Samuel Schmid (l.), Chef der Armeeseelsorge, im Gespräch.
Schweiz

Chef der Armeeseelsorge: «Die Aufstockung der Armeeseelsorge ist eine direkte Folge der Corona-Pandemie»

Die Schweizer Armee erhöht die Zahl der Armeeseelsorgenden um rund 70 Personen. In schwierigen Zeiten seien Seelsorgende stärker gefragt, erklärt Samuel Schmid (50), Chef der Armeeseelsorge. Er sagt auch, wie die Armee Kandidatinnen und Kandidaten sucht, wer sich für die Aufgabe eignet und was der Ukraine-Krieg verändert hat.

Barbara Ludwig

Warum erhöhen Sie die Zahl der Armeeseelsorgerinnen und Armeeseelsorger?

Samuel Schmid*: Die Armee hat uns einen klaren Auftrag erteilt: Mit der Armeeorganisationsrevision 2023 soll die Zahl der Armeeseelsorgerinnen und Armeeseelsorger ab Anfang dieses Jahres von 171 auf 242 erhöht werden. Die Armee will diese Aufstockung. Es ist klar, dass es jetzt einige Zeit braucht, bis die entsprechenden Fachkräfte rekrutiert und ausgebildet sind. Ich rechne mit einer Übergangsfrist von einigen Jahren, bis der Bestand von 242 Personen erreicht ist.

Samuel Schmid, Chef Armeeseelsorge.
Samuel Schmid, Chef Armeeseelsorge.

Die Armee reagiert wohl auf eine grössere Nachfrage. Woher kommt denn das Bedürfnis nach mehr Seelsorge in der Armee?

Schmid: In existentiell schwierigen Zeiten mit besonderer Anspannung wächst das Bewusstsein für den wichtigen Beitrag, den die Armeeseelsorge leisten kann. Und es nimmt auch das Bedürfnis nach Seelsorge, Begleitung und Betreuung unter den Soldaten – und heute auch – Soldatinnen zu. Das war schon bei der Gründung der Armeeseelsorge vor 140 Jahren so oder während der beiden Weltkriege. Das jüngste Beispiel für diesen Zusammenhang liefert die Corona-Pandemie. Da hat man noch einmal besonders erkannt, welchen Beitrag die Armeeseelsorge zum Wohlbefinden der Truppe beitragen kann. Deshalb kam die Armee zum Schluss: Wir möchten mehr Seelsorgende haben in unseren Einheiten. Pro Bataillon / Abteilung sowie für jede Rekrutenschule pro Schulstart und Sprache soll es je einen Armeeseelsorger oder eine Armeeseelsorgerin geben. Die beschlossene Aufstockung ist eine direkte Folge der Pandemie.

Musste Bundesrätin Viola Amherd über die Aufstockung der Zahl der Armeeseelsorgenden entscheiden?

Schmid: Die Aufstockung geschieht im Rahmen der Armeeorganisationsrevision 2023. Solche Revisionen finden regelmässig statt. Natürlich musste das Gesamtpaket der Revision auch über ihren Tisch gehen.

Armeeseelsorger spricht mit Armeeangehörigem.
Armeeseelsorger spricht mit Armeeangehörigem.

Wie hoch ist der Frauenanteil zurzeit?

Schmid: Aktuell sind acht Prozent der Seelsorgenden in der Armee Frauen. Tendenz steigend. Die Departementsvorsteherin, Bundesrätin Viola Amherd, hat für die ganze Armee als Ziel einen Frauenanteil von zehn Prozent vorgegeben – also auch für den Bereich der Armeeseelsorge. Wir sind überzeugt, dass wir dieses Ziel in den kommenden Jahren erreichen und sogar übertreffen werden: Denn wir haben schon bis jetzt mehrere sehr kompetente Anwärterinnen rekrutieren können, die gegenwärtig die Ausbildung absolvieren.

Wer bezahlt die Armeeseelsorge?

Schmid: Die Armeeseelsorge ist ein Dienst innerhalb der Armee. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger leisten diesen Dienst wie andere Armeeangehörige im Miliz-System. Sold und Erwerbsersatz (EO) werden – wie für alle Angehörigen der Armee – vom Staat ausgerichtet.

Daneben gibt es einen kleinen Stab von zivilen Mitarbeitenden im Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Er ist für die Grundlagen, die Rekrutierung, die Ausbildung und die Weiterbildung im Bereich Armeeseelsorge zuständig und umfasst drei Vollzeitstellen, auf fünf Mitarbeitende aufgeteilt.

Samuel Schmid, Chef der Armeeseelsorge.
Samuel Schmid, Chef der Armeeseelsorge.

Fliesst Geld von den Religionsgemeinschaften in die Armeeseelsorge?

Schmid: Nein. Die Religionsgemeinschaften, die die Seelsorgenden entsenden, leisten keine finanziellen Beiträge an die Armee. Aber sie leisten einen wesentlichen Beitrag dadurch, dass sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Armee zur Verfügung stellen.

«Ein Bataillonskommandant hat mir gesagt, sein Armeeseelsorger sei eine der Schlüsselpersonen in einem WK.»

Werten Sie die Aufstockung als Signal grosser Wertschätzung?

Schmid: Auf jeden Fall. Immer wieder sagen Angehörige der Armee der unterschiedlichen Stufen, wie sehr sie die Armeeseelsorge wertschätzen – und zwar vom Soldaten über den Zugführer, den Kompanie-Kommandanten bis hin zu hohen Stabsoffizieren. Vor kurzem hat mir ein Bataillonskommandant gesagt, sein Armeeseelsorger sei eine der Schlüsselpersonen in einem WK. Diesen wolle er immer dabei haben. Er sei für ihn eine Unterstützung, ein Berater, jemand, der wesentlich zum Wohlergehen der Truppe beitrage. Die Aufstockung ist ein klares Signal: Die Armee will das Angebot der Seelsorge ausweiten.

Wie suchen Sie die künftigen Armeeseelsorgenden?

Schmid: Voraussetzung ist die Einbettung in eine Religionsgemeinschaft, mit der die Armee eine Partnerschaft unterhält. Denn die Kandidaten brauchen eine Empfehlung durch die Religionsgemeinschaft, der sie angehören. Wir suchen die potentiellen Kandidatinnen und Kandidaten im engen Austausch mit unseren Partnern. Diese können zum Beispiel auf ihrer Webseite auf diese Spezialseelsorge aufmerksam machen. Zudem informieren wir die Ausbildungsstätten. Nicht zuletzt zählen wir auch auf die Mund-zu-Mund-Propaganda innerhalb der Religionsgemeinschaften. Man muss allerdings betonen: Nicht jede Person mit einer Ausbildung in der Seelsorge verfügt über die nötigen Eigenschaften, um in der Armee tätig zu sein. Und es geht nicht darum, in möglichst kurzer Zeit die Plätze zu füllen. Wir wollen die hohe Qualität, die wir zurzeit haben, beibehalten.

«Der Armeeseelsorger ist nicht in erster Linie Vertreter einer Konfession.»

Wer eignet sich denn für den Job in der Armee?

Schmid: Es eignen sich besonders Menschen für diese Aufgabe, die bereit sind, ihr Gegenüber vorurteilsfrei und unvoreingenommen anzunehmen. In der Armeeseelsorge geht es nicht darum, zu missionieren oder andere von der eigenen religiösen Haltung zu überzeugen. Das ist tabu. Vielmehr geht es darum, einen Menschen in einer bestimmen Situation zu begleiten, für ihn da zu sein, wenn er sein Herz ausschütten möchte. Es ist diese Offenheit, diese bedingungslose Annahme, die gefragt ist. Der Armeeseelsorger ist nicht in erster Linie Vertreter einer Konfession. Er ist ein Seelsorger, der für alle da ist. Darin unterscheidet sich seine Arbeit von der Seelsorge im kirchlichen Umfeld.

Das entspricht in etwa dem Anforderungsprofil von Seelsorgenden in Spitälern.

Schmid: Richtig. In der Armee hat man es jedoch meist mit jungen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 zu tun – und auch heute noch vornehmlich mit Männern. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der Armeeangehörigen im zivilen Leben keinerlei Berührungspunkte zu institutionalisierter Religion hat.

Samuel Schmid (l.), Chef der Armeeseelsorge, im Gespräch.
Samuel Schmid (l.), Chef der Armeeseelsorge, im Gespräch.

Wer schlägt die Kandidatinnen und Kandidaten vor?

Schmid: Es muss ein Rekrutierungsprozess durchlaufen werden. Zuerst braucht es jedoch ein grundsätzliches Interesse für diese Aufgabe und die erforderliche zivile Ausbildung. Der nächste Schritt ist die Empfehlung durch die Religionsgemeinschaft. Liegt diese vor, führt die Armeeseelsorge ein Assessment durch. Wir überprüfen, ob der Bewerber oder die Bewerberin die Voraussetzungen erfüllt. Bei einem positiven Assessment-Entscheid sind alle Lichter auf grün: Die betreffende Person kann entweder zuerst die militärische Grundausbildung oder direkt den Fachkurs für die Armeeseelsorge besuchen.

Kommt es vor, dass eine Religionsgemeinschaft einem Armee-Seelsorger die Empfehlung verweigert?

Schmid: Uns ist ein sehr enger und vertrauensvoller Kontakt mit den Religionsgemeinschaften als unseren Partnern wichtig. Die Armeeseelsorge hat die Freiheit, einen Kandidaten, der von einer Religionsgemeinschaft empfohlen wurde, abzulehnen. Dasselbe gilt für die Religionsgemeinschaften. Sie sind frei, jemanden nicht zu empfehlen. Das kommt bei allen Partnern vor. Manchmal lehnen auch wir jemanden ab. Aufgrund des sehr transparenten, offenen und vertrauensvollen Umgangs, den wir pflegen, respektieren dies beide Seiten. Auch die betroffene Person erfährt, warum sie abgelehnt wird. Unsere Partner haben ebenfalls ihren je eigenen Kriterienkatalog, auf den sie sich bei ihrem Entscheid abstützen.

Ernennungsfeier neuer Armeeseelsorgerinnen und -seelsorger.
Ernennungsfeier neuer Armeeseelsorgerinnen und -seelsorger.

Aus welchen Gründen werden Kandidatinnen und Kandidaten von den Religionsgemeinschaften abgelehnt?

Schmid: Es kann sein, dass die zivile theologische oder seelsorgliche Ausbildung als ungenügend erachtet wird. Es kann sein, dass die Belastbarkeit eines Kandidaten für ungenügend befunden wird. Es kommt vor, dass die Partner finden, der Kandidat eigne sich aufgrund seiner persönlichen Religiosität nicht für die Aufgabe. Alle Partner teilen die Einschätzung: Wer sehr konfessionell geprägt ist, mag eine wertvolle Persönlichkeit für die eigene Kirche sein, ist aber womöglich nicht geeignet für den Einsatz in der Armee, weil es dort diesen weiten Horizont braucht, von dem ich vorhin gesprochen habe. Die Gründe sind also unterschiedlich. Und ja, es kommt auch mal vor, dass wir den negativen Entscheid einer Kirche bedauern. Aber Partnerschaft bedeutet eben auch, dass wir die Entscheidungen des andern respektieren.

Hat der Krieg in der Ukraine die Armeeseelsorge verändert?

Schmid: Er hat gezeigt, dass ein Krieg auch heute nicht allzu weit weg von uns ausbrechen kann und ein Land plötzlich in Kampfhandlungen verstrickt wird. Er hat erneut ins Bewusstsein gerufen, wofür die Schweizer Armee da ist: Nämlich um die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes zu gewährleisten – im Extremfall unter Einsatz des Lebens. Das betont die Armee auch in der Ausbildung. Ja, es hat sich auch in den Köpfen der angehenden Seelsorgenden etwas verändert: Sie sind sich dessen bewusst und stellen sich die Frage: Bin ich auch in einer Extremsituation bereit, den Dienst zugunsten der Menschen zu tun oder nicht?

«In der ersten Phase des Krieges war die Beunruhigung und teilweise Angst grösser.»

Spüren Sie, dass die Soldaten und Soldatinnen mehr Angst vor dem Ernstfall haben als früher?

Schmid: In der ersten Phase des Krieges war die Beunruhigung und teilweise Angst grösser. Unterdessen bewegt sich das wieder auf dem normalen Niveau. Die Gesellschaft hat sich – leider – zu einem gewissen Grad bereits an den Krieg in der Ukraine gewöhnt.

Inwiefern hat die Armee-Seelsorge eine ganz andere «Kundschaft» als das sonntägliche Kirchenpublikum?

Schmid: In der Armee ist das Publikum viel heterogener. Die Menschen unterscheiden sich stark, was die Bildung, die sozialen Verhältnisse, ihre Werthaltungen sowie die weltanschaulichen und religiösen Einstellungen betrifft. Was alle miteinander verbindet, ist der Militärdienst. Für die Armeeseelsorge bedeutet das: Sie muss ihre Sprache, ihre Handlungsweise und auch die rituellen Handlungen ans Publikum anpassen. Spezifisch konfessionelle Rituale wie eine katholische Messe sind zwar auch möglich, wenn dies gewünscht wird. Aber grundsätzlich müssen die Angebote der Armeeseelsorge so offen gestaltet werden, dass sie alle ansprechen: religiöse Menschen, Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften, und Menschen, die mit Religion überhaupt nichts am Hut haben.

Besinnliche Feier zu Karfreitag auf dem Schiessplatz Hongrin in der Waadt.
Besinnliche Feier zu Karfreitag auf dem Schiessplatz Hongrin in der Waadt.

Wie kann ein solch offenes Ritual aussehen?

Schmid: Das können besinnliche Momente mit viel Raum für Stille sein. Symbolische Handlungen zum Beispiel mit Wasser, mit Steinen, mit anderen Gegenständen, musikalische Beiträge.

«Eines der höchsten Güter der Armeeseelsorge ist die absolute Wahrung des Seelsorgegeheimnisses.»

Als Chef eines Dienstzweiges sind Sie wahrscheinlich oft im Büro anzutreffen. Sind Sie daneben auch noch als Seelsorger aktiv?

Schmid: Ja. Zum einen habe ich immer noch Einsätze bei der Truppe. Zum andern habe ich als Chef der Armeeseelsorge das Privileg, über alle Hierarchiestufen hinweg – vom Rekruten bis zum hohen Offizier – Kontakte zu haben und eine seelsorgliche Begleitung anbieten zu können.

Haben Sie bereits einmal einen der höchstrangigen Offiziere seelsorglich betreut?

Schmid: Eines der höchsten Güter der Armeeseelsorge ist die Vertraulichkeit, die absolute Wahrung des Seelsorgegeheimnisses. Deshalb werde ich nie darüber sprechen, mit wem ich in einem seelsorglichen Gespräch stand oder stehe. Es ist schön, über alle Hierarchiestufen Kontakte pflegen zu können. Und ob daraus seelsorgliche Gespräche entstehen, ist eben vertraulich.

Was finden Sie das Schwierigste bei der Arbeit als Armeeseelsorger?

Schmid: Das Schwierigste ist, immer wieder offen auf die Menschen zuzugehen. Gleichzeitig ist es aber auch das Schönste, sich die Offenheit für die Menschen und die Liebe zu ihnen zu bewahren, um sie so annehmen zu können, wie sie sind, ihnen beizustehen und mit ihnen das Leben zu teilen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die einem aber viel zurückgibt.

*Samuel Schmid (50) hat reformierte Theologie studiert und ist seit 25 Jahren Armeeseelsorger der Schweizer Armee. Seit 2018 arbeitet er auch beruflich für diesen Dienstzweig, seit einem Jahr als dessen Chef.


Samuel Schmid (l.), Chef der Armeeseelsorge, im Gespräch. | © VBS
19. Januar 2023 | 10:26
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