Vatikan-Experte Andreas Englisch
Vatikan

Vatikan-Experte: «Als Papst hat Ratzinger zu wenig gegen Missbrauch unternommen»

Unter Johannes Paul II. durfte Joseph Ratzinger sexuellen Missbrauch nicht bekämpfen, sagt Vatikan-Experte Andreas Englisch. Nun sei die Ratzinger-Kirche kollabiert. Die Konservativen werden sich durch diese Katastrophe nicht mehr erholen. Das berge aber Chancen für Papst Franziskus.

Jacqueline Straub

Sie sind Vatikan-Experte. Wie gross ist das Beben im Vatikan im Moment?

Andreas Englisch*: Es ist ein Desaster. Das Ganze ist Joseph Ratzinger vollkommen entglitten. Zuerst weigerte er sich Stellung zum pädophilen Priester zu nehmen, dann gab er eine katastrophale Stellungnahme ab. Diese Stellungnahme zeigt, dass er kein Gespür dafür hat, wie schlimm sexueller Missbrauch ist. Auch als Papst hatte er dieses Gespür nicht. Der Vatikan ist nun wirklich sauer auf den Papa emeritus.

«Joseph Ratzinger hat seine eigene Lebensgeschichte kaputt gemacht.»

Der 94-jährige Ratzinger hätte einfach nach München schreiben können, dass er sich nicht mehr erinnert. Doch stattdessen schreibt er, dass er ein sehr gutes Gedächtnis hat und sich ganz genau erinnert, nicht dabei gewesen zu sein – und muss schlussendlich zurückrudern. Nun steht er als Lügner da. Das ist das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Er hat seine eigene Lebensgeschichte kaputt gemacht. Und auch die Glaubwürdigkeit der Kirche verspielt.

Sie haben die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hautnah in Rom miterlebt. Was sagen Sie zu den Vorwürfen des deutschen Theologen Eugen Drewermann, der sagt, dass Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation zwar die Missbrauchsfälle behandeln wollte, aber Papst Johannes Paul II. es ihm untersagte?

Englisch: Das ist wahr. Ich habe mit Johannes Paul II. über Missbrauch in der Kirche gesprochen als Anfang der 90er Jahre herauskam, dass der Wiener Erzbischofs Hans Hermann Groër einige Priesteramtskandidaten missbraucht hatte. Ich sagte Papst Johannes Paul II., dass er das so nicht stehen lassen kann. Denn wenn nun nichts passiert, bedeutet das, dass die Kirche sexuellen Missbrauch toleriert. Johannes Paul II. sagte daraufhin: «Die Kommunisten hinter dem Eisernen Vorhang haben immer Missbrauch erfunden, wenn sie die Kirche diskreditieren wollten. Ich glaube das alles nicht.» Er hatte null Gespür dafür. Statt Täter zu bestrafen, gab er ihnen wichtige Posten in Rom. So etwa einem US-Bischof, der in seinem Bistum Missbrauchstäter einfach weiterversetzte, statt sie anzuzeigen.

Papst Johannes Paul II. 1984 in Einsiedeln
Papst Johannes Paul II. 1984 in Einsiedeln

Hätte Joseph Ratzinger als Vorsitzender der Glaubenskongregation besser handeln können?

Englisch: Er ist in den ersten Jahren ganz massiv gegen Missbrauch vorgegangen. Ratzinger hat Mitte der 80er Jahre etwa veranlasst, dass im Fall von sexuellem Missbrauch die Glaubenskongregation zuständig wird und auch dementsprechend vorgehen kann. Beim wohl schlimmsten Missbrauchsskandal, dem Gründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel Degollado, hat Ratzinger Johannes Paul II. gesagt, dass er nicht weiter geschützt werden darf. Doch Marcial Maciel war ein sehr guter Freund vom polnischen Papst. Johannes Paul II. unternahm nichts gegen ihn.

Ich möchte aber hinzufügen: Ratzinger hat immer geglaubt, dass die Fälle von sexuellem Missbrauch von Medienschaffenden aufgebauscht werden, um der Kirche zu schaden. Er hat nicht verstanden, dass es keine Einzeltäter sind, sondern dass die ganze Hierarchie sexuellen Missbrauch begünstigt.

Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.
Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.

Hat Papst Benedikt XVI. Ihrer Meinung nach die Missbrauchsfälle ausreichend aufgeklärt?

Englisch: Unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. waren Ratzinger die Hände gebunden, um intensiv gegen Missbrauch in der Kirche vorzugehen. Doch als Papst hätte er durchgreifen können. Was er aber zu wenig tat. Denn er hat absolut kein Gespür für sexuellen Missbrauch.

«Dass die Kirche in Deutschland vor einem Abgrund steht, ist für den Vatikan eine riesige Katastrophe.»

Sie sind gut vernetzt im Vatikan. Wie wird dort das Missbrauchsgutachten wahrgenommen?

Englisch: Alle im Vatikan haben nun kalte Füsse, weil es die deutsche Kirche betrifft. Denn die Deutschen bringen das Geld. Fast zwei Drittel des Vatikans finanzieren die deutsche und die US-amerikanische Kirche. Wenn noch mehr Menschen aus der deutschen Kirche austreten, wird es auch eng für den Vatikan. Dass die deutsche Kirche nun an einem Abgrund steht, ist für den Vatikan deshalb eine riesige Katastrophe.

Kann die Katastrophe auch eine Chance sein?

Englisch: Ja, es gibt nun vermehrt Stimmen, die sagen, dass die Kirche jetzt anfangen muss, sich zu ändern oder sie geht unter.

«Die Ratzinger-Kirche ist in sich kollabiert.»

Was macht das Missbrauchsgutachten mit dem Ansehen von Papst Benedikt XVI.?

Englisch: Es gibt viele Leute, die jetzt sogar sagen, dass die ganze Papstwahl von Ratzinger falsch war. Ratzinger war für viele Jahre der wichtigste Orientierungspunkt für den ganzen konservativen Block im Vatikan. Dieser konservative Block hat mit dem Untergang Ratzingers jetzt ein grosses Problem.

Die Reaktionäre versuchen noch immer zu retten, was zu retten ist. Aber es ist nichts mehr zu retten. Die Ratzinger-Kirche ist in sich kollabiert. Die konservative Front steht momentan sehr schlecht da. So schlimm wie seit 300, 400 Jahre nicht mehr.

«Papst Franziskus hat nun mehr Möglichkeiten, Reformen auf den Weg zu bringen.»

Wird dieses Gutachten schlussendlich dazu führen, dass Papst Franziskus Reformen schneller durchsetzen kann, weil die Benedikt-Anhänger nun an Macht und Einfluss im Vatikan verlieren?

Englisch: Ja, definitiv. Die Konservativen werden sich durch die Katastrophe von Ratzinger in absehbarer Zeit nicht mehr erholen. Papst Franziskus hat nun definitiv mehr Macht und Möglichkeiten im Vatikan, um Reformen auf den Weg zu bringen.

Andreas Englisch (58) ist Vatikan-Insider und Bestsellerautor. Er lebt seit vielen Jahren in Rom.


Vatikan-Experte Andreas Englisch | © Musacchio und Ianniello
31. Januar 2022 | 14:45
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