Nataliya Karfut
Theologie konkret

«Freut euch!» Geht Gaudete in Zeiten des Krieges?

Weihnachten handelt von Maria und Joseph, die Jesus vor dem Genozid des Tyrannen Herodes beschützen wollen. Die ukrainische Theologin Nataliya Karfut (41) sieht Parallelen zu Putins Angriff auf die Ukraine. Ein Gespräch über Weihnachten in Zeiten des Krieges, die Tränen des Papstes – und ukrainisches Brauchtum in der Adventszeit.

Raphael Rauch

Wir feiern heute Gaudete: «Freut euch!» Worüber können Sie sich freuen?

Nataliya Karfut*: Ich freue mich darüber, dass meine Landsleute die Ukraine tapfer verteidigen. Und mir macht Weihnachten Hoffnung. Gott macht sich ganz klein und kommt mit Jesus auf die Welt – einem schwachen, wehrlosen Kind. Der Gaudete-Sonntag bedeutet: Freut euch, bald ist Weihnachten! Nicht das Böse und die Dunkelheit haben das letzte Wort, sondern das Licht. 

Das Friedenslicht aus Bethlehem.
Das Friedenslicht aus Bethlehem.

Brauchen wir aufgrund der Energiekrise ein neues Verhältnis zum Thema Licht?

Karfut: Das Thema Licht ist im Lukas-Evangelium sehr stark. Auch wenn die Menschen in der Ukraine oft unter Stromausfall leiden: Ohne Strom zu sein bedeutet noch lange nicht, ohne Licht zu sein. Weihnachten bringt Licht in die Dunkelheit. Auch daran erinnert der Gaudete-Sonntag.

«Ich erlebe viele Tiefs – und dann wieder Momente der Hoffnung.»

Seit knapp zehn Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Wie geht es Ihnen?

Karfut: Ich erlebe viele Tiefs, besonders, wenn man schreckliche Nachrichten hört. Und dann erlebe ich wieder Momente der Hoffnung. Natürlich ist die Situation sehr, sehr schwierig. 

Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.
Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.

Sie arbeiten als Religionslehrerin. Was antworten Sie Schülerinnen und Schülern auf die Frage: Warum lässt Gott Krieg zu?

Karfut: Leider machen die Menschen auf der Welt das Leben zur Hölle. Gott hat die Menschen nach seinem Abbild erschaffen, allerdings mit freiem Willen ausgestattet. Der einzelne Mensch entscheidet, ob er seine Fähigkeiten für das Gute einsetzt – oder für das Böse. Für mich ist klar: Gott will keine Kriege. Deswegen kann es keine heiligen Kriege geben.

«In der Ukraine ist das Warten auf Weihnachten leiser, zurückhaltender.»

Sind Sie in Adventsstimmung?

Karfut: Ja und Nein. In der Ukraine wird die Zeit vor Weihnachten nicht so gefeiert wie in der Schweiz. Es gibt eine vorweihnachtliche Zeit. Die kann man aber nicht mit dem Advent vergleichen. Sie besteht vor allem aus der Fastenzeit. Also aus Gebet und Verzicht. Konkret: mittwochs und freitags gibt’s kein Fleisch. In der Schweiz ist die Adventszeit laut. In der Ukraine ist das Warten auf Weihnachten leiser, zurückhaltender.

Maria und Josef sind mit dem Esel unterwegs.
Maria und Josef sind mit dem Esel unterwegs.

An Weihnachten feiern wir die Geburt von Jesus, dem Friedensfürsten. Doch es ist kein Friede in Sicht.

Karfut: Der Friede kommt nicht von uns Menschen. Der Frieden ist die Frucht des Heiligen Geistes. Wir müssen umkehren, das Herz aufs Empfangen des Heiligen Geistes vorbereiten und danach ihn in unseren Herzen wirken lassen. Erst dann wird die Frucht des Friedens kommen, des echten und gerechten Friedens. 

«Viele Ukrainerinnen und Ukrainer fühlen sich wie Maria und Joseph auf der Flucht.»

Die Weihnachtsgeschichte ist alles andere als perfekt. Jesus kommt in einem Stall zur Welt, später befiehlt Herodes einen Genozid. Ist Ihnen die biblische Analogie zu pathetisch – oder macht sie Hoffnung?

Karfut: Ich finde den Vergleich zu Bethlehem überhaupt nicht pathetisch. Wir haben schon in der Karwoche erlebt, wie die das Martyrium des Karfreitags durch Russlands Angriff auf die Ukraine eine traurige Aktualität erfahren hat. Es liegt auf der Hand, Analogien zwischen Bethlehem und Butscha oder Charkiw zu ziehen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer fühlen sich wie Maria und Joseph auf der Flucht. Sie harren in Kellern aus und müssen sich verstecken. Für mich bilden die Menschen in der Ukraine eine lebendige Krippe. 

Mai 2022: Eine Ausstellung in Davos zeigt Gewalt und Zerstörung in Charkiw und Kramatorak.
Mai 2022: Eine Ausstellung in Davos zeigt Gewalt und Zerstörung in Charkiw und Kramatorak.

Wie geht es Ihrer Familie in der Ukraine?

Karfut: Meine Schwester lebt in einer Wohnung mit einer Heizung, die mit Strom funktioniert. Da der Strom oft ausfällt, ist es relativ kalt. Es gibt eine Art Stundenplan, wann es Strom geben soll. Der haut aber nicht immer hin, weil es Raketenangriffe gibt, die Elektrostationen zerstören. Zur Not kann sie zu unserer Mutter aufs Land gehen, wo mit Holz geheizt und mit Kerzen Licht gemacht werden kann.

«Meine Cousine wollte nicht unter russischer Besatzung leben.»

Wie geht es Ihren Verwandten?

Karfut: Meine Cousine musste aus Mariupol flüchten. Sie lebt jetzt im Westen der Ukraine, der relativ sicher ist. Was besonders tragisch ist: Es ist nicht das erste Mal, dass sie fliehen musste. Ihre Familie hat bereits 2014 eine Landwirtschaft in der Region Donezk verloren, weil sie nicht unter russischer Besatzung wohnen wollte. Deswegen ist sie nach Mariupol gezogen – und musste nun erneut fliehen und von vorne anfangen.

Andrij Jurasch, Botschafter der Ukraine beim Heiligen Stuhl, und Papst Franziskus am 7. April 2022 im Vatikan.
Andrij Jurasch, Botschafter der Ukraine beim Heiligen Stuhl, und Papst Franziskus am 7. April 2022 im Vatikan.

Vor ein paar Tagen wurde in Rom die ukrainische Botschaft am Heiligen Stuhl attackiert – unter anderem mit Schmierereien. Was macht das mit Ihnen?

Karfut: Das ist leider kein Einzelfall. Viele Botschaften werden angegriffen, allein in Spanien gab es sechs Attacken. Auch die ukrainische Botschaft an der Republik Italien war betroffen – die Angriffe waren also nicht primär religiös motiviert. Es geht darum, die Ukrainer einzuschüchtern. Das wird den Russen aber kaum gelingen. Der Sohn des ukrainischen Botschafters am Heiligen Stuhl kämpft im Militär. Der Botschafter weiss ganz genau, worum es geht. 

«Wir versuchen, unseren Töchtern das wahre Ausmass von Putins Völkermord nicht mitzuteilen.» 

Sie haben zwei Töchter. Wie viel muten Sie ihnen vom Krieg zu?

Karfut: Wir versuchen natürlich, sie zu schützen. Aber Kinder sind sehr aufmerksam und merken, wenn etwas nicht stimmt. Sie haben sofort mitbekommen, dass ein Krieg ausgebrochen ist. Sie bekommen auch mit, was wir Eltern untereinander besprechen. Sie wissen, dass Russland die Ukraine angegriffen hat und dass Krieg herrscht. Wir versuchen, sie vor Gewaltszenen zu schützen – und ihnen das wahre Ausmass von Putins Völkermord nicht mitzuteilen. 

Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.
Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.

Stellen Ihre Kinder auch unangenehme Fragen?

Karfut: Unsere jüngere Tochter wollte wissen: Warum hat Putin beschlossen, die Ukraine zu besetzen? Es ist schwierig, solch eine Frage kindgerecht zu beantworten. 

Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.
Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.

Der Altabt von Einsiedeln, Martin Werlen, wünscht sich ein stärkeres Engagement vom Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch. Er findet, der Ökumene-Minister solle nach Kiew reisen. Verstehen Sie, dass Kurt Koch zögert?

Karfut: Die Beziehung der römisch-katholischen Kirche zu den einzelnen orthodoxen Kirchen hängt stark von den Beziehungen ab, die die orthodoxen Kirchen untereinander pflegen. Das war schon vor dem Kriegsausbruch so. Die Situation innerhalb der Orthodoxie ist nicht einfach, wenn man die Einberufung des Panorthodoxen Konzils in Betracht nimmt oder die Expansion der russisch-orthodoxen Kirche in Afrika. Ich hoffe, dass die römisch-katholische Kirche Wege finden wird und Beziehungen zur von Moskau unabhängigen Orthodoxen Kirche der Ukraine aufbauen kann, da die Beziehungen zum ökumenischen Patriarchen sehr herzlich sind.

Papst Franziskus mit ukrainischer Fahne bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz.
Papst Franziskus mit ukrainischer Fahne bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz.

Papst Franziskus hat kürzlich von moderaten Russen, aber besonders gewalttätigen Tschetschenen und Burjaten gesprochen. Wie finden Sie das?

Karfut: Papst Franziskus trägt das Herz auf der Zunge. Wir dürfen nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Der Papst hat wahrscheinlich über ein persönliches Gespräch erfahren, was vor Ort abgelaufen ist. Ich denke, so ist diese Äusserung entstanden. Es liegt Papst Franziskus fern, ein Volk pauschal zu verurteilen. Es geht immer um konkrete Menschen, die Verbrechen begehen. 

Papst Franziskus küsst in Kasachstan das Enkolpion von Metropolit Antonij Sevrjuk.
Papst Franziskus küsst in Kasachstan das Enkolpion von Metropolit Antonij Sevrjuk.

Ist Ihnen die Politik des Heiligen Stuhls zu diplomatisch? Viele stören sich daran, dass der Papst Putin nicht als Aggressor beim Namen nennt.

Karfut: Vieles hat sich im Laufe der letzten neun Monate verändert. Der Papst hat vor kurzem einen sehr rührenden Brief an das ukrainische Volk geschrieben. Am 8. Dezember, an Mariä Empfängnis, weinte der Heilige Vater an der Spanischen Treppe, als er für das ukrainische Volk betete. Jeder und jedem ist klar, wer welches Land angegriffen hat. Wir sind dem Papst sehr dankbar – für seine Gebete und für das beeindruckende humanitäre Engagement, das Kardinal Krajewski und Kardinal Czerny an den Tag legen.

«Am 24. Dezember gehen wir in die Christmette in Schwyz.»

Wie feiern Sie dieses Jahr Weihnachten?

Karfut: Wir besuchen meine Schwiegereltern, die in Schwyz leben. Wir werden in die Christmette gehen. 13 Tage später, am 7. Januar, werden wir in Rom nochmals Weihnachten feiern – nach dem julianischen Kalender, als Zeichen der Verbundenheit mit meiner Familie in der Ukraine. 

Nataliya Karfut ist ukrainische Theologin.
Nataliya Karfut ist ukrainische Theologin.

Gibt es an Weihnachten in der Ukraine eine besondere Tradition?

Karfut: An Weihnachten gibt’s keine Tierprodukte. Fisch ist Okay – aber es gibt kein Fleisch, keine Eier, keine Milchprodukte. Es gibt einen klaren Ablauf, wie ein Weihnachtsessen abläuft – und zwar mit zwölf Gängen in Erinnerung an die zwölf Apostel. Es gibt immer ein extra Besteck für die Reisenden als Zeichen der Gastfreundlichkeit. In der Kriegszeit hat diese Tradition eine besondere Aktualität.

«Das Leben soll süss und reich werden.»

Funktionieren die Gänge wie ein Pessach-Mahl, wo die Speisen immer auch einen symbolischen Charakter haben?

Karfut: Einige Speisen sind symbolisch – und andere gehören zur traditionellen ukrainischen Küche. Der gekochte Weizen steht zum Beispiel für das Brot des Lebens. Und damit wir ein Leben in Fülle haben, wird der gekochte Weizen mit Honig gesüsst und mit Mohn, Nüssen und anderen Leckereien gemischt. Denn das Leben soll süss und reich werden.

* Die Theologin Nataliya Karfut (41) stammt aus der Ukraine und hat in Freiburg i.Ü. das Lizenziat erworben. Sie gibt an der Deutschen Schule in Rom Religionsunterricht.

Sie ist mit Mario Galgano verheiratet, dem ehemaligen Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Er arbeitet als «Vatican News»-Redaktor. Das Paar lebt mit zwei Töchtern in Rom.


Nataliya Karfut | © Raphael Rauch
11. Dezember 2022 | 07:58
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!