Agnes Hirschi berichtet über ihre Rettung im Zweiten Weltkrieg
Konstruktiv

Dank Diplomatenschutz: Agnes Hirschi hat Holocaust und Krieg überlebt

Agnes Hirschi (84) ist eine Holocaust-Überlebende. «Ich habe Glück gehabt», sagt die Bernerin mit ungarisch-jüdischen Wurzeln vor rund 200 Jugendlichen in der Sekundarschule Hofern in Adliswil. Sie wurde nicht deportiert – dank dem Einsatz des Schweizer Diplomaten Carl Lutz in Budapest, ihrem späteren Stiefvater.

Regula Pfeifer

Die aktuellen Bombardierungen in der Ukraine gehen an Agnes Hirschi nicht spurlos vorüber. «Sie wecken Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in mir», sagt die lebhafte ältere Dame dem jugendlichen Publikum und verzieht ihr Gesicht.

Agnes Hirschi im Kaffeeraum der Sek- Lehrpersonen Adliswil ZH. Lehrerin Kirsten Hofer (links) hat den Schulanlass organisiert.
Agnes Hirschi im Kaffeeraum der Sek- Lehrpersonen Adliswil ZH. Lehrerin Kirsten Hofer (links) hat den Schulanlass organisiert.

Die 84-Jährige berichtet über ihr Leben, aber noch viel mehr über den Schweizer Judenretter von Budapest: Carl Lutz. Über diesen Diplomaten werde in der Schweiz viel zu wenig gesprochen, sagt sie. In Israel, Ungarn und in den USA sei er hingegen bekannt und werde verehrt. «Ich habe ihm auf seinem Totenbett versprochen, dass ich über seine Rettungsaktion informieren werde», sagt Agnes Hirschi. Das tut sie seit 20 Jahren – mit Ausstellungen und Vorträgen weltweit.

Beeindruckte Jugendliche

In der Aula der Sekundarschule Hofern in Adliswil sitzen rund 200 Schülerinnen und Schüler dicht gedrängt. Auch ein paar Lehrerinnen und Lehrer hören mit. «Dass Carl Lutz so viele Jüdinnen und Juden gerettet hat», habe ihn beeindruckt, wird Mirko am Schluss zu kath.ch sagen. «Der Schuss unters Bett, wo Agnes Hirschi versteckt war», hat Elena sehr beeindruckt. Die Drittseklerin findet es wichtig, dass solch schlimme Erfahrungen weitererzählt werden.

Die Jugendlichen in der Schule
Die Jugendlichen in der Schule

Ringsum im Raum sind rund ein Dutzend Plakate aufgestellt – mit Foto und Lebenslauf eines Holocaust-Überlebenden. Auch Agnes Hirschi ist auf einem dieser Plakate zu sehen. Carl Lutz stand Agnes Hirschi nahe – er wurde in Bern zu ihrem zweiten Vater. Ihre Mutter hatte ihn nach dem Krieg geheiratet. 1949 zogen Mutter und Tochter in die sichere Schweiz, nach Bern. Hier lernte das Mädchen in kurzer Zeit Deutsch und Französisch.

Den Kontakt zu ihrem leiblichen Vater in Budapest pflegte sie bis zu seinem Tod. «Ich bin immer wieder nach Ungarn gereist und spreche weiterhin ungarisch», sagt Hirschi. Deshalb will sie auch nichts über die aktuelle Politik dort sagen.

Unter dem Bombenhagel

Die heute 84-Jährige war sechs Jahre alt, als sie die starken Bombardierungen in Budapest miterleben musste. Sie versteckte sich mit ihrer Mutter und rund 30 Personen im Keller der Residenz des damaligen Schweizer Vizekonsuls. Das Haus wurde total zerstört, die Menschen überlebten. «Der Keller war tief im Boden und gut gebaut», sagt Hirschi.

Die Residenz des Vizekonsuls Carl Lutz wurde niedergebomt.
Die Residenz des Vizekonsuls Carl Lutz wurde niedergebomt.

Am Anfang hatte die Schicksalsgemeinschaft im Keller noch genug zu essen, Öllampen und Kerzen. Doch die Bombardierungen dauerten an, länger als erwartet. So war Sparen angesagt. «Wir sassen nun stundenlang im finsteren Keller, auch tagsüber», sagt Agnes Hirschi. «Das war für mich am schlimmsten.»

Der Schuss im Keller

Als die Bombardierungen aufhörten, trampelten russische Militärs die Treppe hinunter und verlangten Uhren und andere Wertsachen. «Meine Mutter hat mich schnell unter ein Bett gesteckt, damit ich diese furchterregenden Männer nicht sehen musste», erzählt Agnes Hirschi.

Die Schicksalsgemeinschaft, die im Keller des Diplomaten Carl Lutz (mit Hut) überlebte.
Die Schicksalsgemeinschaft, die im Keller des Diplomaten Carl Lutz (mit Hut) überlebte.

Dabei kam es zu einem Schreckensmoment, den sie nie vergessen wird. Plötzlich ging ein Schuss los, in die Richtung ihres Verstecks. Agnes Hirschi geriet in Panik, musste aber stillhalten. Auch ihre Mutter sei sehr bleich geworden, erfuhr sie später. Erst als die Männer gegangen war, kroch das Mädchen unversehrt hervor.

Schweizer Diplomat als Judenretter

Dass Agnes Hirschi überlebt hat, verdanke sie Carl Lutz, sagt die heute 84-Jährige. Der Schweizer Diplomat war 1942 nach Budapest beordert worden. Dort vertrat er auch kriegführende Staaten wie die USA und Grossbritannien.

Da gelang es dem Schweizer Vizekonsul, 10’000 jüdische Waisenkinder ins britische Mandatsgebiet Palästina auswandern zu lassen. Es waren Kinder von Eltern, die in Konzentrationslagern umgekommen waren, weiss Agnes Hirschi.

Im März 1944 marschierten die Nationalsozialisten in Ungarn ein, ihrem abtrünnigen bisherigen Kriegsverbündeten. Damit wurde es für Jüdinnen und Juden auch in Ungarn lebensgefährlich. Sie verloren alle Rechte, allen Besitz und wurden verfolgt. «Zwischen Mitte Mai und Anfang Juli wurden 440’000 jüdische Menschen aus ländlichen Gebieten nach Auschwitz deportiert», sagt Agnes Hirschi.

Schutzbriefe und gefälschte Ausweise

Damals wurde das Bürohaus, in dem Claus Lutz arbeitete, zum «Zentrum der Rettung», so Hirschi. Im sogenannten «Glashaus» stellten der Diplomat und sein Team Tausende Schutzbriefe für jüdische Menschen aus, die nach Palästina ausreisen sollten, sobald dies wieder möglich war. Die Schutzbriefe waren ein Kollektivpass, der auch als Ausweis gültig war. Im selben Haus fälschten jüdische Menschen «im grossen Stil» Ausweise. «Carl Lutz wusste das und drückte ein Auge zu», sagt Hirschi. Die Beteiligten standen unter konsularischem Schutz.

Ein Schutzbrief, ausgestellt vom Schweizer Konsulat
Ein Schutzbrief, ausgestellt vom Schweizer Konsulat

Im Herbst 1944 verschärfte sich die Situation. Die Bombardierungen und Deportationen nahmen zu. Da organisierte Carl Lutz rund 70 Schutzhäuser, in denen gut 20’000 Jüdinnen und Juden Zuflucht fanden.

Die Britin und ihre Mutter

Ihre Eltern kontaktierten Carl Lutz, um einen Schutzbrief für Agnes Hirschi zu erhalten. Sie sei bedroht gewesen, weil sie in Grossbritannien geboren war, wo ihre Mutter vorübergehend gewohnt hatte. Sie war also Britin durch Geburt. «Als Ausländerin drohte mir die Deportation.» Lutz versprach den Schutzbrief. «Aber für uns wollte er mehr tun», sagt Agnes Hirschi. Das habe vermutlich mit ihrer Mutter zu tun, so die Erzählerin: «Meine Mutter war eine schöne Frau».

Das Mädchen Agnes Hirschi (Mitte) neben ihrer Mutter und vor der Frau von Vizekonsul Carl Lutz.
Das Mädchen Agnes Hirschi (Mitte) neben ihrer Mutter und vor der Frau von Vizekonsul Carl Lutz.

Der Diplomat bot ihrer Mutter eine Stelle als Hausdame in seiner Residenz an. Von da an kamen Mutter und Tochter später in Carl Lutz’ Schutzkeller. Dort feierte das Mädchen am 3. Januar 1945 ihren siebten Geburtstag. «Carl Lutz hat mir dafür Schokolade aufbehalten», sagt sie. «Diesen Geburtstag werde ich nie vergessen.»

Carl Lutz mit Agnes Hirschi und einem Buben auf dem Schoss, 1944
Carl Lutz mit Agnes Hirschi und einem Buben auf dem Schoss, 1944

Agnes Hirschi projiziert eine Foto an die Wand. Darauf ist Carl Lutz mit der sechsjährigen Agnes auf dem Knie zu sehen. Nebenan ein Bub – der Sohn von Carl Lutz’ Chauffeur. Mit ihm spielte sie im Kellerversteck.

«Ich habe mich nie als Jüdin gefühlt.»

Agnes Hirschi, Holocaust-Überlebende

«Ich habe mich nie als Jüdin gefühlt», sagt Agnes Hirschi heute. Bereits ihre leiblichen Eltern seien «nicht fromme Juden» gewesen. Sie hätten bloss das Lichterfest Chanukka gefeiert. In der Schweiz lebte sie in einem christlichen Umfeld, nicht in jüdischen Kreisen. Sie heiratete, war Mutter und Hausfrau, arbeitete danach als Journalistin der «Berner Zeitung». Die Erlebnisse von früher verdrängte sie.

Erst als sie sich für Holocaust-Überlebende engagierte, kam sie in Kontakt mit jüdischen Menschen. Am Anlass «Zürich liest» hat sie kürzlich – pandemiebedingt verspätet – ihr Buch über Carl Lutz vorgestellt.

Agnes Hirschi Charlotte Schallié (Hg.): Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten, Limmatverlag 2020.


Agnes Hirschi berichtet über ihre Rettung im Zweiten Weltkrieg | © Regula Pfeifer
16. November 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Leitfaden für Lehrpersonen

Die Gamaraal-Stiftung stellt Schulen kostenlos Unterlagen, Ausstellungsmaterial und einen Leitfaden zur Verfügung, mit denen die leidvolle Holocaust-Geschichte vermittelt werden kann. Diese sind auch in Adliswil ZH zum Einsatz gekommen – etwa die Rollup-Ausstellung von Holocaust-Überlebenden. Die Stiftung hat seit Jahren Zeitzeugen befragt und vermittelt solche bis heute an interessierte Institutionen. (rp)