Frau am See - Symbolbild.
Story der Woche

Denise Nussbaumer: «Ich wollte, dass man mich vor dem Täter schützt»

Der «Beobachter» hat schwere Fehler beim Umgang mit Missbrauch im Bistum Basel aufgedeckt. Denise Nussbaumer (Pseudonym) hat den Prozess als «kafkaesk» und «zynisch» erlebt. Die Stellungnahme des Bistums hat sie «positiv überrascht», eine persönliche Entschuldigung ist bisher allerdings ausgeblieben. Es bleiben viele offene Fragen.

Annalena Müller

Frau Nussbaumer, hat sich Bischof Felix Gmür bei Ihnen entschuldigt?

Denise Nussbaumer*: Nein. Ich kenne zwar die Stellungnahme des Bistums, aber von dieser habe ich aus den Medien erfahren. Bei mir persönlich hat sich das Bistum nicht gemeldet.

Nachdem der «Beobachter» Ihren Fall publik gemacht hat, hat das Bistum öffentlich Fehler eingeräumt. Wie ist das bei Ihnen angekommen?

Nussbaumer: Mich hat die Stellungnahme positiv überrascht. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass das Bistum auf die Veröffentlichung reagieren wird. Dass sie sogar inhaltlich auf den Fall eingegangen ist und Fehler einräumte, hat mich ebenfalls positiv überrascht. Andere Bistümer haben in vergleichbaren Fällen auch nach Veröffentlichungen in den Medien weiter gemauert.

Bischof Felix Gmür.
Bischof Felix Gmür.

Alles gut gemacht, also?

Nussbaumer: Das würde ich so nun nicht sagen. Bischof Gmür gesteht in der Stellungnahme Fehler ein. Aber er schiebt die Verantwortung auf den Offizial ab, der angeblich alle Fehler gemacht habe. Auch äussert der Bischof zwar deutlich seine Betroffenheit, aber zu einer Entschuldigung konnte er sich weder in der Stellungnahme noch im Brief an die Seelsorgenden durchringen.

«Weil ich alles nur aus den Medien erfahre, habe ich das Gefühl, dass ich als Opfer weiterhin keine Rolle spiele.»

Würden Sie sich eine direkte Entschuldigung des Bischofs wünschen?

Nussbaumer: Das wäre schön, ja. Weil ich selbst alles nur aus den Medien erfahre, habe ich das Gefühl, dass ich als Opfer weiterhin keine Rolle spiele.

Sie haben sich 2018 erstmalig an eine offene Beratung gewandt, gut 20 Jahre nach den Vorfällen. Was war der Anlass?

Nussbaumer: Mir wurde mit Mitte 20 das erste Mal bewusst, dass das, was mir als Minderjährige angetan wurde, sexueller Missbrauch war. Aber auch nach dem Bewusstwerden, habe ich es immer wieder verdrängt. Irgendwann ist mir das Verdrängen besonders in Zeiten von grossem Stress immer schlechter gelungen. 2018 war ich dabei, meine Dissertation abzuschliessen. Das war sehr stressig. Und auf einmal war das Thema so präsent, dass ich mich entschieden habe, Hilfe zu suchen.

Am Fluss unter Bäumen: Ein friedlicher Ort zum Reden.
Am Fluss unter Bäumen: Ein friedlicher Ort zum Reden.

Sie haben sich zunächst an eine Beratungsstelle gewandt.

Nussbaumer: Genau. Ich wusste, dass ich mit jemandem reden wollte. Ich habe mich dann an die unabhängige Beratungsstelle des Bistums Basel gewandt. Dort wurde ich von einer Frau betreut und konnte viele Gespräche führen. Das war damals eine grosse Hilfe.

Wie kam es, dass die Beratungsstelle Ihren Fall nicht gleich meldete?

Nussbaumer:  2018 musste die Beratungsstelle noch keine offizielle Meldung beim Bistum machen. Mir kam das entgegen, denn ich war zu dieser Zeit unsicher, ob ich das wollte. Ich hatte sicherlich auch Angst, vor dem Kontrollverlust. Zunächst wollte ich einfach mit einer Person reden, die mich versteht und die mir helfen konnte, mit all den Emotionen klar zu kommen.

«Ich wollte, dass man mich und andere vor ihm schützt.»

2019 haben Sie sich dann zu einer Meldung beim Bistum entschieden, warum?

Nussbaumer: Im Frühjahr 2019 war der Täter in der Schweiz zu Besuch. Er versuchte damals, mich zu kontaktieren. Das war ein unglaublicher Schock. Ich wollte nicht, dass er das darf. Ich wollte, dass man mich und andere vor ihm schützt. Er arbeitet in Nigeria bis heute mit Jugendlichen. Das war der konkrete Anlass. Ich hatte aber vorher schon hin und her überlegt, ob ich diesen Weg nicht gehen sollte.

Welche weiteren Faktoren sprachen für eine Meldung?

Nussbaumer: Ich habe damals eine Therapie gemacht. Und ich wollte, dass das Bistum meinen Anteil der Kosten übernimmt. Ich empfand es als unfair und emotional belastend, dass ich überhaupt therapeutische Hilfe brauchte. Und dass ich dafür selbst zahlen musste. Ich wollte, dass das Bistum Verantwortung übernimmt für das, was mir durch einen Priester angetan wurde. Eigentlich geht es aber um den Wunsch, dass Verantwortung übernommen wird, dass man mein Leid und das der anderen Betroffenen anerkennt, ohne Einschränkung und Ausflüchte.

«Eigentlich geht es um den Wunsch, dass Verantwortung übernommen wird, dass man mein Leid und das der anderen Betroffenen anerkennt, ohne Einschränkung und Ausflüchte.»

Wie hat das Bistum Basel auf Ihre Anfrage reagiert?

Nussbaumer: Der zuständige Personalleiter hat es intern abgeklärt. Dabei kam heraus, dass ich mich an die Kommission Genugtuung wenden könne. Das Bistum selbst leistet keine Zahlungen. Um bei der Kommission antragsberechtig zu sein, musste ich wiederum eine offizielle Meldung beim Bistum machen. Ich weiss bis heute nicht, ob ich diesen Schritt tatsächlich gegangen wäre, wenn der Täter 2019 nicht aktiv Kontakt gesucht hätte.

Wie ging es dann weiter?

Nussbaumer: Nach dem Kontaktversuch habe ich die nötigen Unterlagen eingereicht. Die Kommission Genugtuung hat meinen Fall als «schwerwiegend» eingestuft. Und das Bistum hat nach Eingang der Meldung die Voruntersuchung begonnen.

"Denise Nussbaumer" im August im Gespräch mit kath.ch.
"Denise Nussbaumer" im August im Gespräch mit kath.ch.

Wie haben Sie diese Phase empfunden?

Nussbaumer: Für die Voruntersuchung musste ich beim Bistum viele Unterlagen einreichen. Darunter auch detaillierte Beschreibungen der Missbräuche. Ich habe verstanden, warum das notwendig war, aber es war auch sehr belastend. Und als ich dann mehr so nebenbei erfuhr, dass Bischof Gmür alle Unterlagen – inklusive meiner Tagebucheinträge und den vom Bistum geforderten Beschreibungen der Missbräuche – an den Täter weitergegeben hatte, war ich in Schock.

«Ich wusste nicht, nach welchen Regeln das Bistum agiert.»

Sie hatten dem nicht zugestimmt?

Nussbaumer: Nein! Ich hatte der Weitergabe eines konkreten Dokumentes zugestimmt, welches dem zuständigen Weihbischof in Nigeria übergeben werden sollte. Zu wissen, dass der Täter all meine intimen Dokumente und dazu noch meine aktuellen Kontaktdaten hatte – das war schrecklich.

Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".
Kirchliche Kommunikation als "Blackbox".

Daraufhin haben Sie sich einen Anwalt genommen?

Nussbaumer: Ja. Ich hatte das Gefühl, dass ich alleine mit der Situation überfordert war. Ich wusste nicht, nach welchen Regeln das Bistum agiert. Und diese wurden mir auch nicht kommuniziert. Die kantonale Opferhilfe hat mir einen Anwalt empfohlen, an den ich mich wandte. Der Anwalt war spezialisiert auf sexuelle Straftaten. Aber er kannte sich mit der kirchlichen Paralleljustiz nicht aus. Deshalb konnte er mir am Ende nur begrenzt helfen.

«Rückblickend ist es gut, dass es alles schriftlich war, denn daher ist alles so gut dokumentiert.»

Wie muss man sich das vorstellen? Gab es Treffen zwischen Ihnen, dem Anwalt und Bistumsvertretern?

Nussbaumer: Nein, es lief alles per E-Mail. Und ein, zwei Mal auch über Telefon. Ein Treffen gab es nie. Es fühlte sich alles wie eine Blackbox an. Ich, oder dann mein Anwalt, schrieben und Wochen später bekam man eine Antwort. Aber es wurde nie proaktiv kommuniziert, wie das Prozedere abläuft. Es war alles sehr kafkaesk. Rückblickend ist es natürlich gut, dass es alles schriftlich war, denn daher ist alles so gut dokumentiert.

Wann haben Sie erfahren, dass die Voruntersuchung eingestellt wurde?

Nussbaumer: Dass ich es überhaupt erfahren habe, war reiner Zufall.

Inwiefern?

Nussbaumer: Irgendwann kam nichts mehr vom Bistum. Und mein Anwalt und ich dachten, «ok, wir kommen hier nicht weiter». Aber wir entschieden uns, noch einmal zu schreiben. Wir wollten, dass das Bistum sich an den Anwaltskosten beteiligt. Schliesslich musste ich mir nur einen Anwalt nehmen, weil sie meine Dokumente an den Täter weitergereicht hatten. Daraufhin hat sich Bischof Felix Gmür tatsächlich selbst gemeldet – und sogar recht schnell.

«Ich habe dem Bischof geglaubt, dass die Einstellung des Verfahrens meine Schuld sei und ich habe mich wahnsinnig schlecht gefühlt.»

Bischöfliche Reaktion nur bei Geldforderung?

Nussbaumer: Es scheint so. Bischof Felix Gmür schrieb an meinen Anwalt und teilte ihm mit, dass sich das Bistum nicht an irgendwelchen Kosten beteiligen würde und dass das Verfahren eingestellt worden sei, weil ich Dokumente nicht beglaubigt hätte.

Heute wissen Sie, dass dies einer der Verfahrensfehler war – Sie mussten nichts beglaubigen und hatten auch sonst keine Verpflichtungen während der Voruntersuchung.

Nussbaumer: Ja, das weiss ich heute – dank der Recherchen des «Beobachter». Aber 2020 wusste ich das nicht. Ich habe mir unglaubliche Vorwürfe gemacht, dass ich mich nicht darum gekümmert hatte. Aber wissen Sie, es war mitten im Lockdown. Ich hatte keinen Zugang zu einem Drucker und mein Anwalt meinte damals – da der Offizial keine Frist genannt hatte – habe es keine Eile. Als die ausgebliebene Beglaubigung als Grund für die Einstellung der Voruntersuchung genannt wurde, war ich erschüttert. Ich habe dem Bischof natürlich geglaubt, dass die Einstellung des Verfahrens meine Schuld sei und ich habe mich wahnsinnig schlecht gefühlt.

Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.
Unheimliche Schattengestalt mit Kruzifix in einer Kirche.

Wieso haben Sie sich dann an die Presse gewendet?

Nussbaumer: Konkret ging es mir immer noch um die Weitergabe meiner Unterlagen an den Täter. Aber ich wollte auch verstehen, wie das alles abläuft. Auf welcher Grundlage man im Bistum Entscheidungen trifft. Und ich wollte, dass man mich als Betroffene endlich ernst nimmt und nicht abtut. Ich hatte es zunächst alleine versucht. Dann mit einem Anwalt. Und als das alles nicht zu Antworten geführt hatte, dachte ich, versuche ich es mit der Presse. Ich verfolge die Aufarbeitung der Missbräuche im deutschsprachigen Raum sehr genau. Daher wusste ich, dass die Presse da oft mehr schafft, als eine Person alleine.

Das hat ja dann auch funktioniert…

Nussbaumer: Ja und nein. Ich habe zunächst mit Natalia Widla zusammengearbeitet. Sie ist freie Journalistin und kennt sich sehr gut mit sexualisierter Gewalt aus. Aber das System Kirche, Kirchenrecht und die internen Mechanismen waren ihr fremd. Wir haben dann gemerkt, dass es von aussen schlicht nicht zu durchschauen ist.

«Ich wollte, dass man mich als Betroffene endlich ernst nimmt und nicht abtut.»

Wir haben schliesslich Otto Hostetter vom «Beobachter» dazu geholt. Einfach, weil er Erfahrung mit der Kirche hat. Er kennt Leute, die sich auskennen – Kirchenrechtler vor allem. So habe ich dann überhaupt erst herausgefunden, dass die Untersuchung nicht hätte eingestellt werden dürfen und dass das Bistum den Fall an Rom hätte übergeben müssen. Und dass es nicht meine Schuld war, sondern dass die zuständigen Personen im Bistum versagt haben.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das erfahren haben?

Nussbaumer: Ich war sauer. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Ich lese und arbeite mit akademischen Texten – die sind auch oft unnötig kompliziert formuliert. Ich dachte, es muss mir doch gelingen zu verstehen, wie die Abläufe und Mechanismen der Kirche und des kirchlichen Strafrechts sind. Ich habe sogar im Kanonischen Recht gelesen, um es zu verstehen. Aber es ist mir als Aussenstehende nicht gelungen. Und ich habe immer noch viele Fragen, die auch jetzt nach dem Artikel im «Beobachter» nicht klar sind.

«Die Kirche hat ihre eigenen Spielregeln. Sie erwartet von mir, dass ich nach diesen Regeln mitspiele. Ich kenne aber die Spielregeln nicht und sie verraten sie mir auch nicht.»

Zum Beispiel?

Nussbaumer: Wie es jetzt weitergeht. Was heisst es, dass der Fall in Rom ist? Wann und wie entscheidet das Dikasterium für die Glaubenslehre? Wird auch im Bistum Basel der Fall nochmal aufgerollt, wegen der Verfahrensfehler oder hat das damit nichts zu tun? Und was heisst das Ganze für mich? Werde ich angehört? Erfahre ich überhaupt von dem Ergebnis? Oder behandeln sie es weiter wie ein innerkirchliches Thema? Ein Thema, das die Menschen nichts angeht, die als Betroffene ein Leben lang die Konsequenzen zu tragen haben?

Es bleibt eine Blackbox…?

Nussbaumer: Ja. Die Kirche hat ihre eigenen Spielregeln. Sie erwartet von mir, dass ich nach diesen Regeln mitspiele. Ich kenne aber die Spielregeln nicht und sie verraten sie mir auch nicht. Und im Nachhinein finde ich heraus, dass sich nicht mal die Kirche an die eigenen Spielregeln hält. Das ist unglaublich zynisch.

*Denise Nussbaumer ist ein Pseudonym. Der richtige Name ist der Redaktion kath.ch bekannt. Alle erwähnten Vorgänge wurden im Verlaufe des Interviews mit Originaldokumenten belegt.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und staatlichen Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene finden Sie hier.

Für eine unabhängige Beratung ist die «Opferhilfe Schweiz» zu empfehlen.


Frau am See – Symbolbild. | © Pexels.com/Leah Kelley
1. September 2023 | 06:00
Lesezeit: ca. 8 Min.
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