Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"
Schweiz

Christian Ringli: Bitte nicht stören! Oder doch, um für einen Augenblick uns selbst zu vergessen?

Wer hat schon Lust, im Alltag gestört zu werden? Und warum war es bei Maria, den Hirten und den Sterndeutern anders? Unterschiedliche Antworten auf der Gefühlsskala findet Radioprediger Christian Ringli.

Christian Ringli*

Bitte nicht stören! Oh nein, auch das noch! Es ist gerade sehr ungünstig. Bitte jetzt nicht stören!

Vermutlich kennen Sie solche Momente. Momente, in denen man seine Ruhe haben möchte und dann klingelt’s. Gerade an einem Feiertag wie heute hat man doch seine Vorstellung, wie der Tag in etwa ablaufen sollte. Besuche sind abgemacht oder es stehen gemütliche Stunden zu Hause auf dem Plan.

Neuer Schwung in meine aktuelle Misere

Aber auch an ganz gewöhnlichen Tagen geht es mir so: Wenn das Telefon oder sogar die Türglocke unerwartet klingelt oder nur schon ein Familienmitglied den Kopf zur Zimmertür reinsteckt, etwas fragt oder will, kenne ich auf meinem Gefühlsbarometer zwei Reaktionen:

Wenn ich mich gerade langweile, mich einsam fühle oder sonst irgendwie leichte Verzweiflungsanflüge spüre, kommen mir Störungen ganz gelegen. Vielleicht bringen Sie ja neuen Schwung in meine aktuelle Misere.

Auf einer Skala von 1 bis 10 mindestens eine 9!

Oder aber – und das geschieht weit häufiger: Wenn ich mich gerade ziemlich wohl fühle, mit der aktuellen Situation zufrieden oder sehr beschäftigt bin und genaue Pläne habe, reagiere ich verärgert und abweisend. Nein, bitte nicht! Jetzt kann ich grad niemanden gebrauchen, der in meine Welt eindringt. Für mich ist’s nämlich grad gut so, wie’s ist.

Den vollen Umfang dieses Gefühlsspektrums erleben auch die Menschen in der Weihnachtsgeschichte. Jener Geschichte, in der Gott – so könnte man sagen – an der Tür der Welt klingelt und konkret bei einzelnen Menschen anfängt – zum Beispiel den Hirten.

Die Hirten sind begeistert

Bei Ihnen klingelt’s nicht nur an der Tür, nein, es klingt der ganze Himmel, und er vermittelt Ihnen eine freudige Einladung: Kommt. Heute ist einer geboren, der der Ungerechtigkeit auf dieser Welt den Kampf ansagt. Der Ungerechtigkeit, von der ihr besonders betroffen seid. Die Hirten gehörten damals zur untersten Schublade der Gesellschaft, waren als Lügner verschrien und deshalb beispielsweise nicht als Zeuge vor Gericht zugelassen. Doch jetzt wird einer angekündigt, der diese Ungerechtigkeit sieht, der sie sieht und ihnen ihre Würde zurückgibt. Entsprechend gross war die Begeisterung der Hirten. Ich würde sagen: auf einer Skala von 1 bis 10 mindestens eine 9!

Es klingelt bei Maria

Doch nicht alle waren von diesem Anklopfen Gottes begeistert. Zum Beispiel Maria: Auch bei ihr hatte es an der Tür geklingelt. Doch die Botschaft des Engels war für sie kaum eine Glückspost: Unehelich schwanger! Anstelle der weiteren Vorbereitung eines schönen Hochzeitsfests mit ihrem Verlobten brachte diese Ankündigung nur Probleme – zumindest im ersten Moment. Wie sollte sie das jemandem erklären? Was wird Josef sagen? Wie kann sie für dieses Kind sorgen, wie es ernähren? Das riecht schwer nach Schwierigkeiten! Maximal eine 3 auf der Skala.

Es klingelt bei Herodes

Noch tiefer unten angesiedelt ist die Gefühlswelt des amtierenden Herrschers Herodes. Als dieser vernimmt, dass ein neuer König geboren sei, rutschen seine Emotionen auf minus-eins. Ein neuer König? Das bedeutet Gefahr, das bedeutet Konkurrenz, das bedeutet Krieg. Die grausame Härte seiner Massnahmen zeigt seine riesige Angst um seine Macht, die das Läuten der Weihnachtglocken bei ihm ausgelöst hat.

Es klingelt bei den Sterndeutern

Schliesslich gibt es in den Weihnachterzählungen der Bibel noch eine weitere Reaktion auf das Türklingeln von Gott – und diese hat es mir besonders angetan, weil sie so ganz anders war, als ich sie erwartet hätte: Die Sterndeuter aus dem Morgenland. Man weiss nicht viel über sie, ihr Auftreten bleibt ziemlich geheimnisvoll. Vermutlich stammten sie aus Babylonien, wo die Sterndeuterei – eine Mischung aus Astronomie und Astrologie – damals gerade hoch im Kurs war. Ihre Geschichte wird erst erzählt,als sie schon fast am Ziel bei der Krippe sind.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es ihnen ergangen sein muss, als Gott bei ihnen anklopfte. Es heisst, ein Stern sei am Himmel erschienen und sie haben daraus gedeutet, dass ein neuer König geboren werde.

Die Weisheit der Sterndeuter

Wie haben sie wohl auf diese Störung reagiert? Welche Gefühle machten sich da breit? Ihren Geschenken nach waren sie reich – gemäss der Tradition sogar Könige. Also ziemlich zufrieden mit ihrer aktuellen Lebenssituation: wohlhabend, gut situiert, passt so. Und dann kommt dieser Stern, den sie von ihrer Sänfte aus mit Cocktail in der Hand und plätscherndem Swimmingpool neben sich in der Abenddämmerung entdecken.

«Ach schau, ein Stern. Oh, das kommt jetzt gerade sehr ungelegen. Ich wollte doch morgen den neuen Springbrunnen montieren. Balthasar, was meinst du? Ach komm, König hin oder her. So wichtig wird’s nicht sein. Melchior, wenn wir diesem Stern folgen, wer schaut dann zum Palast? Nein. Völlig unrealistisch. Wir müssen hierbleiben – unbedingt! Und überhaupt: Ein neuer König? Wir sind doch Könige! Wir wollen nicht noch mehr Könige auf dieser Welt. Kaspar, willst du eine Karte schreiben und einfach zur Geburt gratulieren? Ah, du auch nicht.»

Bequem eingerichtetes Leben

So haben die Sterndeuter aus dem Morgenland bekanntlich nicht reagiert – und vielleicht war ja genau das die Weisheit, die man ihnen bis heute zuschreibt. Ich hätte nämlich erwartet, dass sie so reagieren, denn sie waren wohl jene Figuren der Weihnachtsgeschichte, die – zusammen mit Herodes – am wenigsten auf eine Veränderung der Situation erpicht waren und die im Gegensatz zu ihm das Ganze einfach unbeachtet an sich hätten vorbeiziehen lassen können. Ein Stern, was soll’s!

Aber nein, es ist, als ob sie spürten: Da geschieht etwas Bedeutsames. Etwas, das grösser ist als wir, unser Reichtum, unser bequem eingerichtetes Leben. Etwas, für das es sich lohnt aufzubrechen. Für das es sich lohnt, die Strapazen einer tage-, vielleicht monatelangen Reise auf sich zu nehmen. Und das taten sie dann auch.

Die Weihnachtsgeschichte rüttelt auf

Genau darin sehe ich eine Anfrage der Weihnachtsgeschichte an die, die sich zurzeit in der zufriedeneren Hälfte der Wohlfühlskala befinden: Antworte ich nicht mehr auf Gottes Klingeln in meinem Leben, weil es mir ja gut geht, weil ich mich gerade so gut eingerichtet habe? Manchmal beobachte ich bei mir selbst, wie die Kreise meines Alltags immer mehr um mein eigenes Ich zu kreisen beginnen. Und wenn’s dann so schön wohlig warm ist unter der Decke, ist’s, als habe ich ein rotes «Bitte nicht stören!»-Schild an meine Türe gehängt, das sagt: Jetzt läuft’s gerade gut. Lasst mich bitte in Ruhe!

Nicht so die Sterndeuter. Sie haben sich stören lassen, um ihr Leben auf diesen neuen König auszurichten. Nicht um ein Selfie mit ihm zu machen oder ein wenig ihr König-Netzwerk zu pflegen. Nein, sie brachen auf mit dem expliziten Ziel, diesen neuen König anzubeten, ihn ins Zentrum zu stellen.

An-der-Türe-Klingeln

Mit anderen Worten: Der Stern brachte sie dazu, ihren Reichtum, ihren Status auf ein Ziel ausserhalb von ihnen selbst auszurichten. Das ist – gerade für drei Könige – keine kleine Herausforderung. Und so ist es auch für mich und meine kleinen Königreiche, die ich mir manchmal einrichte, eine Herausforderung, wenn solche Sterne, solche Momente des An-der-Türe-Klingelns diesen «Klang der Hingabe» haben.

Die Weihnachtsgeschichte rät uns, bei diesem Klang besonders hellhörig zu sein. Denn dann stehen die Chancen gut, dass es Gott ist, der mich darin anspricht. Das wäre nämlich typisch für seine Art: dass er mich in ein Leben lockt, bei dem es um weit mehr geht als um mein eigenes Glück.

Die Euphorie der Sterndeuter

Und so endet die Geschichte der Sterndeuter denn auch mit einem wunderschönen Bild. Als sie das kleine Königskind tatsächlich finden, sagen sie nicht einfach «Hallo», sondern werfen sich vor ihm auf den Boden. In den Dreck. Mit ihren edlen Kleidern. Gestandene Männer, die sich vor jemandem niederwerfen. Das sieht man nicht alle Tage. Anstatt um ihr eigenes Glück zu kreisen, stellen sie ein kleines Kind in die Mitte ihres Kreises und sagen damit: Wir stehen hier nicht im Zentrum. Es geht nicht um uns.

Und das Verrückte dabei: Sie taten es nicht widerwillig, zähneknirschend mit einem «Wänn’s sii mues!» auf den Lippen. Der Bibeltext greift bei der Emotionsskala zu den Superlativen. Es heisst wörtlich «Sie freuten sich mit grosser Freude», was für das sonst sehr nüchterne Griechisch etwa soviel bedeutet wie: Sie waren ausser sich vor Freude! Euphorie ohne Grenzen. Auf einer Skala von 1 bis 10 mindestens eine 11.

Momente der Selbstvergessenheit

Das Bild dieser ausser sich vor Freude knienden Sterndeuter rund um die Krippe erinnert mich wie kein anderes daran, dass sich die grösste Freude dann ereignet, wenn wir vor lauter Hingabe an jemand anderen für einen Augenblick uns selbst vergessen. Solche Momente der Selbstvergessenheit wünsche ich Ihnen – gerade für den heutigen Weihnachtstag.

* Christian Ringli ist evangelisch-freikirchlicher Pastor bei «Bewegung Plus» in Grenchen.


Christian Ringli, Pastor «BewegungPlus» | © Manuela Matt
25. Dezember 2021 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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