Papst Franziskus.
Schweiz

50 Jahre nach der Synode 72 bleiben zentrale Fragen ungelöst: Warum der Papst jetzt liefern muss

Schon vor 50 Jahren forderte das Bistum Basel das Frauenpriestertum und das Ende des Pflichtzölibats. Nach der Lektüre des Buches «Synode 72 – im Heute gelesen» stellt sich die Frage: Warum hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten so wenig getan? Eine Pflichtlektüre für Papst Franziskus, Bischof Felix Gmür und alle, die sich für eine Kirche in der Welt von heute engagieren.

Annalena Müller

Bereits vor 50 Jahren diskutierte die Synode 72 über den Pflichtzölibat, die Ordination von Frauen und Geburtenregelung. Wie der gerade im Schwalbe-Verlag erschienene Band «Synode 72 – im Heute gelesen. Le Synode 72 – relu aujourd’hui» zeigt, war die Schweizer Ortskirche schon vor einem halben Jahrhundert weiter als grosse Teile der römischen Kurie heute. Tatsächlich mutet vieles, was die Autorinnen und Autoren aus der Deutschschweiz und der Romandie in dem zweisprachigen Band schreiben, überraschend aktuell an. Diese Erkenntnis stimmt nachdenklich, kommt man doch immer wieder zu dem Schluss, dass die drängenden Fragen von damals noch immer die drängenden Fragen von heute sind.

Kind der Aufbruchsstimmung nach dem Zweiten Vatikanum

Zwischen 1972 und 1975 tagte die Synode 72 in der Schweiz. Wie in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich und Frankreich war auch das Ziel der Schweizer Synode, die Beschlüsse und Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) aufzunehmen und mit Blick auf die konkreten Verhältnisse der Schweiz zu verwirklichen. Des Weiteren wollten die Synodalen Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen finden – und zwar im Dialog mit Klerikern, Laiinnen und Laien. Also mit den Männern, Frauen und Jugendlichen, die die Kirche ausmachen.

Bischof Johannes Vonderach von Chur, Mitte, eröffnet am 23. September 1972 in Zürich-Witikon die Synode 72.
Bischof Johannes Vonderach von Chur, Mitte, eröffnet am 23. September 1972 in Zürich-Witikon die Synode 72.

Als Vorbereitung gab es einen basisdemokratischen Weg. 1969 wurden die 1’344’155 Katholikinnen und Katholiken der Schweiz brieflich kontaktiert und um Feedback zu verschiedenen Problemkreisen gebeten. Das Echo war gross. Jede vierte Katholikin und jeder vierte Katholik beteiligte sich an der Umfrage, wobei Frauen mit 57 Prozent den grössten Anteil der Antwortenden ausmachten. Auf Grundlage der Basisbefragung wurde ein umfassender Themenkatalog erstellt, welcher als Arbeitsgrundlage der Synode diente.

Synode 72 – im Heute gelesen

Der von Salvatore Loiero, François-Xavier Amherdt und Mariano Delgado herausgegebene Sammelband folgt dem Themenkatalog der Synode 72. Wie auch die Synode selbst, die parallel aber getrennt in den sechs Schweizer Diözesen abgehalten und deren Beschlüsse auf Deutsch oder Französisch festgehalten wurden, werden die meisten Synodenthemen zweisprachig behandelt. Ziel des Bandes ist eine Relektüre der Synode 72 – mit Berücksichtigung der unterschiedlichen Sprachen und Mentalitäten. Grundlage sind die Dokumente der Bistümer der Deutschschweiz und der Romandie.

Unterschiedliche Schwerpunkte

Trotz Themenvorgabe setzen die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Kapitel unterschiedliche Schwerpunkte. So unterziehen zum Beispiel Eva-Maria Faber und Marc Donzé die Synodentexte zu «Glaube und Glaubensverkündung heute/ La foi et son annonce au monde d’aujourd’hui» einer klassischen Relektüre. Sie ordnen die Texte aus den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund theologischer Debatten der Gegenwart ein.

Synode 72 in Bern: Es wird über Frauenordination, Laienpredigt und Empfängnisverhütung diskutiert.
Synode 72 in Bern: Es wird über Frauenordination, Laienpredigt und Empfängnisverhütung diskutiert.

Das Autorenduo Adrian Loretan und Martina Tollkühn nutzt den Aufsatz zu «Planung der Seelsorge in der Schweiz», um einen leidenschaftlichen Text zum Thema Frauen und Weihe zu verfassen. Dieser spannt den Bogen vom Zweiten Vatikanischen Konzil zu aktuellen Äusserungen von Kardinal Marx und Papst Franziskus. Eingerahmt sind die allesamt sehr lesenswerten Aufsätze von einer historischen Verortung der Synode 72 (Franz Xaver Bischof) und deren Einordnung als Inspiration für eine heutige Synode (Manfred Belok).

Who ist Who der liberalen Theologie

Der über 600-seitige Sammelband will viel – und es gelingt ihm. Das Register der Autorinnen und Autoren liest sich wie das «Who is Who» der liberalen, vor allem Schweizer Theologie. Die Dichte aktueller oder emeritierter Professoren für Theologie, Kanonisches Recht und Kirchengeschichte ist hoch. Die Verfasserinnen und Verfasser wenden sich aber nicht ausschliesslich an ein Fachpublikum. Sind doch die Aufsätze derart geschrieben, dass sie auch für ein interessiertes und theologisch versiertes Laienpublikum gewinnbringend lesbar sind.

Während das 60. Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils und das 50. der Synode 72 die ausschlaggebende Inspiration für den Sammelband waren, so ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung, wenige Wochen vor Beginn der europäischen Synodenversammlung in Prag, wohl kein Zufall. Liest sich der Band doch auch wie ein Auftrag an die Synodalen, die Themen, die seit über 50 Jahre brodeln – Zölibat und Sexualität, Laienpredigt, Frauen in der Kirche und Geburtenkontrolle – endlich zu lösen.

Zerrissen zwischen Aufbruchstimmung und Widerstand

Besonders die beiden einrahmenden Aufsätze von Franz Xaver Bischof und Manfred Belok diskutieren die Spaltung innerhalb der Kirche, die eine Konsequenz des Zweiten Vaticanums war und die bis heute andauert. Während das grosse Reformkonzil bei vielen zum Optimismus führte, dass nun «der Anschluss an die Moderne gelungen» sei, gab es früh auch reaktionäre Tendenzen. Zum einen widersetzten sich einflussreiche Kirchenprälaten zentralen Neuerungen des Konzils. Darunter waren so grosse Namen wie Alfredo Ottaviani (1890–1979), Präfekt der Glaubenskongregation, und Marcel Lefebvre (1905–1991), der 1970 in der Schweiz die fundamentalistische Piusbruderschaft gründete.

Erzbischof Marcel Lefebvre, Gründer der Priesterbruderschaft St. Pius X., am 1. Juli 1976 in Econe (Schweiz).
Erzbischof Marcel Lefebvre, Gründer der Priesterbruderschaft St. Pius X., am 1. Juli 1976 in Econe (Schweiz).

Beide stiessen sich besonders an den Bereichen Religionsfreiheit, ökumenischer Öffnung und Liturgiereform. Zum anderen widmete sich Papst Paul VI. (1963–1978) zwei Fragen, die er «eventuell auch ob ihrer religions- und gesellschaftspolitischen Sprengkraft dem Konzil entzogen hatte», erst nach Ende des Konzils. Nämlich dem Pflichtzölibat und der Empfängnisverhütung.

Enzykliken mit Sprengkraft

Die Enzyklika «Sacerdotalis Caelibatus» (1967) koppelte das Priestertum verbindlich an ein zölibatäres Leben und «Humanae vitae» (1968) verwarf jede Form der Empfängnisverhütung und Geburtenregelung. Besonders diese «Frage war untrennbar verknüpft mit Fragen nach der veränderten rechtlichen Stellung der Frau und ihrer sozialen Rolle in den Nachkriegsgesellschaften (…) Hinzu kam die Diskrepanz zwischen der Ehe- und Morallehre der Kirche und den realen Lebensvollzügen der Menschen in Fragen von Ehe, Familie und Sexualität».

Verhütung
Verhütung

Die Aufsätze des Sammelbandes beleuchten immer wieder die Abweichungen zwischen päpstlicher Lehrmeinung und menschlichen Lebensentwürfe und das resultierende Spannungsfeld, dass sich für die Synode 72 ergab. Die Frage nach dem Umgang mit heiratswilligen Priestern und wem es erlaubt sein soll, Krankensalbungen zu spenden, wurde von den Diözesansynoden ebenso diskutiert – und erinnert an die aktuelle Debatte um Charlotte Küng-Bless.

Auch die Frauenordination war Thema. Zu dieser bekannte sich die Diözesansynode von Basel besonders deutlich als gangbare Möglichkeit. Und auch beim Thema (ehelicher) Empfängnisverhütung positionierte sich die Synode 72 entgegen der enzyklischen Lehrmeinung und überliess die Entscheidung darüber den Eheleuten: «Ist die Zeugung eines Kindes zeitweilig oder für immer unverantwortbar, entscheiden die Ehegatten in ihrem christlich gebildeten Gewissen über die Methode der Empfängnisverhütung».

Synode 72 als Auftrag für die Weltsynode

Dieses Spannungsfeld – zwischen theologischer Anerkennung gesellschaftlicher Veränderungen sowie deren Ablehnung durch Traditionalisten prägt und spaltet die Kirche seit über 50 Jahren. Nachdenklich stimmt, dass die grossen Streitfragen von damals auch heute noch die brennendsten sind. Einige von ihnen haben gar noch an Sprengkraft gewonnen. Im Kontext der unzähligen Missbrauchsfälle sind Pflichtzölibat und Sexualmoral umstritten wie nie zuvor. Die strikte Ablehnung von Empfängnisverhütung erscheint nicht nur in Anbetracht des Bevölkerungswachstums für nicht mehr vermittelbar, sondern auch vor der gesellschaftlichen Realität des letzten halben Jahrhunderts, in welcher Frauen zunehmend selbstbestimmt leben und lieben. Gleiches gilt für den Ausschluss von Frauen aus kirchlichen Leitungsämtern.

Schritt zum Kirchenaustritt? Mann verlässt eine Kirche.
Schritt zum Kirchenaustritt? Mann verlässt eine Kirche.

Besonders in der westlichen Welt scheint die Kirche in dieser Phase der Weltsynode mit zwei Möglichkeiten konfrontiert: entweder gesellschaftliche Realitäten zu akzeptieren, sie als Bereicherung zu verstehen und von ihnen zu lernen. Oder den Weg in die gesellschaftliche Randständigkeit zu riskieren. Dies ist aber ist sicher: Die massenhaften Kirchenaustritte der letzten Jahre zeigen, dass sich die Kirche keine weiteren 50 Jahre Stillstand leisten kann. Und dass der synodale Prozess, den Papst Franziskus ins Leben gerufen hat, kein Selbstzweck sein darf. Im Gegenteil, hält der Sammelband fest: «Für die Wiedererlangung umfassender Glaubwürdigkeit braucht es – für eine Kirche, die aus ihrem theologischem Selbstverständnis als ecclesia semper reformanda zu einem change management bereit und fähig sein müsste – auch die Reform ihrer Strukturen.»

Salvatore Loiero, François-Xavier Amherdt, Mariano Delgado (Hrsg.): Synode 72 – im Heute gelesen. Le Synode 72 – relu aujourd’hui. Praktische Theologie im Dialog, Band 60. Basel: Schwabe-Verlag 2023.


Papst Franziskus. | © KNA
23. Januar 2023 | 11:10
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