Stephan Schmid-Keiser
Schweiz

«Es soll von Herzen kommen»: Theologe Stephan Schmid-Keiser über Mundart im Gottesdienst

Im Sonntagsgottesdienst sprechen Seelsorgerinnen und Seelsorger teils «Schwizertütsch», um ihren Gläubigen näher zu sein. Um die Sprache ihrer Lebenswelt zu sprechen. Aber ist Dialekt wirklich würdig genug, um Gottessprache zu sein, um das religiöse Moment einer Eucharistiefeier widerzuspiegeln? Theologe Stephan Schmid Keiser zeigt im Interview mit kath.ch Chancen und Grenzen des Dialekts in der Liturgie auf.

Wolfgang Holz

Herr Schmid-Keiser, hilft Dialekt in der Liturgie, damit die Menschen Gott tatsächlich näher sein können?

Stephan Schmid-Keiser*: Die Frage bewegt nicht wenige, denen daran liegt, die Feiern des Glaubens in ihrer Muttersprache begehen zu können. Es beginnt bereits bei der Auswahl von Liedern, deren Texte in der Regel standardsprachlich sind. Text und Melodie sollten möglichst von Herzen kommen, sagen mir Stimmen von Mitfeiernden. Mit dem Kreuzzeichen beginnt liturgisches Feiern, üblich in Hochdeutsch gesprochen «Im Namen des Vaters…». Die Versammelten antworten in der eingeübten Volkssprache «Und mit deinem Geiste». Der schlichte rituelle Vorgang macht klar, dass im liturgischen Feierraum eine gehobene, für nicht wenige fremd gewordene Sprache genutzt wird. Inwieweit sie sich in den dort genutzten Sprachwelten näher bei Gott fühlen, wäre nachzufragen.

Ein Glasfenster im Eingang der Kathedrale von St. Gallen.
Ein Glasfenster im Eingang der Kathedrale von St. Gallen.

«Die standardisierte Sprache der Liturgie ist vor diesem Hintergrund wie eine Fremdsprache.»

Seit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils sind statt Latein auch Mutter- und Volkssprachen zugelassen. Ist es da nur natürlich, dass Liturgie nun auch im Dialekt gefeiert wird?

Schmid-Keiser: Hand aufs Herz, wer möchte nicht in seiner Muttersprache angesprochen werden? Die standardisierte Sprache der Liturgie ist vor diesem Hintergrund wie eine Fremdsprache. Wird jedoch an ihr als fix-ritualisierte Sprache festgehalten, erfahren dies nicht wenige Menschen als unsensibel oder gar verletzend. In ihren Augen müsste liturgisches Feiern ebenso inklusiv und gendergerecht geschehen. Das beliebte und amtlich anerkannte Sprechen von Fürbitten im lokalen Dialekt ist dafür weniger problematisch. Spannungsreicher wird es dort, wo die in den Gottesdiensten verkündete Botschaft in Spiel kommt.

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«Demgegenüber können beim Predigen oder bei kurzen Voten aus dem Kreis der Versammelten örtliche Dialekte mit einfliessen.»

Warum?

Schmid-Keiser: Weil die Botschaft im Grunde genommen die Basis für das gemeinsame Feiern ist. Sie trägt den bleibenden Stachel prophetischer, auch aus der Botschaft von Jesus bekannten Kritik an einem vom Alltag und seinen Fragen distanzierten Feiern in sich. Demgegenüber können beim Predigen oder bei kurzen Voten aus dem Kreis der Versammelten örtliche Dialekte mit einfliessen. Biblisches Wort und menschliche Antwort werden in den sprachlichen Formen der Feier präsent, was die amtlichen Texte wie Tages-, Gabengebet oder in besonderer Hinsicht das eucharistische Hochgebet deutlich machen.

Madonna del Sasso in Locarno
Madonna del Sasso in Locarno

Ist aber Dialekt denn überhaupt würdig genug mit seiner Einfachheit und seiner reinen Mündlichkeit, um das Besondere und das Feierliche eines sonntäglichen Gottesdiensts widerzuspiegeln?

Schmid-Keiser: Es geht weniger um «würdig genug» als um den Stil lokal besonderer Feiern. Beliebt sind bei der Gestaltung von Messfeiern zur Fasnachtszeit, beim Erntedank oder anlässlich von Brauchtumszeiten der Einbezug von Musik- und Gesangsgruppen. Mit ihnen suche ich das Einvernehmen, um die Feier in sprachlicher und musikalischer Hinsicht zu gestalten. Allein schon darin liegt eine belebende und heilsame Kraft, die Versammelten den besonderen Dienst Gottes sprachlich und musikalisch spüren zu lassen. Der Wechsel von Vortrag und Singen einer dann in gehobener Sprache gehaltenen Antiphon ergänzen sich gut, was der Feierlichkeit eine besondere Note gibt. Und so dem Ausdruck der Lebens- und Glaubenserfahrung vor dem göttlichen Geheimnis eine Brücke schlägt.

«Ich denke nicht, dass Dialekt Anbiederung ist.»

Was meinen Sie damit?

Schmid-Keiser: Die Menschen in der Schweiz sind geübt darin, wie im Alltag beim Hören der Nachrichten oder beim flinken Schreiben ihrer Text-Nachrichten sich auch in einer Feier flexibel zwischen Sprachwelten zu bewegen. In langen Jahren als Verantwortlicher für die Feier von Gottesdiensten in Pfarreien des Bistums Basel bewährte sich ein solches Vortragen von Psalm-Versen mit Hilfe der von Josua Boesch 1988 veröffentlichten Psalmen «D Psalme. Use m hebrèische uf züritüütsch überträit». Das eine Mal sprach ich sie im Dialekt, das andere Mal für besonders festlich gestaltete Gottesdienste in Rückübertragung in die gehobene Sprache. Ähnlich bieten die in so genannt leichter Sprache gefassten Texte der Sonntags-Evangelien im Kirchenjahr eine ausgezeichnete Grundlage zur Übertragung in die eigene Mundart. Dies vor allem dann, wenn sich Familien mit ihren Kindern zu gottesdienstlichem Feiern versammeln.

Josua Bösch: Metall-Ikone des Auferstandenen
Josua Bösch: Metall-Ikone des Auferstandenen

In Deutschland gibt es viele Dialekte. Mehr als in der Schweiz. Dennoch kann man sich kaum vorstellen, dass eine Messe auf schwäbisch oder sächsisch gefeiert wird. «Schwizertütsch» ist letztlich auch nur ein Dialekt des Hochdeutschen, der sich in viele regionale Unterdialekte auffächert. Und trotzdem gibt es immer wieder Priester, die im Gottesdienst Dialekt sprechen. Ist das wirklich ein Ausdruck von Nähe oder ist es nicht eher Anbiederung?

Schmid-Keiser: Ich denke nicht, dass es Anbiederung ist. Vielmehr ist es das Bestreben, die Menschen vor Ort und deren kulturelles Kolorit ernst zu nehmen. Dies ist der vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestrebten Einheimisch-Werdung auch der gottesdienstlichen Botschaft, der liturgischen Inkulturation geschuldet. Verlangt ist dabei das intensive Arbeiten an der Sprache in liturgischen Kontexten. Die Einübung in die Feiern des Glaubens im römisch-katholischen Kleid unter Einbezug der Mundart ist nicht nur spiegelbildlich anzupeilen. Achtsamer Umgang ist dann auch dort empfohlen, wo im Kontakt mit Migrationsgemeinden Vielsprachigkeit ins liturgische Zusammenspiel integriert sein will.

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«Empathie ist nicht die einzige Grundlage.»

Ist es denn wichtiger, wie empathisch man sich inhaltlich als Priester oder Seelsorger den Menschen im Gottesdienst nähert, oder ist tatsächlich «Schwizertütsch» einfach ein Gefühlsfaktor, der Menschen für Inhalte per se empfänglicher macht?

Schmid-Keiser: Empathie ist nicht die einzige Grundlage. Sie leitet zwar zur Menschennähe, sollte jedoch in meinen Augen weitere Grundlagen abwägen. Denn bei der Anpassung der liturgischen Texte aus dem Lateinischen ging es von jeher um eine Übersetzungsverständlichkeit». Diese konnte 2010 der für seine elfbändige poetische Dogmatik bekannte Kölner Theologe Alex Stock wie folgt begründen: «Die neue muttersprachliche Liturgie wurde nicht originär aus dem literarischen Potential der jeweiligen zeitgenössischen Sprachkultur geschaffen, sondern als Übersetzung einer vorab in lateinischer Sprache und römischem Geist verfassten Liturgie». So gesehen ist auf eine Spracharbeit hinzuwirken, die eine ins lokale Leben eingebettete und lebensdienliche Liturgie ermöglicht. Dies bleibt als Ziel anzustreben.

Trachten und Liturgie
Trachten und Liturgie

«Der Mensch als Ganzes, Geist und Körper.»

Und was ist mit dem Gefühlsfaktor?

Schmid-Keiser: Neben dem Gefühlsfaktor, der mitschwingt, rege ich an, einmal mehr die Gedanken Romano Guardinis aus seinem 1964 geschriebenen Brief «Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der liturgischen Bildung» aufzunehmen. In diesem Akt» stehe «nicht nur die spirituelle Innerlichkeit, sondern der Mensch als Ganzes, Geist und Körper.» Guardini betonte, dass in der Diskussion von alledem meist nur das soziologisch-ethnologische Moment zum Vorschein komme sowie die Beteiligung der Gemeinde und der Gebrauch der Volkssprache. In Wahrheit gehe es um sehr viel mehr.

«Die Chancen des Dialekts in Gottesdiensten sind gegeben, sind aber begrenzt durch die für die Gestaltung sakramentaler Rituale notwendige Standardsprache.»

Um was mehr?

Schmid Keiser: Um einen ganzen Akt, eine ganze Akt-Welt, die verkümmert sind und nun neu aufleben» müssten. Guardini stand an der Schwelle der Frage nach dem Wandel von liturgischen Formen für heute und bemerkte: «Hier wird sich natürlich auch die Frage erheben, ob die geltende Liturgie Bestandteile enthält, die vom heutigen Menschen nicht mehr recht realisiert werden können. Nach dem Motto: Ist vielleicht der liturgische Akt, und mit ihm überhaupt das, was ‹Liturgie› heisst, so sehr historisch gebunden – antik, oder mittelalterlich –, dass man sie der Ehrlichkeit wegen ganz aufgeben müsste?

Domkapellmeister Andreas Gut mit seinem Chor.
Domkapellmeister Andreas Gut mit seinem Chor.

Sollte man sich vielleicht zu der Einsicht durchringen, dass der Mensch des industriellen Zeitalters, der Technik und der durch sie bedingten psychologisch-soziologischen Strukturen sei zum liturgischen Akt einfach nicht mehr fähig? Und sollte man, statt von Erneuerung zu reden, nicht lieber überlegen, in welcher Weise die heiligen Geheimnisse zu feiern seien, damit dieser heutige Mensch mit seiner Wahrheit in ihnen stehen könne?

Und wie sieht Ihre eigene Antwort aus? Welche Empfehlungen geben Sie für den Gebrauch des Dialekts als Liturgiesprache?

Schmid-Keiser: Generell bedürfen unsere Gottesdienste einer sorgfältigen Spracharbeit, unterstützt durch Vorlagen, die einem ein Gefühl dafür geben. Nicht zu unterschätzen ist das Vortragen aller Texte durch einen akustisch verständlichen Sprechstil, ohne dabei das Sprechen an Mikrophonen übermässig zu strapazieren. Die Chancen des Dialekts in Gottesdiensten sind gegeben, sind aber begrenzt durch die für die Gestaltung sakramentaler Rituale notwendige Standardsprache.

Papst Franziskus
Papst Franziskus

Eine hohe Hürde ist zudem gefallen, welche 2001 durch die römische Instruktion ›Liturgiam authenticam’ errichtet wurde. Sie verlangte strikt die wortwörtliche Übersetzung liturgischer Texte aus dem Lateinischen in die Landessprachen. Zum Glück begegnete Papst Franziskus dem puren Dilemma zwischen Verständlichkeit liturgischer Sprache im jeweiligen kulturellen Kontext und der lateinischen Liturgie mit dem 2017 erschienenen Motu Proprio ›Magnum principium’. Nun stehen wieder die lokalen Bischofskonferenzen in der Pflicht, sich mit der liturgischen Sprache in ihrem kulturellen Kontext zu befassen.

Was will uns das sagen?

Schmid-Keiser: Nach diesem päpstlichen Erlass kam der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann zum Schluss, dass die Agenda für die volkssprachliche Arbeit an den lateinischen Texten «wieder neu auf Verständlichkeit hin ausgerichtet werden» müsse. Dies sei alles andere als einfach, denn im Kontext einer Glaubensfeier sei Verständlichkeit nicht einfach gegeben. Der Anpassung an unterschiedliche Kulturen werde «wieder mehr Gewicht verliehen». Man werde diskutieren müssen, «was unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts und der ›multiplen Moderne’ im deutschen Sprachgebiet volkssprachliche Liturgie bedeutet». Wer mitfeiere, soll «das Feiergeschehen sprachlich mitvollziehen und mittragen können». Keine Nebensache sei dies für das «Zusammenspiel von leiturgia und diakonia», der Feier und der christlichen Lebenspraxis.

*Stephan Schmid-Keiser (74) hat vor seiner Promotion in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie (1985) ein B-Diplom in Kirchenmusik (1980) erworben. Zwischen 1979-1984 engagierte er sich in Teilzeit als Musik-Animator im Priesterseminar St. Beat in Luzern und war in seiner Berufszeit als Seelsorger auch musikalisch in Gottesdiensten unterwegs. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Stephan Schmid-Keiser | © Lisbeth Schmid-Keiser
7. Januar 2024 | 13:03
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