Figur von Papst Franziskus vor der Kathedrale in Bogota
International

«Die Meinungen zum Papstbesuch sind unterschiedlich»

Bogota, 6.9.17 (kath.ch) Die Schweizerin Andrea Moresino lebt mit ihrer Familie seit drei Jahren in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Sie bewertet für kath.ch die Bedeutung des aktuellen Besuchs von Papst Franziskus im Lande und spricht über den Mikrokosmos konkreter Friedensarbeit. Die Familie weilt im Auftrag der Schweizer Organisation der Personellen Entwicklungszusammenarbeit (PEZA) «Comundo» in Südamerika.

Sylvia Stam

Welche Bedeutung hat die Papstreise für die Katholiken in Kolumbien?

Andrea Moresino: Ich denke, viele KolumbianerInnen haben darauf gewartet, dass Papst Franziskus – ihr lateinamerikanischer Papst – nach Kolumbien kommt. Die katholische Kirche hat einen wichtigen Stellenwert im Leben der Gläubigen, auch wenn die hierarchischen Strukturen auch auf Pfarrei-Ebene ausgeprägter sind, als wir dies aus der Schweiz kennen.

Das Glaubensleben der Menschen ist in kleinen Gesten und Zeichen sichtbar. So bekreuzigen sich viele Menschen, wenn sie eine Kirche oder Kapelle passieren. Ein Armband mit Kreuz oder Heiligenbild, ein Rosenkranz um den Hals ( er wird auch von Männern getragen) oder ein Kreuzzeichen wenn man das Haus verlässt: solche Zeichen sollen Schutz geben und Segen.

Dios te bendiga ist mehr als eine Floskel, es ist ein Segenswunsch.

Es wird verständlicher, wenn man weiss, dass nicht alle den Versicherungsschutz geniessen, wie wir ihn in Europa kennen. Dios te bendiga – Gott segne dich – ist mehr als eine Floskel, es ist ein Segenswunsch, wenn man sich verabschiedet. Meine Beobachtungen lassen sich aber nicht pauschal auf die Bevölkerung anwenden, sondern beruhen auf dem, was ich in den südlichen Quartieren der Stadt Bogota, die als arm und kriminell gelten, erfahre, wo ich mich bewege.

Weckt der Besuch des Papstes Hoffnungen?

Moresino: Die Meinungen zum Papstbesuch sind unterschiedlich. Ich habe mit Leuten gesprochen, die es zwar gut finden, dass Papst Franziskus nach Kolumbien kommt. Sie erwarten jedoch nicht viel von ihm, er wird den Politikern nicht ins Gewissen reden, es wird keine tiefgreifenden Veränderungen geben – und weiter berührt sie der Besuch nicht.

Andere erwarten eine Stärkung ihres Glaubens, «dass er die Herzen der Menschen für Jesus und seine Botschaft öffne». Sie erwarten, dass es nach dem Besuch mehr Frieden geben wird. Sie sehen im Papstbesuch einen spirituellen Input für ihr Glaubensleben. Ich weiss nur von wenigen Personen, die die Messe im grossen Park Simón Bolívar mitfeiern möchten und eine Eintrittskarte gelöst haben.

Frühmorgens beginnt der Einlass in den Park und die Messe startet erst um 17 Uhr. Das ist für ältere Menschen anstrengend. Die grosse Mehrheit jener, mit denen ich gesprochen habe, möchte via Fernseher mitfeiern. Nach dem positiven Abschluss des Friedensprozesses ist der Papstbesuch als Wertschätzung der Bemühungen rund um diesen Prozess zu sehen.

Nach Angaben des Vatikan ist das zentrale Thema der Reise der Friedensprozess zwischen der Guerilla-Organisation FARC und der kolumbianischen Regierung. Wie wird dieser Friedensprozess in der Bevölkerung wahrgenommen?

Frühmorgens beginnt der Einlass in den Park und die Messe startet erst um 17 Uhr. Das ist für ältere Menschen anstrengend.

Die knappe Ablehnung des Plebiscito am 2. Oktober vergangenen Jahres hat gezeigt, dass die Meinungen diesbezüglich auseinandergehen. In jenen Gebieten, die vom Konflikt am härtesten betroffen waren, hat eine überwiegende Mehrheit mit Ja gestimmt. Personen, die vom Konflikt kaum betroffen waren, hatten das Plebiscito eher abgelehnt.

Ihnen gingen die Resultate der Verhandlungen, wie zum Beispiel das Strafmass für Guerilleros, zu wenig weit. Sie sind nicht damit einverstanden, dass die FARC zu einer Partei wird, der für die kommenden zehn Jahre Sitze im Kongress garantiert werden. Im Juni dieses Jahres wurde die Entwaffnung der FARC nach Angaben der Uno-Beobachtermission abgeschlossen. Dieser Umstand mag Anlass zur Freude sein, doch ist dadurch der Friede nicht garantiert.

In Gebieten wo die FARC abgezogen ist, haben kriminelle Organisationen ihre Plätze eingenommen und die Gewalt hat zugenommen. Mich beeindruckt in unserem Projekt «Casitas Bíblicas», wie fast bedingungslos einige Menschen Ja zum Friedensprozess und zum Plebiscito gesagt haben, die eigentlich allen Grund hätten, eine harte Bestrafung der Guerilleros zu fordern: Ihre Familien wurden vertrieben, Vater erstochen, Bruder enthauptet – in den wenigsten Fällen wurde ihnen juristische Gerechtigkeit zuteil.

Die Regierung ist aber auf Jahre hinaus gefordert, die sozialen Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Im Gegenteil, Hilfe von offizieller Seite ist nicht zu erwarten, viel mehr noch laufen sie Gefahr, selbst Opfer zu werden, wenn sie Gerechtigkeit einfordern. Und genau diese Menschen haben Ja gesagt. Sie haben SÍ-Plakate in die Fenster gehängt oder sich SÍ-Plaketten angeheftet und sind dafür angepöbelt worden.

Trotz all dem Leid, dass sie und ihre Familien erfahren mussten, ist das Abkommen einer der Wege, um auf lange Sicht Frieden zu erreichen. Es bleibt zu hoffen, dass auch eine Einigung mit der kleineren Rebellengruppe ELN erzielt werden kann – ein Waffenstillstand bis Ende Jahr wurde vor kurzem beschlossen. Die Regierung ist aber auf Jahre hinaus gefordert, die sozialen Ungerechtigkeiten zu beseitigen, eine Chancengleichheit im Bildungssystem herzustellen und den Opfern und Vertriebenen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Welche Bedeutung messen Sie persönlich dem Papstbesuch bei?

Moresino: Dass Papst Franziskus, nach dem positiven Ausgang des Friedensprozesses, sein Versprechen einlöst, Kolumbien zu besuchen, ist ein Ja von Seiten der Kirche zum Frieden. Denn die kolumbianischen Bischöfe stehen nicht geschlossen hinter dem Abkommen, sondern sind gespalten. Dies dürfte mit ein Grund sein, warum die Vertreter der katholischen Kirche vor dem Plebiscito nicht zu einem «Ja» aufgerufen haben, sondern die WählerInnen nur aufgefordert haben «nach ihrem Gewissen zu entscheiden».

Durch die gemeinsame Bibellektüre soll die konkrete Lebensrealität beleuchtet und sollen Handlungsperspektiven entdeckt werden.

Während seines Besuches erwarte ich eine Bekräftigung zum Frieden, zu den noch jungen Verhandlungen mit der ELN und zur Präsidentenwahl 2018. Auch wenn er den zuletzt genannten Wunsch wahrscheinlich nicht berücksichtigt, so wird die Präsidentenwahl im kommenden Jahr richtungsweisend sein, ob am Abkommen festgehalten wird oder ob der neue Präsident kein Befürworter dieses Prozesses ist. Mit deutlichen Worten kann Papst Franziskus die Menschen aufrütteln und die ins Stocken geratene Umsetzung des Abkommens wieder ankurbeln.

Wenn Sie den Papst treffen könnten: Welche Botschaft würden Sie ihm aus dem Projekt «Casitas Bíblicas» mitgeben?

Moresino: Bestünde diese Möglichkeit, würde ich ihn zu Casitas Bíblicas einladen. Ganz konkret zu einem Treffen einer Hausgemeinschaft (casita), damit er erfährt, was Vida-Biblia-Vida in den Randquartieren von Bogota bedeutet. Wöchentlich treffen sich Menschen unterschiedlichen Alters, um in der Bibel zu lesen, den Text auf ihr Leben zu beziehen, sich darüber auszutauschen, sich gegenseitig zu bestärken, auch Traurigkeit und Schicksale miteinander zu teilen, miteinander zu weinen und um doch nach dem Treffen gestärkt wieder in den jeweiligen Alltag zurückzukehren.

Diese Gemeinschaften sind mehr als Gebetsrunden, es sind echte Solidargemeinschaften. Dies ist im Kontext des langjährigen Konflikts und dem damit verbundenen Misstrauen – selbst Nachbarn gegenüber – sehr wichtig, fast «überlebenswichtig». In den Hausgemeinschaften können sich die Menschen mitteilen, Sorgen teilen und Hilfe erfahren. Sie werden nicht allein gelassen. Die Treffen finden in einfacher Umgebung statt; gibt es keine Sitzplätze mehr, ist auf dem Fussboden sicher noch Platz. Niemand wird weggeschickt. Diesen Geist des gemeinsamen Bibellesens, des Gebetes und der Solidarität zu erfahren, wäre meine Botschaft für den Papst.

Ich würde den Papst zu einem Treffen einer Hausgemeinschaft einladen, damit er erfährt, was Vida-Biblia-Vida in den Randquartieren von Bogota bedeutet.

Können Sie das Projekt in drei Sätzen zusammenfassen?

Moresino: Casitas Bíblicas wurde vor rund 20 Jahren als Bewegung von solidarischen Hausgemeinschaften vom damaligen Priester der Pfarrei Palermo Sur und von Ordensschwestern gegründet. Durch die gemeinsame Bibellektüre soll die konkrete Lebensrealität beleuchtet und sollen Handlungsperspektiven und Ermutigungen entdeckt werden.

Ab 2004 wird Casitas Bíblicas von Fachpersonen von BMI/Comundo begleitet. Im Jahr 2011 gab sie sich eine juristische Form als Körperschaft und es konnte die «sede» (ein Zentrum) gebaut werden. Die neue Infrastruktur ermöglichte es, durch eine Palette an Angeboten und Workshops neue Personen – vor allem Kinder und Jugendliche – der umliegenden Quartiere anzusprechen. (gs)

Figur von Papst Franziskus vor der Kathedrale in Bogota | © Andrea Moresino
6. September 2017 | 16:35
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