Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der "theo Loge", Paulus Akademie.
Schweiz

Adrian Loretan: «Wenn ihr ein Opfer von Missbrauch seht, dann ist da Christus»

In der «theo Loge» sitzen und mit Begeisterung über Kirchenrecht sprechen: Das hat Adrian Loretan (64) am Mittwoch in der Paulus Akademie getan. Loretan bezeichnet den Klerikalismus als «eine Kultur des Todes». Und er sagt zum Thema Missbrauch: «Sexuellen Missbrauch gibt es dort, wo Macht unkontrolliert ist.»

Charles Martig

Adrian Loretan* hat sich auf das Thema «Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche» spezialisiert. So heisst auch ein neues Buch von ihm. An diesem Mittwochabend gibt sich Loretan in der Paulus Akademie überlegt, aber auch prononciert. Es geht um das Kirchenrecht als «Machtinstrument», aber auch als ein «Missbrauchsinstrument». Loretan hält fest: «Sexuellen Missbrauch gibt es dort, wo Macht unkontrolliert ist.»

Adrian Loretan
Adrian Loretan

Klerikalismus ist eine Kultur des Todes

Loretan ist überzeugt, dass der Machtmissbrauch ein systemisches Problem ist. Er zitiert Papst Franziskus: «Der Klerikalismus ist eine Kultur des Todes. Dieser muss weg.» Wo es keine Gewaltenteilung gebe, könne Macht ohne Kontrolle ausgeübt werden. Und er stellt die gewagte These auf: «Die katholische Kirche setzt sich jetzt mit sexueller Gewalt in ihren Reihen auseinander. In Zukunft könnte dies als vorbildlich gelten.» Vorsichtshalber fügt er hinzu: «Das darf man heute so noch nicht sagen.»  ̶   Hier zeigt sich Adrian Loretan als Optimist. Er sucht nach Potentialen, Chancen und neuen Möglichkeiten.

Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der Paulus Akademie
Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der Paulus Akademie

Radikale Hinwendung zu Opfern

Der Kirchenrechtsprofessor fordert eine radikale Hinwendung zu den Opfern der sexuellen Gewalt. Von den Bischöfen erwartet er einen Perspektivenwechsel. «Wenn ihr ein Opfer von Missbrauch seht, dann ist da Christus.» Es sei nicht notwendig, Christus an anderen Orten zu suchen. Vielmehr sei es hier und jetzt an der Zeit, Christus in den Missbrauchsbetroffenen zu erkennen.

Priesterweihe oder Partnerschaft

Veronika Bachmann führt das Gespräch als Gastgeberin und gut informierte Theologin. Sie will von Adrian Loretan wissen, warum er nicht Priester geworden sei. Er zitiert zuerst Hans Urs von Balthasar: «Alle, die Theologie studieren, aber nicht Priester werden, meinen es nicht ernst.» Er sei eben einer, der es nicht ernst meine, sagt Loretan mit Augenzwinkern. Aber dann kommt er zur Sache: «Ich möchte kein Doppelleben führen. Eine Partnerschaft finde ich wesentlich für mein Leben.»

Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der "theo Loge", Paulus Akademie.
Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der "theo Loge", Paulus Akademie.

Das Gespräch in der «theo Loge» geht weiter zurück ins Leben des Kirchenrechtlers. Angesprochen auf seinen ersten Berufswunsch sagt Loretan: «Mein erster Berufstraum war italienischer Cameriere. Das hat mir sehr Eindruck gemacht. Später wollte ich Lastwagenfahrer werden.» Er ist in Brig beim Simplontunnel aufgewachsen. Die Nähe zur italienischen Kultur war deutlich spürbar. «Für mich ist Domodossola ein Stadtteil von Brig – emotional betrachtet.»

Gymnasium in Engelberg: Thomas von Aquin

Die Prägung durch die Kirche im Wallis relativiert Loretan: «Die Kollegiumskirche liegt in Brig oben auf dem Hügel – irgendwie weit weg.» Aber natürlich habe er eine  katholische Prägung erfahren. Viel stärker seien jedoch die Erfahrungen im Gymnasium in Engelberg bei den Benediktinern: «Bereits vor der Matura in Engelberg habe ich mitgeteilt, dass ich sicher nicht Priester werde.» Aber an dieser Schule gab es auch ein Erweckungserlebnis: «Der Philosophie-Unterricht am Gymnasium Engelberg basierte auf einem rationalen Zugang, zum Beispiel über Thomas von Aquin.» Das habe ihn sehr beeindruckt.

Gleichheit aller Getauften

Sein Weg zum Kirchenrecht führte über die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils. Mehrmals erwähnt Loretan «Lumen Gentium 32», eine Schlüsselstelle aus einer Sicht. «Hier ist von der Gleichheit der Getauften die Rede. Und es gibt ein Diskriminierungsverbot.» Wie wichtig der Einfluss des Konzils auf sein Denken als Theologe ist, wird deutlich: «Das Konzilskompendium von Karl Rahner war wegweisend für mich. Vor allem seine Aussage, dass die Konzilstexte in Recht umgesetzt werden müssen.» Diese Erkenntnis führte Adrian Loretan zum Kirchenrecht.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Seine Faszination für das kanonische Recht vermittelt Loretan auch an diesem Abend. Er gibt zu bedenken, dass wesentliche Grundsätze und Prinzipien des modernen Rechts aus dem Kirchenrecht stammen, zum Beispiel im Prozessrecht. «Das Prozessrecht ist in Europa durch das Kirchenrecht entstanden», hält Loretan fest. «Im angelsächsischen Raum hat das kanonische Recht enormen Einfluss gehabt. Ausgerechnet die Rechte des Subjekts stammen aus dem Kirchenrecht.»

Die Würde des Menschen

Ein besonderes Anliegen sind ihm die Menschenrechte in der Kirche. Er erwähnt das Konzilsschreiben «Dignitatis humanae» (1965) zur Würde der menschlichen Person. Damit habe die röm.-katholische Kirche die Religionsfreiheit eingeführt. «Dignitatis humanea, die Erklärung der Religionsfreiheit, war völlig neu und modern. Die Kirche hat sich mit dem modernen Rechtsstaat versöhnt.»

Papst Paul VI. im Jahr 1969.
Papst Paul VI. im Jahr 1969.

Adrian Loretan beschäftigt sich auch mit der Frage, wie eine Verfassung in der katholischen Kirche verankert werden kann. «Unter Paul VI. sagten die Bischöfe, dass ein Grundgesetz notwendig ist, um den Machtmissbrauch in der Kirche einzuschränken.» Es gehe dabei um eine «Lex ecclesia fundamentalis», ein Grundgesetz sozusagen. Papst Paul VI. habe eine Kommission gegründet, die einen solchen Text entwickelt hat. «Dieses Grundgesetz verschwand jedoch in einer Schublade.» Aber die Grundlagenarbeit sei gemacht.

Machtmissbrauch durch Kirchenrecht?

«Sie müssen im Kirchenrecht so arbeiten, dass man nicht ›abgeschossen’ wird. Heute ist das unter Papst Franziskus anders. Aber unter den Vorgänger-Päpsten war das ein echtes Problem.» Kirchenrechtler hätten heute mehr Freiheiten, könnten freier reden. Das ist auch an diesem Abend in der «theo Loge» hörbar.

«Wie kann man dem Machtmissbrauch begegnen? Wir müssen die Strukturfragen angehen!» Diese Aussage ist typisch für Adrian Loretan. Er ist zwar ein Kirchenrechtler, aber einer mit klaren Ansagen. Und er weiss: «Man muss Leute auf den Weg mitnehmen.» So weibelt er auch an diesem Abend für das Kirchenrecht und die Notwendigkeit, die Konzilstexte, die Religionsfreiheit und die Menschenrechte in kanonisches Recht umzusetzen.

*Adrian Loretan ist Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern und Co-Direktor des interfakultären Zentrums für Religionsverfassungsrecht.


Adrian Loretan und Veronika Bachmann in der «theo Loge», Paulus Akademie. | © Charles Martig
21. Oktober 2023 | 12:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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