Kardinal Kurt Koch
Vatikan

«Das Reformationsgedenken erinnerte uns an das, was uns verbindet»

Rom, 10.10.17 (kath.ch) Kardinal Kurt Koch (67), früherer Bischof von Basel, ist seit dem 1. Juli 2010 Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen. In einem Interview mit der katholischen Nachrichtenagentur in Rom (CIC) zieht er seine Bilanz des Reformationsgedenkjahres, sagt, warum es auch das Christusfest genannt wird und wirft einen Blick in die ökumenische Zukunft.

Roland Juchem

Herr Kardinal, das Gedenk- oder Jubiläumsjahr «500 Jahre Reformation» geht zu Ende. Wie lautet Ihre persönliche Bilanz?

Kardinal Koch: Sehr positiv ist, dass es ein gemeinsames Gedenken war mit sehr wenig polemischen Tönen, die es in der Vergangenheit oft gegeben hat. Dann die Konzentration auf das Gemeinsame, indem man sich in Deutschland dafür entschieden hat, das Reformationsgedenken als Christusfest zu feiern. Das war meines Erachtens die beste ökumenische Idee.

Ist das Christusfest gelungen?

Koch: Im Laufe der zehn Jahre der Vorbereitung immer besser. Im Anfang hatte ich etwas den Eindruck, es drehe sich alles um Luther. Im Gedenkjahr selbst ging es dann doch mehr um das, was uns vor allem verbindet: der Glaube an Jesus Christus.

«Das war ein starkes ökumenisches Zeichen.»

Sie haben an Reformationsgedenken in verschiedenen Ländern teilgenommen. Welche unterschiedlichen Akzente haben Sie dabei erlebt?

Koch: Unterschiedliche, denn es gab ja nicht nur die Reformation in Deutschland. Die in der Schweiz war anders als in Deutschland. Nochmals anders war sie in den nordischen Ländern, wo die Reformation keine Volksbewegung war, sondern ein Entscheid der staatlichen Obrigkeit. Für mich war der Höhepunkt in Lund in Schweden am 31. Oktober 2016, wo Papst Franziskus und der Präsident und Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes dem lutherisch-katholischen Reformationsgedenken gemeinsam vorgestanden sind. Dies war ein starkes ökumenisches Zeichen.

Der Kölner Erzbischof, Kardinal Woelki, hat unlängst den Stand der Ökumene kritisiert: Grundlegende Unterschiede schlicht in sich «wechselseitig bereichernde Dimensionen» umdeuten zu wollen, sei «Etikettenschwindel». Teilen Sie die Einschätzung?

Koch: Beim Reformationsgedenken ist vor allem betont worden, was uns gemeinsam ist; aber es bleiben nach wie vor offene Fragen. Ich selbst habe den Vorschlag gemacht, dass wir uns nach der Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre auf den Weg machen sollten zu einer neuen Gemeinsamen Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt.

Wir sind uns einig über Christus – aber nicht über seinen Leib.

Ich bin dankbar, dass diese Initiative von verschiedenen Seiten positiv aufgenommen worden ist. Der amerikanische Dialog zwischen Lutheranern und Katholiken hat bereits ein diesbezügliches Dokument veröffentlicht – und heute habe ich eine neue umfangreiche Schrift aus Finnland auf meinem Pult vorgefunden. Zu den Themen von Kirche, Eucharistie und Amt hinzu kommen die ethischen Fragen, in die wir uns in den ökumenischen Dialogen vermehrt vertiefen sollten, um auch bei diesen Fragen eine gemeinsamere Sicht zu erarbeiten. Dies sind genau die Fragen, die auch Kardinal Woelki angesprochen hat.

Könnte man den Stand der Ökumene so zuspitzen: Über Gott sind wir uns einig; aber nicht über die Kirche?

Koch: Ich würde es theologischer, biblischer formulieren: Wir sind uns einig über Christus, aber wir sind uns noch nicht einig über seinen Leib, nämlich die Kirche. Beides gehört unlösbar zusammen, da Christus in seinem Leib gegenwärtig sein will und ist. Das Verhältnis zwischen Christus und seinem Leib ist aber noch immer eine offene Frage.

Als ein Haupthindernis der Ökumene wird oft genannt, evangelische und katholische Seite hätten keine gemeinsame Vorstellung vom Ziel der Ökumene. Wie würden Sie das Ziel formulieren?

Koch: Das ist in der Tat das Hauptproblem. Wir haben bei vielen Glaubensfragen Konsens erreicht, aber noch nicht darüber, was denn das Ziel ist. Ohne gemeinsames Ziel fällt es aber schwer, die jeweils nächsten Wegetappen ins Auge zu fassen. Das Problem besteht darin, dass auf beiden Seiten heute dieselbe Formel verwendet wird, aber in einem anderen Sinn.

Die «versöhnte Verschiedenheit»?

Koch: Ja. Für viele evangelische Christen, so höre ich es, ist damit die Beschreibung der heutigen Situation gemeint: Wir sind bereits versöhnt, bleiben aber verschieden und sollten uns nur noch gegenseitig als Kirche anerkennen; dann wäre das Ziel erreicht. In katholischer Sicht ist «versöhnte Verschiedenheit» eine Zielbestimmung: wir müssen die noch offenen Fragen bearbeiten, so dass sie nicht mehr kirchentrennend sind. Wenn sie versöhnt sind, können die Unterschiede durchaus bleiben.

«Entscheidend ist, was wir leben. Nicht, was im Glaubensbekenntnis steht.»

In der katholischen Tradition kennen wir den Einfluss der Liturgie und des gelebten Glaubens auf die Dogmenentwicklung: etwa bei Taufformel und Trinitätslehre, Marienverehrung und Mariendogmen. Gibt es etwas Ähnliches in der Ökumene?

Koch: Der Konsens in Glaubensfragen und das Leben des Glaubens im Alltag und in der Liturgie gehören auch in ökumenischer Hinsicht zusammen. Je mehr Menschen den Glauben gemeinsam leben und feiern, desto mehr kommen sie auch zu gemeinsamen Glaubenseinsichten. Wichtig ist dabei vor allem, dass man beide Wirklichkeiten nicht auseinanderreisst nach dem Motto: Entscheidend ist, was wir leben, und nicht was im Glaubensbekenntnis steht.

Aus den reformatorischen Anstössen von Luther, Zwingli und Calvin hat sich eine innerevangelische Dynamik entwickelt hin zu den vielen Freikirchen, die zum Teil sehr grossen Zulauf haben. Sind diese Gemeinschaften eine angemessenere oder zumindest attraktivere Form, heute das Christentum zu leben als die traditionellen Kirchen?

Koch: Das scheint auf den ersten Blick so zu sein. Denn wir stellen bei den freikirchlichen, besonders pfingstlerischen Bewegungen (Pentekostalismus, Anm. d. Red.) ein grosses Wachstum fest. Der Pentekostalismus ist heute die zweitgrösste christliche Realität nach der Römisch-katholischen Kirche. Man könnte von einer Pentekostalisierung des Christentums oder einer vierten Form des Christseins sprechen: katholisch, orthodox, protestantisch und jetzt pentekostalisch. Ich glaube aber nicht, dass diese Bewegungen in der Zukunft die einzige Gestalt des Christentums sein werden. Denn auch sie zehren von den historischen Grosskirchen und können diese nicht einfach ersetzen.

Was aus dieser Bewegung könnte für die katholische Kirche befruchtend sein?

Koch: Für die Pfingstkirchen sind die konkrete Erfahrung des Glaubens im alltäglichen Leben und vor allem der Glaube an das Wirken des Heiligen Geistes zentral. Dies kann man von der abendländischen Tradition gewiss nicht im gleichen Sinn sagen; wir leiden in unserer herkömmlichen Tradition nicht an einer pneumatologischen Überernährung. Diesbezüglich könnten wir von den Pfingstbewegungen durchaus einiges lernen.

80 Prozent der Menschen, die aus Glaubensgründen verfolgt werden, sind Christen.

Vor allem Begeisterung?

Koch: Ja, Begeisterung im ursprünglichen Sinn des Lebens in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Eng damit zusammen hängt, dass Glaube und Werktag keine getrennten Welten darstellen, dass der Glaube vielmehr im Alltagsleben eingebettet ist.

In den vergangenen Jahren war oft von einer Ökumene der Märtyrer die Rede: Christen werden verfolgt, getötet unabhängig von ihrer Konfession. Wo haben Sie das besonders stark erlebt?

Koch: Die Ökumene der Märtyrer ist auch für mich die zentralste Herausforderung in der Ökumene, zumal heute achtzig Prozent aller Menschen, die aus Glaubensgründen verfolgt werden, Christen sind. Die Ökumene der Märtyrer war bereits ein wichtiges Thema bei Papst Johannes Paul II., der während der braunen und roten Diktatur erfahren hat, dass wir Christen zusammengehören.

Dieses Thema findet heute eine gute Fortsetzung bei Papst Franziskus, der immer wieder an die Lübecker Märtyrer erinnert und die Herausforderung durch die Märtyrer heute einmal so formuliert hat: «Wenn die Diktatoren uns Christen im Tod vereinen – wie kommen wir dann dazu, dass wir uns im Leben trennen?».

In diesem Jahr gedenkt die Schweiz 600 Jahre Nikolaus von der Flüe. Entfremdet solch ein Gedenken ökumenisch weiter oder hilft es doch, sich anzunähern?

Koch: Es hat zwei bedeutende Ereignisse gegeben, die ökumenisch sehr geholfen haben. Das eine war der ökumenische Gottesdienst am 1. April, an dem man der 500 Jahre Reformation und zugleich des 600. Geburtstags von Niklaus von Flüe gedacht hat und dem der Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, Pfarrer Gottfried Locher, und Bischof Felix Gmür von Basel vorgestanden sind. Ich selbst war gegen Ende September in Sachseln ebenfalls zu einem ökumenischen Gottesdienst mit Pfarrer Locher.

Beide Ereignisse haben sichtbar gemacht, dass Niklaus von Flüe nicht zwischen den Konfessionen steht, sondern sie miteinander verbindet und eint. Nikolaus von Flüe war ja eine vorreformatorische Gestalt, und sein Grundanliegen, den Frieden in Gott zu finden, ist ein ökumenisches Thema. Der Reformator Huldrych Zwingli beispielsweise hat Bruder Klaus nicht nur wegen seiner politischen Wirksamkeit geschätzt, sondern auch wegen seines Glaubenszeugnisses.

Zum Schluss ein Blick in die andere Richtung: Wo beobachten Sie bei orthodoxer und orientalischer Kirche am meisten ökumenische Bewegung?

Koch: Anfang September haben wir auf der griechischen Insel Leros den weiteren Dialog zwischen der Orthodoxie und der Katholischen Kirche geplant. Als Hauptthema haben wir festgelegt: «Auf dem Weg zur Einheit im Glauben: Theologische und kanonische Fragen». Als erste Frage, die dabei zu behandeln sein wird, haben wir die Frage von Primat und Synodalität im zweiten Jahrtausend und heute identifiziert. In diesem grösseren Zusammenhang wird dann auch das Problem des Uniatismus zu behandeln sein. Im Dialog mit den Orientalisch-Orthodoxen Kirchen besprechen wir momentan die Sakramente, vor allem die Initiationssakramente.

Wo gibt es neben dem theologischen Dialog ein stärkeres ökumenisches Miteinander?

Koch: Wer von Ökumene reden hört, denkt sofort an den theologischen Dialog. Dieser ist zwar wichtig, die Ökumene kennt aber verschiedene Felder. Beim Besuch des Russisch-orthodoxen Metropoliten Hilarion Ende September haben wir verschiedene gemeinsame Projekte wie Ausstellungen, Austausch von religiösen Gegenständen oder auch von Konzerten besprochen.

Dieser kulturelle Ökumenismus ist sehr wichtig, zumal sich in der Vergangenheit Ost und West nicht so sehr aus theologischen, sondern aus kulturellen Gründen getrennt haben. Von daher legt es sich nahe, sich auch auf kulturellem Gebiet wieder anzunähern – wie beispielsweise im vergangenen Dezember bei einem gemeinsamen Konzert des Moskauer Patriarchalchores und des Sixtinischen Chores in Rom.

Oder denken wir an die Reliquie des Heiligen Nikolaus, die von Bari für zwei Monate nach Russland gebracht worden ist, wo 2,5 Millionen Gläubige sie verehrt haben. Diese Ökumene der Heiligen ist ein guter Weg, auch die Gläubigen in die Ökumenische Bewegung hinein zu nehmen. Es ist gewiss schön, wenn die Oberhäupter verschiedener Kirchen sich begegnen. Für die Zukunft ist es aber entscheidend wichtig, dass die Gläubigen an diesen ökumenischen Entwicklungen partizipieren können. (cic)

Kardinal Kurt Koch | © Vera Rüttimann
10. Oktober 2017 | 12:47
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