Der Moskauer Patriarch Kyrill I. (links) und Metropolit Hilarion.
Theologie konkret

Hallensleben vergleicht Hilarion mit Bonhoeffer: Warum das problematisch ist

Die Freiburger Professorin Barbara Hallensleben verteidigt in einem Aufsatz Metropolit Hilarion. Dieser war bis vor kurzem der zweitmächtigste Mann der russisch-orthodoxen Kirche. Ostkirchen-Kenner Reinhard Flogaus findet Hallenslebens Aufsatz lesenswert, aber apologetisch.

Raphael Rauch

Welchen Eindruck hatten Sie nach der Lektüre von Barbara Hallenslebens Aufsatz?

Reinhard Flogaus: Ich fand ihr Dossier interessant. Auch wenn ich vieles daraus schon kannte, waren etliche Details für mich noch neu. Ich schätze Frau Hallensleben und ihr Engagement für die Orthodoxie sehr, hatte aber dennoch beim Lesen den Eindruck, dass dieser Text recht apologetisch geraten ist. Frau Hallensleben versteht sich offenbar als Anwältin von Metropolit Hilarion und versucht, die positiven Dinge, die für ihn sprechen, darzulegen. Das ist für einen Anwalt, der einen Angeklagten verteidigt, auch legitim, aber das ist eben nicht unbedingt eine objektive Sicht. Manche Dinge fehlen mir in diesem Dossier, andere Dinge lassen sich durchaus auch anders interpretieren. Aber insgesamt halte ich dieses Dossier durchaus für lesenswert, wenngleich eben auch für kommentierungswürdig.

Reinhard Flogaus
Reinhard Flogaus

Was meinen Sie damit?

Flogaus: Nun, Frau Hallensleben ist seit vielen Jahren mit Metropolit Hilarion akademisch eng verbunden. Sie hat ihm die Habilitation in Freiburg im Üechtland ermöglicht und sicher auch die Verleihung der Titularprofessur im Jahr 2011. Und sie hat 2006 dem damaligen Vorgänger von Metropolit Hilarion als Leiter des Kirchlichen Aussenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche, dem jetzigen Patriarchen Kyrill, einen Preis verliehen. Der Preis wurde von ihr selbst, einem Freiburger Kollegen und dem damaligen Direktor des Ostkirchlichen Instituts in Regensburg gestiftet und heisst «Silberne Rose».

Die Freiburger Dogmatikprofessorin Barbara Hallensleben
Die Freiburger Dogmatikprofessorin Barbara Hallensleben

Was hat es mit diesem Preis auf sich?

Flogaus: Diese Auszeichnung soll eigentlich Personen würdigen, welche mit ihrem Wirken die Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar werden lassen und die zur Versöhnung beitragen. Durch die derzeitigen Äusserungen von Patriarch Kyrill zum Ukrainekrieg, aber eben auch durch die Weigerung von Metropolit Hilarion, sich gegenüber dem Dekan der Freiburger Theologischen Fakultät klar von dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands zu distanzieren, ist natürlich auch Frau Professorin Hallensleben persönlich betroffen.

Mariano Delgado
Mariano Delgado

Aber konnte Mariano Delgado als Freiburger Dekan überhaupt eine Verurteilung des Krieges durch Metropolit Hilarion erwarten?

Flogaus: Nun, er hat dies ja Anfang März getan, noch bevor Patriarch Kyrill in einer Predigt in Moskau den Krieg gegen die Ukraine als einen «metaphysischen Kampf» gegen die Sünde gerechtfertigt hat. Damals konnte man noch hoffen, die Moskauer Kirchenleitung würde sich für eine Einstellung der Kampfhandlungen aussprechen. Inzwischen wissen wir es ja leider besser. Metropolit Hilarion hat sich selbst nicht klar gegen den Krieg positioniert. Und doch hat er meiner Meinung schon seit längerem erkannt, was für katastrophale Folgen Kyrills Haltung für die russisch-orthodoxe Kirche insgesamt hat – bis hin zur Loslösung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat Ende Mai. Zuvor hatten sich schon Metropolit Jean, das Oberhaupt der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa, und Metropolit Mark von Berlin und Deutschland, das derzeitige kommissarische Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, nachdrücklich von der Position des Patriarchen distanziert und den Krieg verurteilt. 

Der russische Patriarch Kyrill in der Osternacht.
Der russische Patriarch Kyrill in der Osternacht.

Heisst das: Man kann dem Patriarchen sehr wohl öffentlich widersprechen?

Flogaus: Obwohl Metropolit Hilarion sich nicht wie diese Hierarchen gegen Russlands Krieg in der Ukraine aussprechen wollte, verlor er doch kurze Zeit später sein Amt und wurde zum Metropoliten von Budapest degradiert. Das ist die erste Tragik Hilarions. Hätte er in dieser Situation ein klares Wort gesagt, hätte er natürlich auch auf sein Amt verzichten müssen. Er hätte, wie es Patriarch Bartholomaios im Hinblick auf den Moskauer Patriarchen formuliert hat, als Christ in dieser Situation um des christlichen Bekenntnisses willen seinen Thron opfern müssen. Professorin Hallensleben spricht hingegen diesbezüglich etwas abschätzig von einem «Heroismus», mit dem niemandem gedient sei.

«Gerade in einer solchen Situation müssen alle Christen sich klar zur Botschaft des Evangeliums bekennen.»

Hat sie in diesem Punkt Recht?

Flogaus: Ich glaube gerade nicht, dass dies eine nutzlose oder gar unverantwortliche Haltung wäre, mit der man sich selbst lediglich aus der Affäre zöge. Sondern ich bin der festen Überzeugung, dass in einer solchen Situation alle Christen, erst recht aber die kirchlichen Hierarchen, sich klar zur Botschaft des Evangeliums bekennen müssen und gerade nicht schweigen dürfen.

Metropolit Hilarion am 27. Mai 2022 in Moskau.
Metropolit Hilarion am 27. Mai 2022 in Moskau.

Sie haben von einer ersten Tragik gesprochen. Welche weitere Tragik sehen Sie bei Hilarion?

Flogaus: Die zweite Tragik ist, dass Hilarion leider auch nach seiner Versetzung nach Budapest nicht die Chance genutzt hat, sich nunmehr doch deutlicher zu seiner Überzeugung – die ich ihm jetzt mal unterstelle – zu bekennen, dass nämlich dieser Krieg falsch und evangeliumswidrig, ja ein Verbrechen ist. Stattdessen hat er sich erneut nur sehr verklausuliert geäussert und unter anderem auf das Beispiel von Metropolit Philipp von Moskau verwiesen, der im 16. Jahrhundert den Zaren kritisierte, weil dieser unschuldiges Blut vergossen hatte. Philipp musste hierfür mit seinem Leben bezahlen. Hilarion, der jetzt im sicheren Bereich der EU lebt, würden hier keinerlei Repressionen drohen, und doch ist er dem Beispiel Philipps nicht gefolgt. Es wäre für die Glaubwürdigkeit von Hilarion, aber natürlich auch für die der Russischen Orthodoxen Kirche insgesamt sehr wichtig, dass ein weiterer hochrangiger Vertreter dieser Kirche eine andere Position einnimmt als der gegenwärtige Patriarch. 

«Das Stichwort Exil führt einen falschen Heroismus in die Darstellung Hilarions ein.»

Der Titel von Barbara Hallenslebens Aufsatz lautet: «Metropolit Hilarion im Exil». Wie finden Sie den Titel?

Flogaus: Ich finde, dass dieser Titel die Leserinnen und Leser dieses «Dossiers» auf eine grundlegend falsche Spur setzt. Hilarion ist nicht freiwillig ins Exil gegangen, weil er sich nicht dem Regime oder seiner Ideologie beugen wollte, und er ist auch nicht ausgebürgert worden, wie etwa der von Barbara Hallensleben erwähnte Sergej Bulgakow. Er wurde auf einen anderen Posten ins Ausland versetzt und er hat diese Versetzung ohne öffentliche Kritik akzeptiert und sich dem Beschluss des Heiligen Synods gebeugt. Das Stichwort «Exil» führt meines Ermessens nun wirklich einen falschen Heroismus in die Darstellung Hilarions ein, der nicht von den Fakten gedeckt ist.

Dietrich Bonhoeffer ist das Gesicht der Bekennenden Kirche. Er widersprach den "Deutschen Christen".
Dietrich Bonhoeffer ist das Gesicht der Bekennenden Kirche. Er widersprach den "Deutschen Christen".

Barbara Hallensleben vergleicht Hilarion auch mit Dietrich Bonhoeffer, der im KZ umkam. Ist dieser Vergleich passend?

Flogaus: Ich halte diesen Vergleich für nicht angemessen. Bonhoeffer hat sich klar gegen die Ideologie des Nationalsozialismus, aber auch gegen die Deutschen Christen gestellt – eine Glaubensgemeinschaft, welche die völkisch-nationalsozialitische Ideologie mit dem Protestantismus verbunden hat. Er wurde dadurch zu einem der Gründerväter der Bekennenden Kirche und er hat hierfür letztlich mit seinem Leben bezahlen müssen. Er wurde in gewisser Weise zu einem Märtyrer, einem Blutzeugen, weil er sich gerade nicht schweigend aus der Affäre gezogen hat. Hilarion aber hat seit Beginn des Krieges keine klare Position bezogen.

«Das ist enttäuschend und nährt auch gewisse Zweifel, was Hilarion wirklich denkt.»

Barbara Hallensleben findet, das sei zu viel verlangt. Sie erkennt in Hilarions Predigten einen verklausulierten Widerstand – wenn er etwa über Rasputin predigt. Dieser habe den Zaren vor einem Kriegseintritt gewarnt – doch der habe nicht auf Rasputin gehört.

Flogaus: Diese Bemerkung stammt vom 20. März, als Hilarion noch in Russland war, wo jedem, der im Hinblick auf die Ukraine von einem Krieg spricht, Gefängnis droht. Aber inzwischen ist er seit zwei Monaten in der EU und er schweigt weiterhin. Das ist enttäuschend und nährt auch gewisse Zweifel, was er wirklich denkt. Selbst wenn ihm der Patriarch die Zuständigkeit für die Metropolie Ungarn auch noch entziehen würde, könnte er sich als international angesehener Theologe eine neue Existenz in England, Frankreich oder auch in der Schweiz aufbauen, zumal wenn er den Krieg verurteilt.

Barbara Hallensleben besuchte 2019 mit dem damaligen deutschen Aussenminister Heiko Maas Metropolit Hilarion (links) in Moskau.
Barbara Hallensleben besuchte 2019 mit dem damaligen deutschen Aussenminister Heiko Maas Metropolit Hilarion (links) in Moskau.

Warum ist Hilarion nicht so unschuldig, wie er in Barbara Hallenslebens Aufsatz erscheint?

Flogaus: Seit mehr als einem Jahrzehnt hat Hilarion die Russkij-Mir-Ideologie unterstützt und sass auch im Kuratorium der jetzt mit EU-Sanktionen belegten gleichnamigen Stiftung. Zwar ist es richtig, dass er selbst stets betont hat, dass er die nationale Selbstbestimmung der Völker der ehemaligen Sowjetunion und die jetzigen Staatsgrenzen nicht in Frage stelle, sondern nur für die alleinige kirchliche Zuständigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche für alle Orthodoxen in diesen Ländern eintrete. Doch von der militärischen Annexion der Krim und der gewaltsamen Abspaltung der Gebiete im Donbass, die explizit im Namen der Einheit der «Russischen Welt» vollzogen wurden, hat er sich auch nicht distanziert. 

Papst Franziskus bei einem Treffen mit Hilarion Alfejew 2021, damals noch Leiter des Aussenamtes des Moskauer Patriarchats.
Papst Franziskus bei einem Treffen mit Hilarion Alfejew 2021, damals noch Leiter des Aussenamtes des Moskauer Patriarchats.

Können Sie das belegen?

Flogaus: Ich war dabei, als er in Freiburg auf Einladung von Frau Hallensleben 2019 einen Vortrag über Russland, Weissrussland und die Ukraine als «gemeinsamen Zivilisationsraum» hielt, der im Kontext der Entstehung der neuen autokephalen Orthodoxen Kirche in der Ukraine stand. Hilarion hat damals kein Wort verloren über den Auslöser dieser Entwicklung, die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass. Die militärischen Konflikte in Transnistrien, Süd-Ossetien und Abchasien wurden von ihm als ausschliesslich innerethnische Konflikte und als Folge des Zerfalls der Sowjetunion dargestellt. Auch gab es kein Wort von Hilarion über das militärische, politische und finanzielle Engagement Russlands, um diese Abspaltungen zu stabilisieren und die davon betroffenen Staaten zu destabilisieren. Und auch in historischer Hinsicht wies dieser von Frau Hallensleben in ihrem «Dossier» erwähnte Vortrag Hilarions eine einseitige und verzerrende Darstellung auf, etwa wenn Hilarion die immer weitere Ausdehnung des russischen Imperiums in der Neuzeit damit erklärte, dass «sich immer mehr Länder dem russischen Staat anschlossen». Sollte Metropolit Hilarion tatsächlich glauben, dass es in der Vergangenheit keine Eroberungskriege gab – so wenig wie Russland heute einen Angriffskrieg führt? 

Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.
Video-Konferenz in Rom im März 2022: Papst Franziskus und Kardinal Kurt Koch mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill und Metropolit Hilarion.

Klingt ganz nach Patriarch Kyrill…

Flogaus: Dies würde tatsächlich bestens zur Position von Patriarch Kyrill passen, der vor kurzem in der Kathedrale der Russischen Streitkräfte erklärt hat, dass Russland so gut wie nie einen Angriffskrieg geführt habe, und wenn doch, dann nur zur Verteidigung der Rechte eines Brudervolkes. Diese zahlreichen Parallelen zwischen beiden Hierarchen, übrigens auch hinsichtlich ihrer Ablehnung des westlichen Liberalismus und des Festhaltens an den sogenannten traditionellen Werten, fehlen in dem «Dossier» von Frau Hallensleben völlig.

* Reinhard Flogaus (57) lehrt Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Ostkirchenkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin. 

Im Interview mit kath.ch kommentiert er einen Aufsatz der Freiburger Ökumene-Expertin Barbara Hallensleben. In der «Herder Korrespondenz» dokumentiert diese die Entmachtung des einstigen Aussenbeauftragten der russisch-orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion. Dieser wurde von Patriarch Kyrill degradiert und nach Budapest versetzt. Mit Hilarion verbindet Barbara Hallensleben eine jahrelange Freundschaft.


Der Moskauer Patriarch Kyrill I. (links) und Metropolit Hilarion. | © zVg
7. August 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 7 Min.
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