Jean-Marie Lovey © bischoefe.ch
Schweiz

Bischof Lovey, Schweizer Delegierter an Familiensynode: Zuerst Einheit, dann Details

Zürich, 16.9.15 (kath.ch) Europas Bischöfe sollen an der Weltbischofssynode die Bischöfe anderer Kontinente nicht überrennen. Die Synode zu Familie und Ehe soll zuerst der Einheit der Kirche Sorge tragen und sich dann konkreten Fragen zuwenden, sagte der Sittener Bischof Jean-Marie Lovey am Mittwoch, 16. September, gegenüber kath.ch.

Georges Scherrer

Er reist für die Schweiz an die Weltbischofssynode zur Familie, die vom 4. bis 25. Oktober in Rom stattfindet. Die in einer Umfrage der Schweizer Bischofskonferenz geäusserten Anliegen von gegen 23’000 Schweizerinnen und Schweizer nimmt er nach Rom mit. Im Gepäck befinden sich aber auch zahlreiche Briefe und Mails.

Was empfinden Sie kurz vor Ihrer Abreise zur Bischofssynode über Ehe und Familie in Rom?

Jean-Marie Lovey: Ich befinde mich zurzeit an einem Treffen für neue Bischöfe in Rom. Die Begegnungen sind für mich eine starke Erfahrung der Universalität der Kirche. Ein Beispiel: Mit mir sind zurzeit neben anderen 16 neue brasilianische Bischöfe, zehn polnische, sieben mexikanische, sieben ukrainische des unierten griechischen Ritus. Unter den letztgenannten befindet sich der mit 38 Jahren jüngste Bischof der Welt. Die Begegnung mit dem Bischof aus Syrien führt uns unmittelbar in die brennendste Aktualität. Ich bin froh, dass ich diese Gnade der Universalität auch als Mitglied der Synode erleben darf, denn Bischöfe aus der ganzen Welt werden an dieser teilnehmen. Am aktuellen Fortbildungskurs (für neue Bischöfe, die Red.) fehlen die Bischöfe aus Afrika und Fernost. Sie haben ihre eigene Fortbildung.

Was ist für Sie die ideale Familie?

Lovey: Der französische Schriftsteller Paul Claudel hat einmal einem Freund gesagt: «Wenn du einer idealen Familie begegnest, dann ruf mich an, sogar in der Nacht.» Ich denke wie er. Wir werden auch nachts kaum gestört werden, weil jemand die vollkommene Familie gefunden hat. Denn die perfekte Familie gibt es nicht. Hingegen danke ich Gott für die Familien, in denen man sich liebt. Wo die Menschen unter Wahrung ihres Unterschieds und der Einmaligkeit ihrer eigenen Berufung Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Leben angenommen, respektiert, gefördert und geteilt werden kann. Solche Familien existieren und geben mir eine klare Vorstellung davon, was ihr Charisma ist.

Sie haben lange im Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard gelebt und sind dort auch in Exerzitien vielen Menschen begegnet. Haben sie dabei von den Freuden und Leiden erfahren, denen Familien heute ausgesetzt sind?

Lovey: Ich bin im Hospiz vielen Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen begegnet. Einige Familien sind von rührender Treue. Ich denke beispielsweise an jene Familie aus Frankreich, die seit zwanzig Jahren jedes Jahr auf die Passhöhe kommt, um die Karwoche zu verbringen. Heute kommen die Kinder, erwachsen geworden, und bringen die eigenen Kinder mit, die sie nicht nur in die Freuden des Skifahrens und der Berge einführen, sondern auch in die gemeinsame Feier des Ostergeheimnisses mit der Gemeinschaft. Etwas Wesentliches, was die Familie ausmacht, spielt sich bei der Weitergabe der Realitäten des menschlichen wie christlichen Lebens ab.

Was erwarten Sie von den Begegnungen mit den Bischöfen und Diskussionen an der Synode zu Ehe und Familie?

Lovey: Die Synode macht sicherlich die Öffnung zu anderen Wirklichkeiten möglich. Die jüngeren Gesellschaften sind dynamisch und von einer Hoffnung getragen, die uns gut tut. Der syrische Bischof sagte mir: «Ich habe fast keine Mittel, um meinen Priestern das Leben zu ermöglichen. Ich verliess den Libanon, in welchem Krieg herrschte, um in Syrien zu leben, wo es ruhig war. Jetzt hat sich der Krieg nach Syrien verschoben. Die Familien müssen den Wohnort wechseln oder fliehen. Ich weiss aber, dass Gott uns begleitet. Ich bin Kind einer Kirche, die viele Märtyrer erzeugt. Aus diesem Grund ist sie lebendig, und aus diesem Grund war mein Herz noch nie so ruhig.» Ich denke, dass während der Synode andere Bischöfe darüber sprechen werden, wie sie den Glauben im konkreten Rahmen ihrer Kirchen erleben. Diese Öffnung ist wirklich ein Teil der synodalen Erfahrung. Ich freue mich darauf, in direkten Begegnungen zu erfahren, was die Freuden, die Hoffnungen, die grossen Sorgen der Menschen von heute sind. Die Bischöfe stehen in direktem Kontakt zu den Menschen vor Ort, was ein echtes Zeugnis möglich macht.

Welche Botschaft nehmen Sie aus der Schweiz mit nach Rom?

Lovey: An der Synode sind die Bischöfe aufgefordert, aufeinander zu hören und auf den Heiligen Geist zu achten. Der Papst verlangt es von uns. Es gibt daher keine Botschaft vor der Synode. Ich kann aber mit Blick auf das Thema, das die Synode beschäftigt, nicht vergessen, dass in unserem Land die Hälfte der Ehen, in welcher Form sie auch immer begonnen haben mögen, geschieden wird. Ich will im Gebet alle Paare und Familien mittragen, in welcher Situation sie sich auch befinden, auch wenn sie in Schwierigkeit sind oder es ihnen gut geht. Unsere Ortskirche muss wissen, dass der Vorsatz der Ehe und Familie weiterhin Quelle von Begeisterung und Hoffnung für die heutigen jungen Menschen sein kann.

Was ist das dringendste Problem, das die Bischöfe bezüglich der Familien anpacken sollen?

Lovey: Die Familie findet ihre tiefste Verwurzelung und Vollendung im Geheimnis der Dreifaltigkeit. Die Kirche ist der Garant für diese Offenbarung, welche die Grösse der Berufung der Familie deutlich macht. Für mich ist zentral, dass die Bischöfe eine Sprache finden, die den Menschen von heute wieder Hoffnung vermittelt, indem sie die Familie wieder auf ihre Wurzeln bringt. Die Christen erkennen das Modell der Familie sogar im Leben der Trinität. Diese Glaubensherausforderung muss auf den Tisch gebracht und in einem zweiten Schritt anhand konkreter Fälle aufgearbeitet und beleuchtet werden.

Gehen Sie davon aus, dass an der Synode konkrete Entscheide gefällt werden?

Lovey: Die Bischöfe wirken als Hirten. Ihre Sorge verbindet sie mit den Menschen und zwar dort, wo sie sind und in dem, was sie erleben. Von einem Kontinent zum anderen sind die Realitäten verschieden. In seinem Bemühen als Hirte geht der Bischof nicht nur auf die Menschen zu, sondern führt sie auch hin zu Christus, der die Quelle des Lebens ist und das Ende ihrer Suche bildet. Die Bischöfe werden sich die Neuevangelisierung auf einem Terrain überlegen müssen, das nicht mehr notwendigerweise die Werte des Evangeliums einschliesst. Die Synode hat offen zu sein für die Anregungen des Heiligen Geistes. Sie wird ihre Ergebnisse dem Papst übermitteln. Ihm kommt es zu, allfällige Entscheide zu treffen.

Was ist die heikelste Frage, mit der sich die Bischöfe werden auseinandersetzen müssen?

Lovey: Es gibt viele Erwartungen, und sie sind nach Ländern und Kulturen verschieden. Es sind bereits Stimmen laut geworden, welche die europäischen Bischöfe drängen, der ganzen Welt nicht nur ihre Problematik aufzudrängen. Möglicherweise müssen wir uns erst mit Gemeinschaft und Einheit befassen, bevor wir einen speziellen Fall zum Abschluss bringen.

Spielt das Modell der christlichen Familie noch eine tragende Rolle in der säkularen Gesellschaft?

Lovey: Christen müssen weder als Einzelpersonen noch als Familie eine Mehrheit in der Gesellschaft bilden. Sie sollen «Hefe im Teig» sein. Ihre Bedeutung besteht im authentischen Zeugnis, das sie geben. Eine Familie, die sich bemüht, ein christliches Leben zu führen, wird ein «Subjekt» der Evangelisierung entsprechend der eigenen Berufung. Sie bringt etwas vom Wesen Gottes zum Ausdruck, der die Lebens- und Liebesader zwischen verschiedenen Personen bildet. Dieses Zeugnis ist in der Kirche unersetzlich.

Was ist der Platz der christlichen Familie in der säkularen Gesellschaft?

Lovey: Möglicherweise ist genau dies ihr Auftrag: Sie soll der Welt, die Gott nicht kennt, Anlass geben, sich zu hinterfragen. Ihr Beispiel als lebendige christliche Familien soll dazu motivieren, denjenigen zu entdecken, der das Glück bringt.

Im Vorfeld der Bischofssynoden haben sich in der Schweiz Tausende von Menschen an einer Umfrage der Schweizer Bischofskonferenz und auch an «Synodengesprächen” zu Kirche und Ehe beteiligt. Werden die von diesen Menschen geäusserten Forderungen und Wünsche in ihr Votum an der Bischofssynode einfliessen?

Lovey: Ich werde natürlich dieses ganze Gepäck an die Synode mitnehmen. Wir haben bereits während eines Studientages, an welchem Delegationen aus Deutschland, der Schweiz und Frankreichs teilnahmen, diese Fragen vertieft. Viele Sorgen und Anliegen kommen zusammen. Zusätzlich zu den Antworten auf die Umfrage habe ich auch eine grosse Anzahl an Briefen, Mails und Zeitungsartikeln in meinem Gepäck, die ich aus allen Richtungen erhalte und die mir Personen anvertrauen.

Was soll mit der Jugend geschehen, die den Anforderungen der Kirche in der Ehe nicht nachkommt?

Lovey: Die Botschaft von der Familie ist im Evangelium selbst eingeschrieben. Der heilige Papst Johannes-Paul II. hat die grosse Bewegung der Neuevangelisierung lanciert, weil er deren Notwendigkeit spürte. Ich denke, dass es an jeder Pfarrei und Diözese liegt, Jünger zu fördern und mutig unser «Mandat» als Missionare des Evangeliums wieder aufzunehmen. Papst Franziskus selber fordert, dass jeder Getaufte ein «Jünger-Missionar» sein soll. Wenn die Anforderung der Kirche als eine externe Norm angesehen wird, dann wird sie nicht befolgt. Es geht darum, die Norm zu verinnerlichen, damit sie als Weg des Glücks verstanden wird. So wird sie attraktiv.

Was soll mit neuen Familienstrukturen wie die Patchwork-Familie oder Familien geschehen, in welchen beide «Eltern»-Teile dem gleichen Geschlecht angehören?

Lovey: Wir müssen die Menschen seelsorgerisch begleiten und ohne Ängstlichkeit den Weg des Evangeliums zeigen, der anspruchsvoll ist. Christus geht den Weg im Evangelium voraus, indem er dazu aufruft, sich zu überwinden und – als Maximalforderung – in der grösstmöglichen Weise zu lieben, ohne jenen niederzudrücken, der dies nicht vermag. Christus steht jedem nahe und vertraut auf die Fähigkeit des Menschen, dem zu folgen, was der Heilige Geist im Herzen niederlegt. «Wenn du willst» ist eines der Schlüsselworte seiner pastoralen Haltung. Diese Haltung ist für die Hirten inspirierend. (gs)

Zum kath.ch-Dossier zur Weltbischofssynode

Das Interview wurde auf Französisch geführt

Jean-Marie Lovey © bischoefe.ch
16. September 2015 | 10:20
Lesezeit: ca. 6 Min.
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