Hanspeter Schmitt
Kommentar

Abtreibung als «Auftragsmord»: Sprache muss kritisch geprüft werden

Papst Franziskus hat den Schwangerschaftsabbruch als «Auftragsmord» bezeichnet. Das verfälsche die komplexe Situation, schreibt der Churer Ethiker Hanspeter Schmitt in einem Gastkommentar. Differenzierung fordert er auch vom «Marsch fürs Läbe» in Zürich.

Hanspeter Schmitt*

Sprache ist nie harmlos. Sie beschreibt und schafft Wirklichkeit, verfehlt und verletzt sie aber auch. Ob die jeweils eingesetzte Sprache der Wirklichkeit entspricht und dem Leben darin dient, ist daher erfahrungsbezogen und kritisch zu überprüfen.

«Auftragsmord» insinuiert gewollte Grausamkeit

Dieser kritischen Prüfung hält der Sprachgebrauch von Papst Franziskus in puncto Schwangerschaftsabbruch nicht stand. Ihn als «Auftragsmord» zu bezeichnen, verzerrt und verfälscht die damit einhergehenden Motive und komplexen Situationen. Der Begriff insinuiert gewollte Grausamkeit, feindliche Absichten und niederträchtige Komplizenschaft.

Die meisten betroffenen Frauen befinden sich jedoch in einer extremen Not- und Konfliktlage. Ärztinnen und Ärzte, an die sie sich in ihrer Not wenden, beraten sie umfassend, um ihnen verantwortliche wie selbstbestimmte Entscheide zu ermöglichen. Sie helfen ihnen kraft ihres ärztlichen Gewissens und im Rahmen ihres geltenden Standesethos und des verfassungskonform begründeten Rechtes.

Verletzlich sind das Ungeborene und die Frau

Zweifellos geht es bei einer Schwangerschaft um entwicklungsfähiges menschliches Leben. Es bedarf wegen seiner enormen Verletzlichkeit und Angewiesenheit sowie seiner Würde als heranwachsender Person eines besonderen Schutzes.

Schwangere Frauen aber, die diesen Schutz nicht zu leisten vermögen, «Auftragsmörderinnen» zu nennen, blendet sträflich aus, dass auch sie in hohem Mass verletzlich sind. In ihrer Schwangerschaft stehen sie in unvergleichlicher Weise selbst auf dem «Spiel». Sie erfahren die darin gegebenen Ansprüche, Spannungen und Konflikte wie niemand sonst und unausweichlich am eigenen Leib, sprich es tangiert ihre leibseelische Integrität.

Sie zusätzlich anzugreifen, sei es «nur» mit pseudomoralischen Wortplakaten, konterkariert die Humanität und Glaubwürdigkeit des damit zur Schau getragenen Lebensschutzes. Human bleibt dieser nur, wenn er die Würde und Rechte aller besonders verletzlichen Personen, der Ungeborenen wie der betroffenen Frauen, gleichermassen anspricht und zu seinem Anliegen macht.

Die bestmögliche Praxis

Echte Konflikte rund um den Lebensschutz lassen die wenigsten kalt, denn es geht um den Widerstreit zentralster Güter wie Leib und Leben, Fürsorge, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Es liegt in der tragischen Natur solcher Konflikte, dass ihre Lösung – gemessen an den in Frage stehenden Idealen – unvollkommen erscheint.

Oft ist die bestmögliche Praxis der einzig gangbare, daher auch moralisch vertretbare Weg. Das ist kein Freibrief für Willkür, unbedachtes oder rücksichtsloses Handeln! Im Gegenteil bedarf es einer differenzierten Sicht von Situationen und Schicksalen sowie innovativer Konzepte gesellschaftlicher Kooperation und Solidarität, um in prekärer Lage human bestmögliche Lösungen zu formulieren.

Weil die praktische Verbindung von Selbstbestimmung und Lebensschutz den Kern humaner Identität berührt, sind kultivierte Diskurse darüber notwendig, gleich um welchen Bereich es konkret geht.

Rigorose Sanktionsnormen sind gefährlich

Sich auf dem Feld herausfordernder Schwangerschaftskonflikte auf die Verschärfung von Strafrechtsnormen zu konzentrieren, wirkt jedoch bekanntlich kontraproduktiv. Man braucht hier weder die aktuelle US-amerikanische Entwicklung noch die laufenden Initiativen der Schweizerischen Volkspartei zu bemühen.

Es genügt die Rechtsgeschichte der Schweiz. Sie beweist, dass rigorose Sanktionsnormen den Schutz der Ungeborenen und der schwangeren Frauen nicht fördern, sondern massiv gefährden – mit tödlichen Konsequenzen für beide vulnerable Gruppen.

Das Familienleben erleichtern…

Wer also diesen Personen wirklich helfen und nicht nur sein moralisches «Mütchen» kühlen will, sollte tunlichst andere Ebenen praktischer Gestaltung zur Sprache bringen: etwa familienpolitisch die finanziellen und wohnraumbezogenen Verwerfungen, unter denen kinderreiche Familien leiden; oder genderpolitisch die beschämende Benachteiligung, der fast alle Frauen, zumal mit Kindern, in Beruf, Erziehung und Lebensführung ausgesetzt sind.

Es braucht behindertenpolitisch die strukturelle Stärkung der Integration und öffentlichen Anerkennung von Menschen mit diversen Beeinträchtigungen. Und jugendpolitisch den Aufbau von Räumen der Sozialisation und Begegnung, in denen nicht Ökonomie und Leistung, sondern ganzheitliche Wert- und Identitätserfahrungen massgeblich sind.

…anstatt schöne Worte predigen

Es liegt im dringenden Interesse des Lebensschutzes wie auch der Selbstbestimmung über diese und andere Gestaltungsfragen zu reden – und es nicht nur bei schönen Worten zu belassen.

Um Worte und Taten wird es auch in Zürich beim «12. Marsch fürs Läbe» und auf den angekündigten Gegendemonstrationen gehen. Wie Leben und Selbstbestimmung zählen Demonstrationsfreiheit und öffentliche Meinungsäusserung zu den persönlichen Grundrechten des menschenrechtlich legitimierten Staates.

Vereinfacher und Scharfmacher bringen nichts

Bald werden vermutlich die Plakate entworfen und beschriftet, um der eigenen Position öffentlich Nachdruck zu verleihen. Bleibt zu wünschen, dass dann eine Sprache gesucht wird, der man das Bewusstsein und die Nachdenklichkeit angesichts bestehender Konflikte im Zuge einer Schwangerschaft noch ansieht.

Realitätsblinde Vereinfacher und notorische Scharfmacher gibt es erfahrungsgemäss auf allen Seiten. Zum Schutz der Rechte betroffener Frauen und des ungeborenen Lebens haben sie auf diese Weise nichts Konstruktives beigetragen.                    

* Hanspeter Schmitt (62) ist Karmelit und lehrt an der Theologischen Hochschule Chur Theologische Ethik. Eine Kurzversion dieses Gastbeitrags ist in der NZZ-Printausgabe vom heutigen Freitag publiziert.


Hanspeter Schmitt | © Yanik Buerkli
12. August 2022 | 11:42
Lesezeit: ca. 3 Min.
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