Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter hat ein Buch geschrieben.
Schweiz

Christian Kelter: «Die Kirche hat den Anschluss an das 21. Jahrhundert verpasst»

Der Diakon Christian Kelter (53) hat ein Buch mit der Botschaft geschrieben: «Gott liebt uns bedingungslos.» Ein Gespräch über den Reformstau in der Kirche, seine Fussball-Leidenschaft – und warum er Cup-Cake-Katechese empfiehlt.

Wolfgang Holz

Wie fühlt es sich an, als neuer Pastoralraumleiter Zug Lorze agieren zu dürfen? Pastoralraum, das hört sich so gewaltig, so überdimensional an. Dabei geht es doch im Prinzip nur darum, den Pfarrermangel zu managen.

Christian Kelter* (lacht): Das mag ich so nicht sagen. Es geht in erster Linie darum, zusammen besser zu arbeiten, Synergien zu nutzen. Eine Pfarrei allein kann heute nicht mehr den komplexen Bedürfnissen von Menschen gerecht werden. Kirche ist ja viel mehr als der Gottesdienst am Sonntagmorgen.

Was ist Kirche noch?

Kelter: Kirche ist Leben aus dem Evangelium, ist Gemeinschaft, Dienst am Nächsten und der Welt. Kirche ist immer auch ein Raum, in dem Menschen persönlich wachsen können. Der Pastoralraum Lorze, zu dem die Kirchgemeinden Baar, Cham, Hünenberg und Steinhausen im Kanton Zug gehören, zählt rund 33’000 Kirchenmitglieder. Dies ist der grösste Pastoralraum im Kanton Zug. Das ist auch eine grosse Chance! Wir haben viele Möglichkeiten. Erfreulicherweise sind unsere Ressourcen im Kanton Zug ziemlich gut.

Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter segnet Velos.
Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter segnet Velos.

Haben Sie sich schon ein konkretes Projekt auf die Fahne geschrieben?

Kelter: Nein. Es gilt, zunächst mal eine Bestandsaufnahme zu machen und die Gesamtsituation zu analysieren. Für mich persönlich bedeutet es, dass ich von meinem Seelsorgepensum in Hünenberg an der katholischen Pfarrei Heilig Geist 20 Stellenprozent abgebe und dafür 20 Prozent für die Leitung des Pastoralraums übernehme. Ein Assistent unterstützt mich ab September dabei.

Bevor Sie vom Bistum Basel zum neuen Pastoralraumleiter erkoren wurden, ist Ihr erstes Buch erschienen: «Reboot». War das so geplant?

Kelter: Nein. Das ist parallel gelaufen und war reiner Zufall.

«Leidenschaften wollen sich immer ausdrücken.»

In Ihrem Buch kommen Sie am Anfang auf Ihre sportliche Leidenschaft zu sprechen. Ihr Herz schlägt seit Jahrzehnten für den «Effzeh», also den 1. FC Köln. Momentan steht die Geissbock-Elf in der Bundesliga auf Platz 8. Zufrieden?

Kelter: Sehr. Wenn man die turbulente Geschichte des 1. FC Köln in den letzten Jahren Revue passieren lässt, sind die fünf Punkte, die der Verein bisher eingefahren hat, eine schöne Ausgangsbasis für mehr. Ich wünsche mir, dass der «Effzeh» in dieser Saison nicht gegen den Abstieg kämpfen muss, sondern sich irgendwo im Mittelfeld klassieren kann. Das wäre eine wichtige Tabellenregion, um sich konsolidieren zu können.

Von Ihrer Leidenschaft zum Sport kommen Sie dann auf Ihre wahre Leidenschaft zu sprechen: Gott, das Evangelium, Jesus. Was haben diese beiden Leidenschaften gemein?

Kelter: Leidenschaften wollen sich immer ausdrücken. Die werden fast automatisch erlebbar beim Menschen. Nach dem Motto: Dafür schlägt das Herz dieses Menschen. Und die Geschichte des 1. FC Köln seit 1978 mit allen seinen Höhen und Tiefen, verursacht durch schlechtes Management und Misswirtschaft, passt irgendwo auch zu meiner Leidenschaft für die Kirche. Die schlittert seit Jahren ja auch von Krise zu Krise. Wie beim «Effzeh» frage ich mich oft: «Warum tu ich mir das an?» Aber es ist zu wenig, wenn man sich fremdschämend daneben stehen bleibt.

«Der Reformstau an allen Ecken und Enden – das ist schon schlimm!»

Das hört sich aber nicht gut an…

Kelter: Naja, die Missbrauchsverbrechen und ihre Nicht-Aufarbeitung, der Reformstau an allen Ecken und Enden – das ist schon schlimm! Es ist offensichtlich, dass die Kirche den Anschluss an das 21. Jahrhundert verpasst hat. Sie ist verhaftet in verkrusteten Strukturen. Es geht ja in der Kirche nicht nur um Transzendenz, den Glauben an Gott. Wer Gott verkünden will, muss erst einmal selbst glaubwürdig sein. Und da gälte es jetzt neue Signale zu setzen, Veränderungen in Gang zu bringen. Ich glaube fest, dass der Heilige Geist die Kirche führt. Wer auf Gott vertraut, kann also getrost auch mal Neuland wagen, der muss keine Angst haben.

Atmosphärisch: Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter.
Atmosphärisch: Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter.

Ihr Buch «Reboot», eine Art leidenschaftliches Glaubensbekenntnis der anderen Art, trägt den Untertitel: «Jetzt mehr Kirche wagen.» Wer soll da was wagen und warum?

Kelter: Ich habe das Buch zunächst mal für mich geschrieben. Ich arbeite jetzt über 20 Jahre in diesem Beruf. Ich wollte in der Tat so eine Art Credo für mich aufschreiben. Darüber nachdenken, wie diese Institution und meine Tätigkeit als Diakon mich geprägt haben. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass daraus ein Buch wird.

«Auch in unserer Pfarrei in Hünenberg geht es nicht so düster zu.»

Ihr Buch kommt einem beim Lesen als eine Mischung aus Motivationsfibel, Liebeserklärung an Jesus und Vademecum für eine lebendigere Kirche vor. Wollen Sie der Kirche eine Frischzellenkur verpassen?

Kelter: Ja, durchaus. Ich will sie allerdings anbieten, nicht verpassen. Es gibt abseits der Frustrationen über das, was in Rom, in der katholischen Kirche Schweiz und in Deutschland passiert, ganz viel Schönes und Hoffnungsvolles. Auch in unserer Pfarrei in Hünenberg geht es nicht so düster zu. Ich kann mit meinem Team Neuerungen einführen und Veränderungen für eine Seelsorge auf Augenhöhe mit den Menschen prägen. Mit meinem Buch möchte ich positive Zeichen setzen. Deshalb bringe ich auch konkrete Beispiele, wie Kirche, Glaube und das Evangelium lebendiger und menschlicher gelebt und erlebt werden können. Das Buch soll nicht nur ein Plädoyer sein. Es soll ermutigen!

Christian Kelter bei der Aufnahme eines Podcasts.
Christian Kelter bei der Aufnahme eines Podcasts.

«Reboot» heisst ja so viel wie Neustart. Sind Sie frustriert ob der zahlreichen Baustellen und Missstände in der katholischen Kirche wie Missbrauch, fehlendes Frauenpriestertum und Pflichtzölibat?

Kelter: Wie gesagt. Die Kirche als Gesamtorganisation bleibt weit unter ihren Möglichkeiten der Veränderung und Modernisierung. Die Aussendarstellung der Amtskirche ist eine Katastrophe. Es gibt häufig nur noch schräge Verlautbarungen. Zu wenige trauen sich etwas. Dabei geht es um die Verbreitung des Evangeliums. Um ein Leben in Fülle, wie Jesus gesagt. Leider ist uns in der Vergangenheit der Glaube und Religion sehr moralinsauer nahegebracht worden. Die Kirche ist aber keine Moralanstalt, sie hat den Auftrag, den lebendigen Gott zu verkünden, den Menschen zu erzählen, dass Gott uns bedingungslos liebt, ihnen Lust zu machen, dieser Liebe nachzuspüren.

«Dass man einfach mit irgendetwas anfängt, seinen Glauben zu leben. Dafür braucht man nicht einmal ein religiöses Bekenntnis.»

Sie machen in Ihrem Buch Gläubigen Mut, Jesus Christus und das Evangelium einfach zu leben. Wie meinen Sie das?

Kelter: Ich möchte darauf mit Frère Roger antworten. Der sagte einmal: «Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast.» Das ist auch das Leitmotiv von Jesus. Dass man einfach mit irgendetwas anfängt, seinen Glauben zu leben. Dafür braucht man nicht einmal ein religiöses Bekenntnis. Man kann auch im Privaten einfach ukrainischen Flüchtlingen helfen. So fängt es an: auf andere Menschen im Sinne von Jesus Christus und dem Evangelium zugehen.

Aber geht das denn ganz ohne kirchliche Organisationsstrukturen?

Kelter: Es braucht Formen und Strukturen. Es braucht Kirche. Sie soll helfen, dass Menschen das Evangelium als Realität erleben. Als die Wahrheit ihres Lebens. Eine Wahrheit, die sich konkret und höchstpersönlich auf das individuelle Leben bezieht. Wobei Kirche, abgeleitet von dem Wort ecclesia, ja nicht eine starre Struktur meint, sondern eine lebendige, quirlige und somit heilige Gemeinschaft. Man trifft sich in dieser Art von Kirche mit Gleichgesinnten. Dazu gehören sicherlich gottesdienstliche Feiern. Aber Kirche ist grundsätzlich kein institutioneller Begriff, sondern eine Versammlung von Menschen, die Gott suchen. Man kann Religion auch in kleineren Gruppen erleben, wie zum Beispiel in der Familie.

Der Hünenberger Seelsorger segnet Kinder an Ostern.
Der Hünenberger Seelsorger segnet Kinder an Ostern.

Apropos Familie und Religion. Sie prägen in Ihrem Buch den schönen Begriff von der «Cupcake-Katechese». Was ist das und wie funktioniert das im Alltag?

Kelter: Wir in der Pfarrei Heilig Geist versuchen Kirche so zu gestalten, wie sie Menschen in Hünenberg brauchen. Die Frage lautet: «Was brauchst du, um einen nächsten Schritt in deinem Glauben zu machen?» Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir die Erstkommunion der Kinder nicht in der Schule oder in der Pfarrei vorbereiten, sondern in Familiengruppen. Da kann und soll der Glaube ja konkret gelebt werden. Wir stellen zur Unterstützung erfahrene und geschulte Begleitpersonen. Denn so eine Erstkommunion in der Familie hat das Potential, viel relevanter und prägender zu werden als alles andere, was wir von aussen anbieten können. Vor einigen Jahren überraschte uns eine Familie eines Erstkommunionkindes mit der Aussage: «Vielen Dank! Wir sind in diesem Jahr als Familie im Glauben weiter vorangekommen.» Das muss das Ziel sein! Und das erreichen wir nur auf dem individuellen Weg der Cup-Cake-Katechese.

«Mit dem Glauben ist es wie mit dem Essen. Jede und jeder hat seinen Geschmack.»

Wie meinen Sie das?

Kelter: Mit dem Glauben ist es wie mit dem Essen. Jede und jeder hat seinen Geschmack. Man weiss selbst am besten, was man mag, was guttut, was nährt. Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich.  So ist es auch mit dem Evangelium. Es muss unterschiedlich portioniert und angerichtet werden, damit es Menschen verkosten können. Und so wie es eben viele verschiedene Sorten von Cup-Cakes gibt – deren Basis aber immer die gleiche ist –, so sollte die Kirche auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sein.

Der Theologe Christian Kelter ist auch ein grosser Fussballfan: Sein Herz gehört seit Jahrzehnten dem "Effzeh".
Der Theologe Christian Kelter ist auch ein grosser Fussballfan: Sein Herz gehört seit Jahrzehnten dem "Effzeh".

Unterm Strich wirkt Ihr Buch ein bisschen wie eine Bergpredigt. Mit vielen Ausrufezeichen. Glauben Sie, Ihr Buch kann Gläubige aufrütteln, ermutigen und die Kirchen wieder füllen?

Kelter: Kirchen füllen kann es sicher nicht. Das wäre eine Illusion. Ich hoffe vielmehr, dass es Menschen bei ihrer Suche nach Gott ermutigt. Ein Leser meines Buches meinte, es sei erfrischend geschrieben. Das Buch soll nicht frustrieren. Mein Team und ich wollen unsere Arbeit für das Reich Gottes maximal gutmachen. Die Qualität der Beziehung zu den Menschen ist dabei ein wichtiger erster Schritt, damit sich Menschen auf Gott einlassen können. Damit sie Gott näherkommen. Wir müssen dabei nicht unbedingt die grossen Performer sein. Es geht einzig darum, dass so viele Menschen wie möglich das Evangelium, Gottes Vision von der Welt, kennenlernen, ihr Leben auf Gott hin ausrichten und damit wiederum die Welt prägen.

* Der Diakon Christian Kelter ist als Pastoralraumleiter im Bistum Basel tätig. Die Präsentation seines Buches findet am heutigen Montag, 29. August, um 19.30 Uhr, in der Heilig-Geist-Kirche in Hünenberg statt. SRF-Moderator Norbert Bischofberger wird durch den Abend führen.

Sein Buch «Reboot – jetzt mehr Kirche wagen» ist im Echter-Verlag erschienen.


Der Hünenberger Seelsorger Christian Kelter hat ein Buch geschrieben. | © Heike Witzgall
29. August 2022 | 11:27
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