Karin Oertle, katholische Spitalseelsorgerin im Zürcher Stadtspital Waid
Porträt

Die blinde Seelsorgerin mit dem siebten Sinn

Karin Oertle ist blind. Und arbeitet seit 28 Jahren als Spitalseelsorgerin. Sie kann sich ganz auf den Moment konzentrieren und das Äussere eines Menschen spielt für ihre Arbeit überhaupt keine Rolle. Nach all den Jahren im Spital hat sie immer noch Angst vor Spritzen.

Eva Meienberg

In der Eingangshalle des Stadtspitals Zürich Waid steht eine Frau mit einem weissen Stock. Sie ist keine Patientin, sondern die Spitalseelsorgerin. Karin Oertle (53) erwartet mich, sieht mich aber nicht auf sich zukommen.

Das Büro der katholischen Spitalseelsorge befindet sich im Erdgeschoss. Ein paar Sonnenstrahlen schaffen es ins Innere des Raumes. Den wolkenlosen Himmel kann Karin Oertle nicht sehen. «Dafür leide ich auch nicht unter dem tristen Novemberwetter», sagt die Seelsorgerin.

Eine Arbeitsstelle fürs Leben

Karin Oertle arbeitet seit 28 Jahren im Waidspital. «Am liebsten würde ich bis zu meiner Pensionierung hier arbeiten», sagt die Seelsorgerin. Für Karin Oertle ist es ein Glück, dass sie nie ihre Stelle wechseln musste. Der vertraute und gut eingerichtete Arbeitsplatz ist die Voraussetzung, dass sie ihre Arbeit machen kann. Das bestätigt Brigitte Hauser, sie ist reformierte Spitalseelsorgerin und arbeitet mit Karin Oertle seit 2009 zusammen.

«Karin Oertle kommt im Waidspital so gut zurecht, dass ich manchmal vergesse, dass sie blind ist», sagt Brigitte Hauser. Das nehme ihr die katholische Kollegin nicht übel. Karin Oertle mache ihre Blindheit in den seltensten Fällen zum Thema.

Über die Jahre hat sie durch die Seelsorge im Spital ganze Familien und deren Geschichte kennengelernt. «Lebensgeschichten faszinieren mich und persönliche Begegnungen vergesse ich nicht», sagt Karin Oertle. Genauso wenig vergisst sie, wo sich ihre Dinge befinden.

Jedes Ding an seinem Ort

Ihr Blindenstock ist im Behälter neben der Tür. Die Schreibmaschine in der untersten Etage im Gestell neben dem Aktenordner. Jedes Ding muss immer am gleichen Ort versorgt sein. Sonst wird das Auffinden unmöglich. Karin Oertle bewegt sich im Büro wie eine Sehende, einzig der Blick und die schnell tastenden Hände verraten sie.

Blindenstock
Blindenstock

Nur von Menschen, die sie gut kennt, weiss Karin Oertle, wie sie aussehen. Welche Frisur sie tragen, wie ihr Körper gebaut ist, welche Kleider sie mögen. Ansonsten kann sie lediglich die Körpergrösse abschätzen. Das macht sie anhand der Schritte, des Händedrucks und an der Höhe, von wo aus jemand spricht.

Karin Oertle sagt, es habe auch Vorteile, in der Seelsorge die Menschen nicht zu sehen. «Das Äussere der Patientinnen und Patienten spielt überhaupt keine Rolle. Der ungefärbte Haaransatz, die mit Tape hochgeklebten Augenlider, das sehe ich alles nicht.»

Angst vor einem blinden Kind

Karin Oertle kam blind auf die Welt. Eine Erbkrankheit hat ihren Sehnerv zerstört. Ihre Krankheit ist der Grund, warum Karin Oertle niemals Kinder haben wollte. Zu gross war die Angst, ihr Kind könnte auch blind sein. Ihre eigenen Eltern konnten sehen. Sie konnten ihr alles erklären, alles beschreiben. «Was meine Eltern für mich getan haben, hätte ich für meine Kinder nicht tun können.»

Erstklässlerin, Karin Oertle, in den Ferien im Heim für schwerstbehinderte, blinde Kinder in Tenero
Erstklässlerin, Karin Oertle, in den Ferien im Heim für schwerstbehinderte, blinde Kinder in Tenero

«Ich kann den Menschen gut zuhören, weil ich es gewohnt bin, ganz im Moment, ganz beim Patienten zu sein.» Im Strassenverkehr etwa sei diese Präsenz, ganz im hier und jetzt zu sein, lebenswichtig.

«Ich mache mir kein Bild von einem Menschen, sondern einen Eindruck von seinem Wesen», sagt Karin Oertle. Auch wenn Patientinnen und Patienten nicht mehr viel sprechen, spüre sie die Menschen. «Das ist mein siebter Sinn.» Ab und zu frage sie jemanden von der Pflege nach der Mimik einer Patientin.

Eine Patientin irritierte es, dass sie mit der Seelsorgerin keinen Blickkontakt aufnehmen konnte. Eine andere Patientin fühlte sich angestarrt. «Viele Menschen vergessen aber während des Gesprächs, dass ich blind bin», sagt Karin Oertle.

Den Eltern etwas zurückgeben

Zuhause ist Karin Oertle in Bachenbülach, dort lebt sie mit ihren Eltern. «Über die Jahre sind wir eine WG geworden», sagt Karin Oertle. Sie ist froh, dass sie ihren Eltern immer mehr helfen und damit zurückgeben kann, was sie von ihnen bekommen hat.

Karin Oertles Vater ist Appenzeller, die Mutter stammt aus Norditalien. Die Eltern zogen kurz nach Karins Geburt ins Tessin nach Arbedo. Weil die Eltern ihrer blinden Tochter ein Internat ersparen wollten, ist die Familie nach Zürich gezogen.

Die Gymnasiastin Karin Oertle auf Besuch im Heim in Tenero
Die Gymnasiastin Karin Oertle auf Besuch im Heim in Tenero

Mit dem Tessin blieb Karin Oertle aber verbunden. Dort verbrachte sie regelmässig Ferien in einem Heim in Tenero für schwerstbehinderte, blinde Kinder. Sie hat mitgeholfen, die Kinder anzuziehen, Essen zu verteilen. Die Arbeit der Ordensschwester, die das Heim geleitet hat, gab den Ausschlag für Karin Oertles Berufswunsch.

Ordensfrau als Vorbild

«Die Ordensfrau hat sich viel Zeit genommen, um mit den Eltern zu sprechen und ich habe gemerkt, was das bewirkt», sagt Karin Oertle. Sie erzählt von Eltern, die nur ganz selten im Heim vorbeikamen. Sie hätten den Anblick ihrer behinderten Kinder nicht ertragen können. Die Ordensfrau sprach den Eltern Mut zu – ganz viel Zuversicht, ganz viel Geduld. Die Eltern hätten mit der Zeit ihre Kinder regelmässig besucht und seien sogar gern gekommen.

Karin Oertle wurde im Alter von sechs Jahren in der Sonderschule für Blinde und Sehbehinderte am Zürcher Friesenberg eingeschult. Neben den üblichen Schulfächern lernte sie Blindenschrift lesen und schreiben. Die Brailleschrift besteht aus einem Punktmuster, das mit einer Maschine in Papier gestanzt wird. Mit den Fingerspitzen ertastet und liest sie die Schrift.

Mit dieser Brailleschrift-Maschine macht sich Karin Oertle Notizen.
Mit dieser Brailleschrift-Maschine macht sich Karin Oertle Notizen.

Karin Oertle hat mehrere Brailleschrift-Geräte in ihrem Büro. Zum Beispiel eine Stenomaschine, mit der sich Karin Oertle Notizen macht. Oder ein Gerät, das den PC-Bildschirm in Brailleschrift übersetzt. Sodass auf ihrer Tastatur ein Punktmuster erscheint. Karin Oertle streicht mit ihren Fingern flink über die Punkte und liest vor, was auf der Webseite steht.

Von der Sonderschülerin zur Studentin

Nach der vierten Klasse wechselte Karin Oertle in die Regelschule in Bachenbülach, nachdem sich ein Lehrer bereit erklärt hat, sie in seine Sonderklasse aufzunehmen. Der Lehrer gab ihr in der sechsten Klasse Material für die Gymivorbereitung mit nach Hause. Die Aufnahmeprüfung hat sie bestanden und sechseinhalb Jahre später die Matura.

Karin Oertle sagt: «Ohne den Einsatz meiner Mutter hätte ich es in der Schule nicht so weit gebracht.» Am 25. September 1987 titelt der «Blick für die Frau»: «Die blinde Karin besteht die Matur mit Bravour.»

Karin Oertle im Studium am theologischen Seminar St. Luzi in Chur.
Karin Oertle im Studium am theologischen Seminar St. Luzi in Chur.

Kurze Zeit später begann sie ihr Theologiestudium an der Theologischen Hochschule in Chur. Alle Vorlesungen waren im gleichen Gebäude. Ideale Voraussetzungen für die blinde Studentin. Die nächsten Jahre wohnte Karin Oertle im Seminar St. Luzi.

«Ich habe alle Kurse belegt, die mich meinem Wunschberuf irgendwie näherbrachten, darunter Psychologie oder Gesprächsführung», sagt die Theologin. Seit der Begegnung mit der Ordensschwester im Tessin verfolgte sie ihren Plan, Spitalseelsorgerin zu werden, geradlinig.

Was der Mensch als schlimm empfindet

Mit 25 Jahren schloss Karin Oertle ihr Studium ab. Ein Volontariat im Triemli-Spital in Zürich führte zum Ziel. Die blinde Seelsorgerin überzeugte und bekam ihre Lebensstelle im Waidspital. Heute sei Karin Oertle eine Institution im Waidspital, sagt Brigitte Hauser. Niemand habe so viele Kontakte wie sie. «Bei der Planung des Dankesessens für die freiwilligen Helferinnen und Helfer macht Karin einen Telefonanruf und das Menu ist organisiert.»

Fällt es einem Menschen, der sich so anstrengen musste, leicht, mit den Klagen der Patientinnen und Patienten zurecht zu kommen? «Ich habe gelernt: schlimm ist das, was ein Mensch als schlimm empfindet», sagt Karin Oertle. Sie etwa schaudere beim Gedanken an eine Spritze.


Karin Oertle, katholische Spitalseelsorgerin im Zürcher Stadtspital Waid | © Eva Meienberg
15. März 2022 | 05:00
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