Flüchtlinge aus der Ukraine kommen im Bundesasylzentrum in Chiasso an. Aufnahme vom 17. März 2022.
Schweiz

Asylseelsorgerin: «Die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen löst Spannungen aus»

Edith Weisshar (61) ist als Seelsorgerin für die Menschen im Bundesasylzentrum Embrach da. Im Gespräch mit kath.ch schildert sie, wie sich ihr Arbeitsalltag durch die Ankunft der Flüchtlinge aus der Ukraine verändert hat, wie Mitarbeitende und Flüchtlinge aus anderen Ländern darauf reagieren.

Barbara Ludwig

Sie arbeiten als katholische Seelsorgerin im Bundesasylzentrum (BAZ) Embrach. Wann kamen Sie erstmals in Kontakt mit Menschen, die wegen des Kriegs aus der Ukraine geflohen sind?

Edith Weisshar*: Das war am 8. März. An diesem Tag hatten wir vormittags eine Sitzung der Seelsorgenden im Bundesasylzentrum an der Duttweilerstrasse in Zürich. Vor dem Zentrum standen sie in einer riesigen Schlange, so dass wir kaum durchkamen. Das war mein erstes Erlebnis. Ich hatte bereits vor der Sitzung vom Staatssekretariat für Migration erfahren, dass der Andrang gross sein würde. Aber die grosse Menschenmenge hat mich dann trotzdem überrascht und – ehrlich gesagt überwältigt.

Edith Weisshar ist als Seelsorgerin im Bundesasylzentrum Embrach für Geflüchtete und Mitarbeitende da.
Edith Weisshar ist als Seelsorgerin im Bundesasylzentrum Embrach für Geflüchtete und Mitarbeitende da.

Noch am gleichen Tag sprach mich dann ein Mann im BAZ Embrach an, auf Englisch. Am Nachmittag besuchte ich mit ihm die katholische Kirche in Embrach. Er hatte sich gewünscht, an einem Ort ausserhalb des Zentrums zu beten. Der Mann stammte ursprünglich aus dem Iran, hat dort eine ukrainische Frau geheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Er ist Schiit, die Frau Christin.

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag seither verändert?

Weisshar: Erstmals mache ich eine nahe Erfahrung mit dem, was Krieg bedeutet. Die Menschen aus der Ukraine befinden sich im Fluchtmodus. Für sie ist nichts mehr, wie es war, alles auf den Kopf gestellt. Sie sind hier nur im Durchmarsch und haben weniger das Bedürfnis, mit uns darüber zu sprechen, was sie im Inneren bewegt. Eine funktionierende Natelverbindung mit den Menschen zuhause ist erst mal wichtiger.

Das spürt man. Zudem können wir nur schon aufgrund der grossen Zahl für sie keine aufsuchende Seelsorge machen. Dies ist nur möglich mit den Flüchtlingen, die wir bereits kennen und die noch bei uns im Zentrum sind: Menschen aus Syrien und Afghanistan zum Beispiel.

«Seit der Ankunft ukrainischer Flüchtlinge bin ich vermehrt mit Mitarbeitenden des Zentrums im Gespräch.»

Seit der Ankunft ukrainischer Flüchtlinge bin ich vermehrt mit Mitarbeitenden des Zentrums im Gespräch. Sie sind extrem gefordert und müssen sehr viele Überstunden leisten. Aus meiner Sicht machen sie das gut. Etliche von ihnen haben selber eine Fluchtgeschichte. Nun kommen Erinnerungen daran wieder hoch. Und sie haben das Bedürfnis, davon zu erzählen.

Wie viele ukrainische Flüchtlinge befinden sich aktuell im BAZ Embrach?

Weisshar: Das verändert sich von Tag zu Tag. Es kommen viele, und es gehen viele. Anfangs kamen täglich zirka 50 Personen und ebenso viele gingen wieder. Jetzt sollte es sich etwas beruhigen. Mein Eindruck ist: Jetzt bleiben manche ein bisschen länger im Zentrum. Aber ich habe die Übersicht nicht. Das hängt von ganz vielen Faktoren ab. Die Flüchtlinge werden auf die Kantone verteilt. Erst wenn diese bereit sind zur Aufnahme, können die Menschen aus der Ukraine das Zentrum verlassen.

Die ukrainischen Flüchtlinge bleiben also oft nur kurze Zeit im BAZ. Können Sie ihnen als Seelsorgende trotzdem irgendwie helfen?

Weisshar: Die Seelsorge vor Ort braucht es nach wie vor. Das haben wir in unserem Vierer-Team auch so besprochen. Als erstes haben wir recherchiert, wo es welche Gottesdienstangebote für die Menschen aus der Ukraine gibt und einen Flyer dazu gestaltet. Diesen bringen wir unter die Leute. Die einen wollen bereits jetzt die Angebote nutzen. Denn es ist Fastenzeit – und Ostern steht vor der Tür. Die verschiedenen orthodoxen Kirchen in Zürich bemühen sich sehr, offen zu sein für die Kriegsvertriebenen.

«Wenn eine Frau erfährt, dass ihr Mann im Krieg gefallen ist, sind wir da.»

Wir haben auch an Notfallszenarien gedacht: Wann könnte unsere Hilfe plötzlich gefragt sein? Zum Beispiel, wenn eine Frau erfährt, dass ihr Mann im Krieg gefallen ist. Dann sind wir da. Man darf uns auch privat anrufen, wenn es nötig ist. Wir müssen bereit sein.

Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse
Das Bundesasylzentrum Zürich an der Duttweilerstrasse

Kommen die Seelsorgenden trotz der meist kurzen Verweildauer mit ukrainischen Flüchtlingen ins Gespräch?

Weisshar: Ja, aber bislang nicht sehr oft. Meine Kollegin etwa führte ein langes Gespräch mit einem jungen Mann. Dieser stand in seiner Heimat kurz vor dem Uni-Abschluss und musste dann fliehen. Ihr konnte er erzählen, was das für ihn bedeutet.

Hatten Sie selber bereits ein ähnliches Gespräch?

Weisshar: Das intensivste Gespräch hatte ich mit dem bereits erwähnten Mann, der einen Ort zum Beten suchte. Er löcherte mich mit theologischen Fragen. Mit ihm war ich intensiv unterwegs. Aber nach vier Tagen reiste er ab. Er hat sich von mir verabschiedet. Ansonsten sind es eher kurze Gespräche.

«Die Seelsorge im BAZ ist eine Seelsorge im Moment.»

Ich habe mir vorgestellt, dass die Menschen vielleicht das Bedürfnis haben, mit einer Seelsorgerin über die Schrecken des Krieges zu sprechen.

Weisshar: Meine Aufgabe ist nicht in erster Linie, diese Schrecken immer wieder hervorzuholen. Ausser mein Gegenüber beginnt von selbst, darüber zu reden. Grundsätzlich geht es darum, einen guten Moment zu schaffen, einen Moment der Zuversicht. Vielleicht hat man da falsche Vorstellungen. Wir wissen nicht, ob wir die Leute, mit denen wir zuletzt sprachen, beim nächsten Besuch im Zentrum wieder antreffen. Die Seelsorge im BAZ ist eine Seelsorge im Moment.

In welcher Sprache kommunizieren Sie mit ukrainischen Kriegsvertriebenen?

Weisshar: Wenn es geht, auf Englisch. Wir haben auch Dolmetscherdienste. Manchmal übernehmen das auch Flüchtlinge.

Griechisch-Orthodoxe Kirche Zürich, Kuppel
Griechisch-Orthodoxe Kirche Zürich, Kuppel

Gibt es gemeinsame Aktionen der Seelsorge im BAZ und der orthodoxen Gemeinschaften?

Weisshar: Nein. Wir machen die Flüchtlinge auf die Gottesdienste und die Angebote von Seelsorge im Raum Zürich aufmerksam. Grundsätzlich planen wir selten Aktivitäten. Das ist eher schwierig im BAZ. Unsere Aufgabe ist es vor allem, im Moment anwesend zu sein – vor Ort.

Ukrainer bekommen Schutzstatus S und befinden sich damit in einer besseren Situation als andere Flüchtlinge, die ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Gibt es Flüchtlinge, die Sie damit konfrontieren und sagen, das sei ungerecht?

Weisshar: Als Schweiz begegnen wir den Menschen aus der Ukraine anders. Die Mitarbeitenden des Zentrums sprechen uns darauf an. Es ist offensichtlich, dass dadurch Spannungen ausgelöst werden. Für die Mitarbeitenden ist es schwierig, diese Spannungen auszuhalten. Sie haben mit den Flüchtlingen zu tun, die zum Teil bereits sehr lange auf einen Entscheid zu ihrem Asylgesuch warten, und sehen, dass es diesen schlecht geht.

«Sie verstummen, fallen in eine Depression. Die einen erreiche ich gar nicht mehr.»

Auch von den Flüchtlingen aus anderen Ländern höre ich kaum, die Ungleichbehandlung sei ungerecht. Ihr Leiden wird einfach umso grösser. Sie verstummen, fallen in eine Depression. Die einen erreiche ich gar nicht mehr. Die können schon gar nicht mehr sprechen, obwohl ich sie seit längerem kenne. Gehe ich auf sie zu, sagen sie: «Nein, jetzt geht es nicht.» Hinzu kommt, die Konfrontation mit dieser riesigen Zahl von Kriegsflüchtlingen spült eigene Traumata wieder hoch. Jeder und jede im BAZ hat eine eigene traumatische Geschichte.

*Edith Weisshar (61) ist römisch-katholische Seelsorgerin. Sie arbeitet seit 1. Januar 2021 im Bundesasylzentrum Embrach ZH. Sie gehört zu einem Team von vier Personen, die gemeinsam für die Seelsorge zuständig sind.


Flüchtlinge aus der Ukraine kommen im Bundesasylzentrum in Chiasso an. Aufnahme vom 17. März 2022. | © KEYSTONE
10. April 2022 | 13:05
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