Generalvikar Markus Walser an der Fronleichnamsprozession in Ruggell.
Story der Woche

Chantal Götz wirft Kirche und Staat in Liechtenstein schwere Versäumnisse vor

Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Missbrauchsskandal in Liechtenstein publik wird, sagt Chantal Götz über den Übergriff in Ruggell. Die Katholikin sieht nun alle Menschen im Erzbistum gefragt: «Macht die Augen auf!»

Raphael Rauch

Sie haben den Beitrag in der «Rundschau» über den Übergriff in Ruggell gesehen. Was denken Sie darüber?

Chantal Götz*: Ich möchte dem Mädchen für seinen grossen Mut danken. Die meisten Missbrauchsopfer schweigen – zehn Jahre oder noch länger, manche sogar für immer. Opfer empfinden oft Scham und Schuld. Sie werfen sich vor: «Ich habe nicht Nein gesagt!» Für mich ist das Mädchen eine Heldin. Sie übernimmt eine wichtige Vorreiterinnenrolle im Sprechen über Missbrauch. Und auch den Eltern kann ich nur sagen: Ihr habt alles richtig gemacht! Vor allem: Ihr habt eurer Tochter so viel Vertrauen mitgegeben, dass sie wusste: Sie kann sich sofort an euch wenden und ihr glaubt ihr. 

Chantal Götz
Chantal Götz

Was wissen Sie über den Fall?

Götz: Es ist sehr schwierig, Aussagen zu einem Verfahren von aussen zu machen, wenn man die Einzelheiten nicht kennt. Aber als Geschäftsführerin der Fidel-Götz-Stiftung in Liechtenstein befasse ich mich seit mehreren Jahren mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche. Es gibt systemimmanente Faktoren in der Kirche, die Missbrauch begünstigen. Somit war es absehbar, dass ein kirchlicher Missbrauchsfall auch in Liechtenstein auftaucht. Erzbischof Wolfgang Haas hat nicht die bestqualifizierten Menschen zu Priestern geweiht. Kindern in Liechtenstein wurde hier ein Priester vor die Nase gesetzt, den man in Deutschland nicht weihen wollte. Das wäre zu hinterfragen gewesen und hier trägt er die Verantwortung.

«Als ich das im Fernsehen erfahren habe, blieb mein Kiefer hängen.»

Die Staatsanwaltschaft hat erst behauptet, das Verfahren eingestellt zu haben, weil die Brust des Mädchens noch nicht entwickelt war. Dann hiess es, aus mangelnden Beweisen sei das Verfahren eingestellt worden. Warum eiert die Staatsanwaltschaft so rum?

Götz: Als ich das im Fernsehen erfahren habe, blieb mein Kiefer hängen. Das ist eine schon fast lächerliche Begründung. Schliesslich ist per Definition ein sexueller Übergriff gegeben, wenn ein Kind zur eigenen sexuellen Erregung angefasst wird.

Warum die Staatsanwaltschaft rumeiert, müsste man sie selbst fragen. Die Staatsanwaltschaft hat in einer ersten Stellungnahme beide Argumente vorgebracht, danach die Stellungnahme präzisiert und juristisch begründet, da sie offenbar falsch verstanden worden war. Ein Teil der ersten Stellungnahme war sehr unglücklich formuliert und wurde danach auch korrigiert, was aber nur zum Teil gelungen ist.

Das Landgericht in Vaduz.
Das Landgericht in Vaduz.

Wäre es nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, einen Indizienprozess anzustreben? Vielleicht hätte sie damit das Gericht überzeugen können.

Götz: Es ist müssig, Vermutungen darüber anzustellen, was alles hätte geschehen können. Wichtig ist, dass es solche Fälle nicht mehr geben wird. Ich hoffe sehr, dass dieser Fall ein Einzelfall bleibt und dazu dient, dass die Augen aller in Liechtenstein nun weit geöffnet sind. Auch der Staat steht in der Verantwortung, strengere Kinderschutz-Konzepte zu implementieren.

Fronleichnam in Ruggell FL
Fronleichnam in Ruggell FL

Die Eltern wollen erfahren haben, dass sich die Hausdurchsuchung beim Pfarrer verzögert hat. Um den religiösen Frieden zu wahren, sollte diese erst nach Allerheiligen stattfinden. Halten Sie solche Erwägungen für möglich?

Götz: Das Gericht hat zu einer angeblichen Verzögerung Stellung genommen. Dabei betont das Gericht seine Unabhängigkeit, die gesetzlich festgelegt ist. Und das ist auch gut so.

Wie finden Sie es, dass Generalvikar Markus Walser bei der Einvernahme des Priesters Thomas Jäger mit dabei war?

Götz: Enttäuschend ist weniger, dass der Generalvikar bei der Einvernahme dabei war, als die spätere Nicht-Reaktion des Erzbistums.

Hätte Markus Walser nicht direkt nach der Einvernahme den Priester suspendieren müssen?

Götz: Sagen wir es so: Die Suspendierung wäre sicher früher notwendig gewesen. Dies zum Schutz der Kinder und im Sinne der Kirche.

Unter Missbrauchsverdacht: der Priester Thomas Jäger aus dem Erzbistum Vaduz.
Unter Missbrauchsverdacht: der Priester Thomas Jäger aus dem Erzbistum Vaduz.

Das Erzbistum Vaduz hat Thomas Jäger trotz Bedenken aus Limburg zum Priester geweiht. Trägt Erzbischof Wolfgang Haas somit eine Mitverantwortung?

Götz: Natürlich trägt der Erzbischof für Entscheidungen in seinem Bistum eine sehr grosse Verantwortung. Das steht ausser Frage. Es ist auch sehr enttäuschend, dass der Erzbischof bis heute keine Stellung genommen hat. Dabei hätte die Möglichkeit bestanden, den Fall aufzuklären. Eine verpasste Gelegenheit für das Erzbistum. 

Auch der Generalvikar war vor der «Rundschau» zu keiner Stellungnahme bereit. Beide Herren hinterlassen bei mir einen sehr schalen Geschmack – Empathielosigkeit pur. Das Wohl des Mädchens und der Eltern steht bei ihnen nicht an erster Stelle. 

Wolfgang Haas ist noch Erzbischof von Vaduz.
Wolfgang Haas ist noch Erzbischof von Vaduz.

Wen sehen Sie in der Verantwortung?

Götz: Das Problem liegt mehr beim Erzbistum als beim Land und seinen Behörden. Was mich aber schon beschäftigt ist die Monopolstellung des Erzbischofs. Er ist keiner Bischofskonferenz angeschlossen. Er ist niemandem Rechenschaft schuldig und herrscht somit absolutistisch, was zu Willkür und Missbrauch führt. Warum der Staat hier nicht drastischer eingreift, bleibt eine offene Frage.

Der Landtag des Fürstentums Liechenstein in Vaduz.
Der Landtag des Fürstentums Liechenstein in Vaduz.

Schaut der Staat zu?

Götz: Wenn es um Missbrauch in der Kirche geht, dann gibt es viele «bystanders» – Menschen, die einfach zuschauen und schweigen. Dazu gehören wir alle. Viele Menschen denken: Missbrauchsfälle in der Kirche – das gibt’s doch nur im Ausland, nicht bei uns in Liechtenstein.

Kirche in Ruggell
Kirche in Ruggell

Welche Verantwortung trifft die Gemeinde Ruggell, die ja Anstellungsbehörde des Pfarrers war?

Götz: Die Gemeinde ist gewissermassen eine leidtragende Dritte, die im Verfahren vor dem Gericht nicht direkt beteiligt war. Sie suspendierte Thomas Jäger fast drei Monate, bevor er von der Kirche suspendiert wurde. Und das ist positiv.

Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.
Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.

Wenn das Erzbistum Vaduz kein Schutzkonzept erlässt: Müssten dann nicht die Gemeinden das von sich aus machen? Ist hier nicht die Politik gefragt?

Götz: Sollte es zutreffen, dass das Erzbistum Vaduz kein Kinderschutzkonzept hat, dann ist das verwerflich und inakzeptabel. Im Vatikanstaat gelten seit dem 1. Juni 2019 neue Regeln für den Schutz Minderjähriger. Es gilt die Anzeigepflicht, die Prüfung von Stellenbewerbern und die Pflicht zu Fortbildungen. Wenn sich das Erzbistum Vaduz diesen präventiven Massnahmen nicht anschliesst, dann macht das nochmals die Monopolstellung und Willkür des Erzbischofs deutlich. Das muss auch dem Staat ersichtlich sein.

«Die Frage ist berechtigt, ob weitere Schutzmassnahmen für Kinder nötig sind.»

Welche Handhabe sehen Sie?

Götz: Ein Priester gibt in Liechtenstein auch Religionsunterricht. Er untersteht somit auch dem Schulamt. Es geht also nicht nur um die Gemeinden. Die Frage ist durchaus berechtigt, ob weitere Schutzmassnahmen für Kinder nötig sind. Das müsste genauer analysiert werden. Ich finde, hier kann nicht genug getan werden!

Erzbischof Wolfgang Haas an der Abdankung von Fürstin Marie von und zu Liechtenstein.
Erzbischof Wolfgang Haas an der Abdankung von Fürstin Marie von und zu Liechtenstein.

Welche Schritte sind aus Ihrer Sicht jetzt notwendig?

Götz: In erster Linie ist das Erzbistum gefordert. Einmal mehr. Leider. Aber auch wir Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner können und sollten uns noch mehr einsetzen. Wir alle sollten uns fragen: Was tue ich, damit unsere Kinder noch besser geschützt sind? Brauchen wir ein revidiertes Strafrecht? Brauchen wir einen erweiterten Strafregisterauszug oder ein Berufsverbot bei auffälligen Personen? Welche Rechtsstandards gelten zum Schutz der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche? All das müssen wir jetzt diskutieren.

* Chantal Götz engagiert sich für Frauenfragen in der katholischen Kirche. Sie ist Geschäftsführerin der Fidel-Götz-Stiftung in Liechtenstein und seit neun Jahren Managing Director von «Voices of Faith».


Generalvikar Markus Walser an der Fronleichnamsprozession in Ruggell. | © Raphael Rauch
1. Juli 2022 | 05:00
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