Alois Riklin
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Alois Riklin: Die Vertuschung von Missbrauch war von höchster kirchlicher Stelle angeordnet

«Im Auftrag von Papst Johannes Paul II. («Motu proprio» vom 30. 4. 01) erliess Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation im Mai 2001 eine Instruktion an alle Bischöfe der Welt, wie bei Straftaten von Klerikern gegen das sechste Gebot mit noch nicht 18-jährigen Jugendlichen zu verfahren sei.

Die Bischöfe werden weltweit verpflichtet, solche Straftaten nach abgeschlossener ortskirchlicher Voruntersuchung der Glaubenskongregation in Rom zu melden. Diese entscheidet, ob der Fall direkt von ihr oder in erster Instanz vom Diözesangericht beurteilt wird. An den Strafverfahren dürfen als Richter, Kirchenanwälte, Notare und Verteidiger nur Priester beteiligt sein.

«Päpstliche Geheimhaltung»

Als höchstes Gericht entscheidet neu die Glaubenskongregation. In der Doppelfunktion als Präfekt der Glaubenskongregation und Vorsitzender des letztinstanzlichen Gerichts übernahm Joseph Ratzinger 2001 die Federführung in der Missbrauchsthematik. Die unverständlich kurze Verjährungsfrist für diese schweren Verbrechen blieb bei zehn Jahren (2010 erhöht auf zwanzig Jahre). Die Prozesse unterliegen der «päpstlichen Geheimhaltung».

Die Instruktion enthält kein Wort zu den Opfern und auch keines zur strafrechtlichen Zuständigkeit staatlicher Instanzen. Zwar wird den Bischöfen nicht verboten, auch an die Opfer und die Wiedergutmachung zu denken oder das Offizialdelikt an «weltliche» Behörden zu melden. Aber sie werden auch nicht dazu angehalten. Die Instruktion von 2001 aktualisierte frühere Weisungen von 1922 und 1962. Das Problem war also längst vor dem «Zeitgeist» des späten 20. Jahrhunderts erkannt. Die höchste Geheimhaltung galt schon damals.

Eigenes Gewissen ausgeblendet

Die Geheimhaltungspflicht muss man im Zusammenhang mit dem Bischofseid bedenken. Alle Bischöfe haben vor dem Amtsantritt einen Eid zu leisten, in dem sie sich verpflichten, dem «Papst und Stellvertreter Christi stets treu und gehorsam zu sein» sowie «alle Aufträge gehorsam anzunehmen und mit grösstem Eifer zu Ende zu führen». Das eigene Gewissen der Eidleistenden ist ausgeblendet.

Angesichts der absoluten Gehorsamspflicht überrascht es nicht, dass die meisten Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle zuerst an das Image der Kirche, dann vielleicht an die Täter und, wenn überhaupt, zuletzt an die Opfer dachten, ja nicht wenige Opfer sogar durch Einschüchterung, Drohungen oder finanzielle Abfindungen zur Geheimhaltung verpflichteten.

Vertuschung von höchster kirchlicher Stelle angeordnet

Über allem stand die Sorge um das Image der heiligen Kirche und des heiligen Priesterstandes. Das wirksamste Mittel schien die Geheimhaltung. Diese förderte erst recht die Schonung der Täter und das Im-Stich-Lassen der Opfer. So wurde die Heiligkeit zur Scheinheiligkeit und der Missbrauchsskandal zum Vertuschungsskandal. Die Vertuschung war von höchster kirchlicher Stelle angeordnet.

Wer es nicht glaubt, kann die Instruktion Kardinal Ratzingers vom 18. Mai 2001 in den «Acta Apostolicae Sedis» nachlesen oder mit einem einfachen Klick im Internet unter dem Titel «Epistula de delictis gravioribus» auf Lateinisch und Deutsch herunterladen.»

Das schrieb Alois Riklin (86) in der «NZZ». In seinem Gastbeitrag reagierte Riklin auf einen Beitrag des deutschen Chefarztes Manfred Lütz, der Papst Benedikt XVI. im Missbrauchsskandal verteidigt. Riklin war Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. 1991/92 leitete er die Expertenkommission der katholischen Landeskirchen der Schweiz zur Aufarbeitung der umstrittenen Bischofswahl im Bistum Chur. (jas)

12.02.2022 um 16.29 Uhr, Artikel geändert.


Alois Riklin | © Seraina Boner
12. Februar 2022 | 09:31
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