"Geschichte eines Missbrauchs" - eigene Aufarbeitung eines Opfers
Schweiz

«Bedürfnis, Erlittenes nach aussen zu tragen, wächst»

Die Deutschschweizer Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer im kirchlichen Umfeld nimmt Form an. Sie hat eine Website lanciert und ein Treffen für Mitte Juli geplant. Alles gehe langsam, wie die Aufarbeitung, sagt Gründer Albin Reichmuth.

Ueli Abt

Albin Reichmuth
Albin Reichmuth

Lange war die Deutschschweizer Selbsthilfegruppe für Opfer von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Umfeld im Internet kaum präsent. Nur einen Listeneintrag in einer Sammlung der Solothurner Selbsthilfegruppen gab es. Mit www.missbrauch-kirche.ch hat die Gruppe inzwischen ihren eigenen Auftritt im Internet erhalten. «Das Arbeiten am Text in der Gruppe übers Telefon war anspruchsvoll», sagt Albin Reichmuth, Gründer und treibende Kraft der Gruppe, im Hinblick auf den Lockdown der vergangenen Monate.

Bei Bedarf zweite Gruppe

Die Webseite beschreibt, was die Ziele sind, warum eine Gruppe eigens für Missbräuche im kirchlichen Umfeld wichtig sei – und an wen sie sich insbesondere richtet: Ansprechen wolle man jene, die als Kind oder als Jugendliche missbraucht wurden. «Ob wir offen sein wollen für Betroffene, die als Erwachsene Opfer wurden, gab Anlass zu Diskussionen», sagt Reichmuth. Schliesslich habe man sich dazu entschlossen, eine separate Gruppe zu gründen, falls sich solche Interessierte melden würden.

Neuer Auftritt: Startseite von missbrauch-kirche.ch
Neuer Auftritt: Startseite von missbrauch-kirche.ch

Vorerst gelte es nun aber, die bisher aus vier Betroffenen bestehende Gruppe wachsen zu lassen. «Ich habe in den vergangenen Monaten gelernt, dass der Aufbau der Selbsthilfegruppe ein sehr langsamer Prozess ist», so Reichmuth. Die Langsamkeit rühre wohl auch daher, dass das bei den Opfern die eigene Aufarbeitung sich über Jahre hinziehen könne. «Das Bedürfnis, das Erlittene nach aussen zu tragen, entwickelt sich erst allmählich», sagt Reichmuth.

Kontakt zu Anlaufstellen der Bistümer

Die bisherigen Mitglieder fand er durch eigene Initiative. Für ihn ist jedoch klar: Die Kontaktpersonen der Anlaufstellen für Missbrauchsopfer in den jeweiligen Bistümern haben eine zentrale Bedeutung, wenn es darum geht, Opfer auf die Möglichkeit zur Teilnahme in einer entsprechenden Selbsthilfegruppe aufmerksam zu machen.

Einstweilen ist ein erstes gemeinsames Treffen der bisherigen Selbsthilfegruppe für Mitte Juli geplant. Doch auch so hat die noch kleine Gruppe aus Reichmuths Sicht bereits sichtbare Resultate gebracht. Denn eine betroffene Person habe sich von seinem 40-seitigen Bericht über den Missbrauch in der Jugend und die gravierenden Folgen in den Jahren danach zu einem eigenen Lebensbericht inspirieren lassen.

Antrag für Entschädigung über unabhängige Stelle

Auch bei der eigenen Aufarbeitung ist Reichmuth mit einem Entscheid einen Schritt weiter. Nachdem er die Möglichkeit eines Antrags auf Entschädigungszahlung für verjährte Fälle erwog, hat er sich nun entschlossen, dies über die dafür vorgesehene unabhängige Westschweizer Kommission Cecar zu tun. Es sei wichtig, dass sich Opfer an eine neutrale und unabhängige Stelle wenden könnten. «Ein Beklagter kann nicht gleichzeitig Richter sein», so Reichmuth.

Zudem schwebt ihm vor, analog zur Westschweizer Sapec, nebst der Selbsthilfegruppe eine Organisation speziell für die Deutschschweiz zu gründen – beziehungsweise ein gesamtschweizerisches Dach zu schaffen. Ein Konzept dafür hat er bereits ausgearbeitet und steht mit den Verantwortlichen von Sapec im Austausch. Ein Treffen zum weiteren Vorgehen ist für Sommer geplant.

«Geschichte eines Missbrauchs» – eigene Aufarbeitung eines Opfers | © Ueli Abt
5. Juni 2020 | 06:00
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