Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.
Zitat

Manfred Lütz über Ratzinger: «Er reagierte sofort: 'Machen Sie das doch!'»

«Ich sass im Frühjahr 2002 vor Kardinal Ratzinger und erklärte ihm, es sei ja gut und schön, dass der Papst seiner Kongregation die Zuständigkeit übertragen habe, die Presse sei zufrieden: Der Papst kümmert sich! Aber in Wirklichkeit hätten doch er persönlich und seine Leute keine Ahnung von dem Thema.

Aus meiner Sicht müsse er sich dringend bei internationalen Experten kundig machen, sie zum Beispiel in den Vatikan einladen . . . Er hörte aufmerksam zu und reagierte sofort: ‘Machen Sie das doch!’ So hatte ich mir das nicht gedacht. Ich erklärte, ich hätte kleine Töchter, das Thema sei mir nicht angenehm, ich sei auch kein forensischer Psychiater, er solle sich überlegen, ob er das wirklich wolle. ‘Ja, ich will das!’

So machte ich mich bei führenden deutschen Experten kundig, besuchte internationale Kongresse, sprach mit den weltweit renommiertesten Wissenschaftern und koordinierte alles mit Monsignore Scicluna von der Glaubenskongregation. Kardinal Ratzinger betonte, dass er auch die Opferperspektive erwähnt wissen wolle, und gab mir ein Schreiben des Kinderpsychiaters Jörg Fegert, der sich an ihn gewandt hatte und den ich auch einlud.

So kam vom 2. bis 5. April 2003 der erste vatikanische Missbrauchskongress zustande. Wir tagten im päpstlichen Palast, alle mit dem Problem befassten Kurienbehörden waren anwesend, einige zögerten zu kommen und wurden von Ratzinger noch persönlich ‘motiviert’. Es war ein sehr dichter Kongress mit ausgesprochen freimütigen Fragen der Vatikanvertreter und ebenso ungekünstelten Antworten der – durchwegs nicht katholischen – internationalen Experten.»

Der Psychiater, Psychotherapeut und Theologe Manfred Lütz ist seit 1997 Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben und des Dikasteriums für Laien, Familie und Leben. Er organisierte 2003 den ersten vatikanischen Missbrauchskongress.

In der NZZ schildert er seine persönlichen Erfahrungen mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger. Die aktuelle Empörung nach dem Münchner Gutachten blende vieles aus und werde insgesamt nicht der Rolle gerecht, die Ratzinger nach der Erfahrung von Lütz in der Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch eingenommen habe. (kath.ch)


Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom. | © KNA
1. Februar 2022 | 10:12
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