganz besonders, weil hier in einer modernisierten Form etwas wieder hergestellt wird. Piazzas sind Orte des Dialogs, Orte der Begegnung, Orte der Wahrnehmung. Der Markt als «Piazza» ist immer mehr als eine wirtschaftliche Angelegenheit. Das war immer auch ein Ort der kulturellen Begegnung. Dieses Symbol steht für mich, im Vergleich zu vielen anderen Filmfestivals weltweit, für etwas Einzigartiges. Hier wird die Piazza wieder zu dem was sie einmal war: ein Ort des Dialogs und der kulturellen Begegnung.

Die ökumenische Jury der Kirchen in Locarno

Werner Schneider-Quindeau | © Christian Murer
6. August 2016 | 08:46
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