Der Moskauer Patriarch Kyrill
International

Der Brandbeschleuniger: Warum Patriarch Kyrill häretisch argumentiert

Ostkirchen-Kenner Reinhard Flogaus ist überzeugt: Der Moskauer Patriarch Kyrill glaubt nicht alles, was er in seiner Propaganda behauptet. Dennoch rüste der Patriarch verbal weiter auf: «Er verklärt den russischen Angriff auf die Ukraine zu einem eschatologischen Handeln in göttlichem Auftrag. Das ist eindeutig häretisch.»

Raphael Rauch

Wie ist es möglich, dass der Moskauer Patriarch den russischen Angriff auf die Ukraine immer wieder rechtfertigt?

Reinhard Flogaus*: Aus historischer Perspektive ist dies gar nicht so überraschend. Seit Jahrhunderten gibt es ein sehr, sehr enges Verhältnis zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Staat. Dies war schon im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zarenreich so und setzt sich bis zum heutigen Tag fort. Die orthodoxe Theologie hat für das von ihr vertretene Ideal einer gegenseitigen Unterstützung von Staat und Kirche den Begriff der «Symphonie» geprägt.

Reinhard Flogaus
Reinhard Flogaus

Und wie klingt diese «Symphonie»?

Flogaus: In Wirklichkeit gab es praktisch nie ein solches harmonisches, gleichberechtigtes Zusammenspiel von beiden. Gerade in Russland bestand über Jahrhunderte eine starke Abhängigkeit der Kirche vom Zaren. Dies ging so weit, dass Peter der Grosse 1721 das Patriarchenamt ganz abschaffte, um die Kirche der staatlichen Bürokratie unterwerfen zu können. In der Sowjetzeit setzte sich diese Abhängigkeit der Kirche von den staatlichen Machthabern weiter fort, zumindest auf der Ebene der Kirchenleitung. 

«Ohne eine loyale Zusammenarbeit mit den kommunistischen Funktionären war es nicht möglich, in höhere kirchliche Ämter zu gelangen.»

Wann wurde das Patriarchenamt wieder eingeführt?

Flogaus: 1917 für einige Jahre und dann wieder 1943 von Stalin. Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion liess er die Neuwahl eines Patriarchen zu. Das war ein rein strategisches Zugeständnis und änderte an der Abhängigkeit der Kirche nichts. Ohne eine loyale Zusammenarbeit mit den kommunistischen Funktionären war es bis 1990 überhaupt nicht möglich, in höhere kirchliche Ämter zu gelangen. Der jetzige Patriarch hat seine kirchliche Karriere in dieser Zeit begonnen, und er ist auch nach dem Ende der Sowjetunion diesem Prinzip eines engen Schulterschlusses zwischen Kirche und Staatsmacht treu geblieben.

Putin und Kyrill im November 2021.
Putin und Kyrill im November 2021.

Putin und Kyrill erscheinen manchmal fast wie siamesische Zwillinge. Warum hält der Patriarch auch angesichts des Krieges daran fest?

Flogaus: Tatsächlich hat der Patriarch am 20. November, seinem 76. Geburtstag, in einer Predigt erklärt, es bestehe zwischen ihm als Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche und dem russischen Präsidenten ein Konsens zu den aktuellen politischen Fragen. Nun gibt es ja schon seit langem Gerüchte über die gemeinsame Vergangenheit von beiden innerhalb des KGB, doch das entsprechende Archivmaterial ist nach wie vor unter Verschluss. Was wir aber wissen ist, dass Kyrill noch in seiner Zeit als zweiter Mann der russisch-orthodoxen Kirche das Prinzip der kirchlichen Erziehung der Gläubigen «im Geiste des Patriotismus» kirchlich hat festschreiben lassen. Die von ihm massgeblich entworfene «Sozialdoktrin» der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2000 verweist in diesem Zusammenhang auf die traditionelle kirchliche Verehrung der russischen Kriegerfürsten des Mittelalters und die Pflicht eines jeden Gläubigen zur Verteidigung des russischen Vaterlandes und seiner «über die Welt verstreuten Blutsbrüder».

Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.
Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.

Aber das kann doch kein Grund für eine Rechtfertigung von Putins Angriffskrieg sein!

Flogaus: Aus unserer Sicht selbstverständlich nicht, doch für den Moskauer Patriarchen schon. Kyrill rechtfertigt den Krieg einerseits politisch und historisch und andererseits, das wiegt natürlich noch schwerer, auch theologisch. Wider alle Fakten erklärt Patriarch Kyrill in seinen Predigten immer wieder, Russland oder die Heilige Rus sei von bösen, feindlichen Mächten angegriffen worden und müsse nun gegenüber dem Westen seine Freiheit und Unabhängigkeit verteidigen. Dabei vergleicht er den gegenwärtigen Angriff des Westens auf das Heilige Russland mit dem Russlandfeldzug Napoleons 1812 und dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Ebenso wie damals gehe es auch heute darum, den Feind aufzuhalten, die Grenzen des Vaterlandes zu verteidigen und für die Einheit des Heiligen Russlands zu kämpfen. 

«Kyrill vertritt eine Politik der Eingliederung aller Gebiete mit russischsprachiger Bevölkerung in die Russische Föderation.»

Was meint Kyrill mit dem Heiligen Russland?

Flogaus: Voraussetzung von Kyrills Narrativ alternativer Fakten ist seine Behauptung, dass die Russische Föderation zusammen mit Weissrussland, der Ukraine und im Grunde auch der Republik Moldau ein Volk und eine Nation sei, die Ende des 10. Jahrhunderts durch die Taufe der Kiewer Rus zum Christentum bekehrt worden sei. Dass die Russen seit der Auflösung der Sowjetunion in mehreren Staaten leben müssten, sei schlecht und schwäche das russische Volk, so Kyrill. Doch ebendies sei der Plan des Westens. Der Westen wolle nämlich die Ukraine aus der «Heiligen Rus» herausreissen und ebenso auch die eine russische-orthodoxe Kirche zerstören. Im Grunde vertritt auch Patriarch Kyrill einen politischen Irredentismus, eine Politik der Eingliederung aller Gebiete mit russischsprachiger Bevölkerung in die Russische Föderation. Am liebsten würde er – ebenso wie Putin – wieder ein grossrussisches Imperium haben.

Patriarch Kyrill I. 2016 in der russisch-orthodoxen Auferstehungskirche in Zürich.
Patriarch Kyrill I. 2016 in der russisch-orthodoxen Auferstehungskirche in Zürich.

Wenn Patriarch Kyrill immer wieder von der Heiligen Rus und von dem einen Taufbecken der Rus spricht, was meint er damit? 

Flogaus: Diese Termini sind sakral aufgeladen und betonen die Einheit von Religion und Nation, von orthodoxem Glauben und russischem Volk. Allerdings hat auch das wenig mit den historischen Fakten und erst recht wenig mit der gegenwärtigen Situation zu tun. In der Russischen Föderation gibt es seit Jahrhunderten auch andere religiöse Gruppen. Und ein Viertel aller Russinnen und Russen sind heutzutage religionslos. Das «Heilige Russland» und das «eine Taufbecken» sind ganz offensichtlich Schlüsselbegriffe eines neoimperialistischen Narrativs im Kampf gegen die westliche Zivilisation. Damit wird unter der Hand aus dem Angreifer Russland das Opfer Russland, das seine heilige, durch die Taufe begründete Einheit gegen den angeblich gottlosen und dekadenten Westen verteidigen muss.

«Die Tolerierung von Homosexualität und die Abhaltung von Gay-Paraden sei unvereinbar mit den Werten der Orthodoxie.»

Fängt Kyrills theologische Rechtfertigung des Krieges schon beim Begriff «Heiliges Russland» an?

Flogaus: Das Narrativ vom «Heiligen Russland» dient bei Kyrill als pseudohistorisches Fundament der eigentlichen theologischen Rechtfertigung. Der Patriarch hat gleich zu Beginn des Krieges Huntingtons Theorie eines «Clash of Civilizations» sakralisiert und erklärt, es gehe in der Ukraine um die Frage des Heils, um einen metaphysischen Kampf für die Wahrheit und gegen die Sünde. Der Westen, so der Patriarch, wolle den Menschen im Donbass nämlich seine sündhaften Werte aufzwingen und verlange von ihnen die Tolerierung von Homosexualität und die Abhaltung von Gay-Paraden. Dies sei unvereinbar mit den Werten der Orthodoxie und der russischen Welt. Und deshalb müsse Russland nun den leidenden Glaubensbrüdern in der Ukraine zu Hilfe kommen. Diese geradezu aberwitzige Begründung des Krieges ist dann einige Monate später auch von Präsident Putin aufgegriffen worden.

Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.
Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.

Inwiefern?

Flogaus: Der russische Präsident hat in seiner Rede anlässlich der Annexion der vier ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischja am 30. September im Kremlpalast den gegenwärtigen Kampf «für das grosse historische Russland» mit dem Schutz künftiger Generationen vor der Propagierung von «Perversionen» verteidigt, welche zum «Aussterben» der Menschheit führen würden. Gemeint war damit einerseits die westliche Tolerierung von Homosexualität, andererseits aber auch die vom Westen propagierte Genderpolitik und die Behauptung, es gebe neben Mann und Frau noch weitere Geschlechter. All dies, so Putin, bedeutete den Umsturz des Glaubens und der traditionellen Werte, ja, es handle sich hierbei um eine Pervertierung der Religion und um «Satanismus». Offenbar setzt nun auch der russische Präsident auf die Religion und auf die sogenannten «traditionellen Werte», um angesichts der unpopulären Teilmobilisierung weiterhin die Menschen von der Notwendigkeit des Ukrainekrieges zu überzeugen. 

Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.
Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.

Die russische Duma hat ja vor wenigen Tagen ein Gesetz beschlossen, das die positive Darstellung von Homosexualität in der Literatur, der Kunst und den Medien generell verbietet.

Flogaus: Hieran hat die Kirche massgeblich mitgewirkt. Bei der Anhörung zu dem Gesetzesentwurf in der Staatsduma erklärte der russisch-orthodoxe Erzpriester Andrej Tkatschew, der selber aus der Ukraine stammt, dieses Gesetz gegen die «sodomitische Ethik» sei die Voraussetzung für den Sieg Russlands bei der Spezial-Operation in der Ukraine. Gott schenke nämlich den Sieg nur denen, die dieses Sieges auch moralisch würdig seien. Russland habe auch der Moral des Westens den Krieg erklärt, und deswegen sei dieses Gesetz eine wichtige Voraussetzung für den Sieg auf dem Schlachtfeld.

Pro-Ukraine-Protest vor der russischen Vertretung in Genf.
Pro-Ukraine-Protest vor der russischen Vertretung in Genf.

Welche weiteren theologischen Legitimierungen des Krieges sind in den letzten Monaten bei Kyrill zu finden?

Flogaus: Seit einigen Monaten schon fordert der Moskauer Patriarch die Gläubigen auf, den Heiligen Georg, die Gottesmutter und vor allem den Erzengel Michael, Gottes obersten «Heerführer» und «Schutzpatron aller, die mit Waffen umgehen», anzurufen, damit Russland in der Ukraine den Sieg erringen möge. Solange die russischen Soldaten in diesem Kampf zwischen Gut und Böse auf der Seite des Guten stünden, so Kyrill, könnten sie der göttlichen Unterstützung gewiss sein. Und noch eine weitere Gewissheit hat der Patriarch seinen Gläubigen Mitte September verkündigt: Wenn an der Spitze des Staates ein orthodox getaufter Gläubiger stehe, dann sei «das Land vor jeder Art von militärischen Abenteuern sicher», dann sei gegebenenfalls die Anwendung militärischer Gewalt nicht nur «sittlich, sondern auch geistlich gerechtfertigt». Ein solches Land werde «niemals Kriegsverbrechen begehen». Und wiederum zwei Wochen später, nach Putins Verkündigung der Teilmobilisierung, erklärte der Patriarch schliesslich, dass jene Soldaten, die in Erfüllung ihrer militärischen Pflicht sterben, sich nach dem Vorbild Christi für andere opferten, und dass dieses Opfer alle Sünden, die der Mensch begangen habe, «abwaschen» würde. 

Mai 2022: Eine Ausstellung in Davos zeigt Gewalt und Zerstörung in Charkiw und Kramatorak.
Mai 2022: Eine Ausstellung in Davos zeigt Gewalt und Zerstörung in Charkiw und Kramatorak.

Eine solche Aussage ergibt nach christlicher Lehre keinen Sinn.

Flogaus: Bei diesem Versprechen des Patriarchen handelt es sich eindeutig um eine Häresie. Hier wird die Wirkung der Sündenvergebung, die mit dem Kreuzestod Christi verbunden ist, auf den Tod von Soldaten ausgeweitet. Das ist nicht nur Kriegspropaganda der übelsten Sorte, sondern auch häretisch. Im Übrigen erinnert diese Aussage auch fatal an das Ablassversprechen, das von Papst Urban II. 1095 mit dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug verbunden worden war. Damals wurde vom Papst den Kreuzrittern unter dem Motto «Gott will es» der Nachlass aller Sünden und ein «nie verwelkender Ruhm im Himmelreich» versprochen.

Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.
Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.

Der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch findet, dass bereits die religiöse Legitimation des Krieges eine Häresie sei, weil dies der christlichen Grundüberzeugung widerspreche.

Flogaus: Ich war lange vorsichtig mit der Verwendung des Wortes «Häresie» im Hinblick auf die Haltung des Moskauer Patriarchen zum Ukraine-Krieg. Auch die bereits Mitte März von orthodoxen Theologen veröffentlichte «Erklärung zur Lehre von der Russischen Welt» hat ja diesen Vorwurf gegen den Patriarchen gleich mehrfach erhoben. Allerdings hat der Patriarch vieles von dem, was ihm die in Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung von 1934 verfasste Erklärung zu Russkij-Mir-Lehre vorwirft, so gar nicht gesagt. Ich habe es daher vorgezogen, Kyrills Rechtfertigung des Krieges und seine Sakralisierung Russlands als «gotteslästerlich» zu bezeichnen, so wie das die EKD-Ratsvorsitzende und der deutsche Bundespräsident auch getan haben. Doch mit dieser Äusserung des Patriarchen zum Soldatentod und seiner sündenvergebenden Wirkung hat sich auch meine Sicht verändert. Und es sind inzwischen ja noch andere Punkte hinzugekommen.

"Public Eye" macht auf Verbindungen von Patriarch Kyrill zur Schweiz aufmerksam.
"Public Eye" macht auf Verbindungen von Patriarch Kyrill zur Schweiz aufmerksam.

Was meinen Sie damit?

Flogaus: Nun, der Patriarch hat am 25. Oktober in einer Rede vom dem sogenannten «Weltkonzil des Russischen Volkes», einer kirchlichen Organisation, davon gesprochen, dass es angesichts der westlichen Bagatellisierung der Sünde als einer blossen «menschlichen Verhaltensvariante» um «die Zukunft der Menschheit» gehe. Der Patriarch kritisierte damit die staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Die Zukunft der Menschheit hänge davon ab, ob man sich für die traditionellen und spirituellen Werte oder für den säkularen Universalismus entscheide. 

Kreuz auf Regenbogenfahne
Kreuz auf Regenbogenfahne

Was erhofft sich Kyrill vom «Gayropa»-Bashing?

Flogaus: Für ihn geht es bei dieser Auseinandersetzung um einen Kampf gegen den «Herrscher der Finsternis». Solange es aber Russland noch gelinge, Widerstand gegen all diese zerstörerischen Tendenzen zu leisten und in Treue zum Glauben und zur Tradition das Vaterland Russland als eine «Insel der Freiheit» zu erhalten, so lange werde auch der Rest der Welt ein Zeichen der Hoffnung und eine Chance haben, das drohende globale apokalyptische Ende zu verhindern. Mit diesen Worten spielte der Patriarch auf Paulus’ zweiten Brief an die Thessalonicher an. »Katechon» ist jene endzeitliche Macht, welche den Widersacher Gottes, den Antichristen, einstweilen noch aufhält. Damit verklärt der Patriarch den russischen Angriff auf die Ukraine zu einem eschatologischen Handeln in göttlichem Auftrag. Auch dies halte ich eindeutig für häretisch.

Reinhard Flogaus
Reinhard Flogaus

Glaubt Kyrill, was er predigt – oder geht’s ihm um Propaganda?

Flogaus: Dass Patriarch Kyrill tatsächlich all das glaubt, was er sagt, halte ich für eher unwahrscheinlich. Klar ist aber, dass er mit der Vorstellung von Russland als endzeitlichem «Katechon» eine Denkfigur aufgreift, die die russischen Ultranationalisten schon seit Jahren propagieren. Alexander Dugin, der Spiritus Rector der politischen Ideologie der «Russischen Welt», hat hierfür 2015 mit anderen Gesinnungsgenossen zusammen eine eigene Zeitschrift gegründet. Nach Beginn des Angriffs auf die gesamte Ukraine erklärte Dugin dann, der Kampf um den Donbass, Odessa, Kiew und Lemberg sei eine endzeitliche Schlacht – und die Apokalypse habe begonnen. 

Teufelsfratze
Teufelsfratze

Wie sieht dieses Propaganda-Weltbild aus?

Flogaus: Nach der Pest – der Corona-Pandemie – folge nun der zweite apokalyptische Reiter – der Krieg. Schon im April dieses Jahres stilisierte Dugin den Krieg in der Ukraine – wie jetzt Präsident Putin und Patriarch Kyrill – zu einer Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Satanismus. In der Ukraine kämpfe Russland für die Herrschaft Christi in der Ukraine und gegen die teuflische Herrschaft des Westens unter dem Antichristen Selenskyj. Nicht Russland brauche die Ukraine, wohl aber Christus. 

Papst Franziskus küsst in Kasachstan das Enkolpion von Metropolit Antonij Sevrjuk.
Papst Franziskus küsst in Kasachstan das Enkolpion von Metropolit Antonij Sevrjuk.

In den letzten Tagen ist im russischen Staatsfernsehen allen Ernstes diskutiert worden, ob Selenskyj selbst der Antichrist sei oder doch nur einer seiner Dämonen. Hängt dies damit zusammen?

Flogaus: Selbstverständlich haben wir es hier mit gezielter Kriegspropaganda des Kremls und seiner Politideologen zu tun. Die Religion, die doch dem Frieden dienen sollte, wird von Dugin, Putin und leider auch von Patriarch Kyrill selbst derzeit als Brandbeschleuniger eingesetzt. Dass nun neben die Kriegsziele Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine auch deren «Entsatanisierung» treten muss, ist seit Putins Annexionsrede in Russland immer wieder zu hören. Als erster hat der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow, der den Krieg in der Ukraine schon länger zum «Dschihad» erklärt hatte, eine solche Forderung erhoben. Aber auch Aleksej Pawlow, der stellvertretende Sekretär des Russischen Sicherheitsrates, hat unlängst in einem Aufsatz nachzuweisen versucht, dass die satanischen Kulte in der Ukraine überhandnähmen und Russland dieses Land deshalb «entsatanisieren» müsse. Im Übrigen sei auch der Umsturz 2014 ein Werk dieser neuheidnischen Kräfte gewesen. 

Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.
Wladimir Putin bekreuzigt sich in der Osternacht 2022.

Warum kommt es jetzt, nach mehr als neun Monaten, zu einer solchen religiös-apokalyptischen Interpretation des Ukrainekrieges?

Flogaus: Zum einen wird die Situation in der Ukraine auch für die dort operierenden russischen Einheiten immer apokalyptischer. Die militärischen Erfolge bleiben aus, es müssen bereits eingenommene Gebiete wieder geräumt werden, und die Zahl der Verluste an Menschenleben werden inzwischen ein immenses Ausmass haben. Da versucht man eben, mit Hilfe apokalyptischer Propaganda doch noch irgendwie die Notwendigkeit der Fortführung dieses Krieges zu plausibilisieren. Ganz konkret aber ist diese religiöse Propagandaoffensive sicherlich die Antwort des Kremls auf die zahlreichen Razzien des ukrainischen Geheimdienstes SBU, die derzeit in den Gemeinden der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) durchgeführt werden. 

Christus-Ikone in Bern.
Christus-Ikone in Bern.

Der ukrainische Geheimdienst wirft orthodoxen Priestern vor, für Putin zu arbeiten.

Flogaus: Obwohl sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche Ende Mai als unabhängig vom Moskauer Patriarchat erklärt hat und nun Ende November auf einer weiteren Synode auch die eigene Zubereitung des Heiligen Myrons, des sakramentalen Salböls, beschlossen hat, was eigentlich für die Orthodoxen Kirchen das Symbol der vollständigen kirchenrechtlichen Selbständigkeit ist, misstraut der ukrainische Staat dieser Kirche. Man vermutet – teilweise sicher nicht ganz zu Unrecht –, dass sich in den Reihen ihres Klerus immer noch Unterstützer Russlands oder gar Informanten finden, die mit militärischen und zivilen russischen Einheiten kollaborieren. Ein Teil ihrer Geistlichen sind auch nach wie vor russische Staatsbürger. Die grosse Masse der Gläubigen dieser Kirche leidet jedoch unter den fortgesetzten russischen Angriffen genauso wie alle übrigen Ukrainer und lehnt den russischen Imperialismus ab.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Will nicht Präsident Selenskyj diese Kirche sogar verbieten lassen?

Flogaus: Tatsächlich ist ein solcher Vorschlag von der Partei des ehemaligen Präsidenten Poroschenko ins Parlament eingebracht worden. Demzufolge soll die UOK verboten werden und die mit ihr rivalisierende, seit 2019 autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) zur einzigen Kirche erklärt werden, die sich in der Ukraine «orthodox» nennen darf. Ich hoffe sehr, dass auch dieses Gesetzesvorhaben nicht beschlossen und umgesetzt wird. 

«Ein solches Gesetz könnte die Orthodoxie in der Ukraine noch tiefer spalten.»

Warum ergreifen Sie Partei für die UOK?

Flogaus: Alles andere wäre nur Wasser auf Moskaus Propagandamühlen und somit für die Position der Ukraine kontraproduktiv. Ein solches Gesetz könnte die Orthodoxie in der Ukraine noch tiefer spalten, als sie das jetzt schon ist, nämlich nicht nur auf der Ebene ihrer Hierarchie, sondern auch auf der Ebene ihrer Gläubigen. Präsident Selenskyj selbst hat die ukrainische Regierung inzwischen angewiesen, binnen zwei Wochen einen eigenen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der gewährleisten soll, dass religiöse Organisationen in der Ukraine nur dann tätig werden können, wenn sie nicht mit «Einflusszentren» in der Russischen Föderation verbunden sind. Die UOK hat ja schon Ende Mai ihre völlige Unabhängigkeit von Moskau erklärt, so dass sie die Bedingungen eines solchen Gesetzes erfüllen sollte. Im Übrigen ist am 1. November bereits ein ähnliches Gesetz in Lettland in Kraft getreten, nachdem sich die dortige Orthodoxe Kirche zuvor ganz ohne Protest für vom Moskauer Patriarchat unabhängig erklärt hatte.

Uspenski-Höhlenkloster auf der Krim.
Uspenski-Höhlenkloster auf der Krim.

Wie bewerten Sie die Sanktionen gegen neun Bischöfe durch die Ukraine?

Flogaus: Die konkreten Vorwürfe gegen die einzelnen Personen sind bislang nicht klar. Bei den drei Bischöfen der Krim und einen Bischof aus der Region Luhansk dürfte der Grund der Sanktionierung damit begründet worden sein, dass sie nach der Loslösung der UOK vom Moskauer Patriarchat um die Aufnahme ihrer bislang zur UOK gehörenden Diözesen in die ROK gebeten hatten. Anderen wird offenbar Kollaboration mit Russland oder die Rechtfertigung des russischen Überfalls auf die Ukraine zur Last gelegt. Die allermeisten der mit Sanktionen belegten Kleriker halten sich entweder in der Russischen Föderation oder in den von Russland besetzten Gebieten auf. Dies trifft allerdings nicht auf den prominentesten Kleriker auf dieser Liste zu, Metropolit Pawlo Lebid, den Abt des Kiewer Höhlenklosters. Was ihm konkret zur Last gelegt wird, ist mir derzeit noch nicht bekannt. Es bleibt zu hoffen, dass die ukrainische Regierung sich nicht anschickt, die gesamte UOK zu kriminalisieren oder unter Generalverdacht zu stellen. Dies würde, ebenso wie die staatliche Übergabe des Höhlenklosters an die OKU, nur den russischen Nationalisten und Patriarch Kyrill in die Hände spielen.

Ostergottesdienst mit Kyrill I., russisch-orthodoxer Patriarch
Ostergottesdienst mit Kyrill I., russisch-orthodoxer Patriarch

Wie hat Patriarch Kyrill auf die Massnahmen der ukrainischen Sicherheitskräfte reagiert?

Flogaus: Eine konkrete Reaktion des Patriarchen auf diese Vorgänge ist mir bislang nicht bekannt. Was den Ukraine-Krieg anbelangt, so hat er zuletzt am vergangenen Donnerstag in der Erlöserkathedrale in Moskau eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus der Volksrepublik Donezk empfangen und ihnen die Liebe zum «grossen russischen Vaterland», zur Orthodoxen Kirche und die Bereitschaft zur Verteidigung der russischen Heimat und des russischen Volks eingeschärft. Der Donbass, so Kyrill, sei jetzt «die vorderste Verteidigungslinie der Russischen Welt», die überall dort zu finden sei «wo Menschen leben, die in den Traditionen der Orthodoxie und in den Traditionen der russischen Moral erzogen wurden.» Den Kindern im Alter von fünf bis 17 Jahren verkündete der Patriarch sodann ungerührt, er habe den Eindruck, dass sie «an der vordersten Front des Kampfes» stünden und dadurch etwas lernten, was anderen jungen Menschen, die in friedlichen Verhältnissen leben, fehle.

Reinhard Flogaus (57) lehrt Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Ostkirchenkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin.


Der Moskauer Patriarch Kyrill | © Keystone
6. Dezember 2022 | 16:25
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