Natallia Hersche kommt am 18. Februar auf dem Flughafen Zürich an.
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17 Monate Haft in Belarus: «Ich habe viel gebetet und Gott gespürt»

Seit einem Monat ist Natallia Hersche (52) in Freiheit. «Gott hat mir geholfen», sagt die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin. Sie war 17 Monate in Belarus inhaftiert – und engagiert sich nun auf Schweizer Friedensdemos für die Ukraine.

Raphael Rauch

Natallia Hersche hatte am 19. September 2020 in Minsk an einer Kundgebung gegen das Regime des Machthabers Alexander Lukaschenko teilgenommen und wurde verhaftet. Im Dezember 2020 erhielt sie eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Seitdem gab es immer wieder diplomatische Vorstösse, die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin freizubekommen. Am 18. Februar 2022 konnte sie das Gefängnis nach diplomatischen Vermittlungen verlassen und flog nach Zürich.

Wie geht es Ihnen?

Natallia Hersche: Es geht mir jeden Tag besser. Ich geniesse meine Freiheit.

Wie leben Sie Ihre neugewonnene Freiheit?

Hersche: Ich muss viel organisieren: Ich habe Arzttermine, muss mit der Krankenkasse telefonieren – und ich bin auf Wohnungssuche. Zurzeit bin ich bei meiner Tochter in Zürich-Oerlikon. Wir haben ein kleines Zimmer und schlafen im gleichen Bett. Das ist nicht optimal – und trotzdem ein grosses Gefühl von Freiheit.

«Ich dachte, dass ich vielleicht mit 15 Tagen Gefängnis oder einer Geldstrafe davonkomme.»

War Ihnen bewusst, welche Konsequenzen Ihre Teilnahme an einer Demonstration in Belarus haben könnte?

Hersche: Mir war klar, dass es ein Risiko ist. Aber ich dachte, dass ich vielleicht mit 15 Tagen Gefängnis oder einer Geldstrafe davonkomme. Dass Lukaschenkos Regime so hart durchgreift, war mir nicht klar.

Natallia Hersche mit dem stellvertretenden Staatssekretär Johannes Matyassy (Mitte) und dem ehemaligen Schweizer Botschafter in Belarus, Claude Altermatt.
Natallia Hersche mit dem stellvertretenden Staatssekretär Johannes Matyassy (Mitte) und dem ehemaligen Schweizer Botschafter in Belarus, Claude Altermatt.

Was war das Schlimmste während Ihrer Inhaftierung?

Hersche: Ich war in mehreren Gefängnissen. Die schlimmste Zeit war im Frauengefängnis in Gomel. Ich war in einem Karzer inhaftiert. Am fünften Tag sass ich auf einem Zementhocker, als ich plötzlich einschlief und mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Ich habe geblutet – und als die medizinische Hilfe ankam, sagte ich: «Das ist doch Folter, was ihr hier macht!» Doch die Wunde wurde behandelt und ich wurde zurück in den Karzer geschickt. In Einzelhaft war ich insgesamt zehn Monate, inklusive 46 Tage im Karzer. Dort war es kalt und feucht. Ich hatte keine Matratze, kein Kissen und keine Decke. Ich hatte nur ein Küchentuch. 

«In einer anderen Zelle wurde das Radio so laut gedreht, dass es nicht mehr auszuhalten war.»

Welche Formen von Folter haben Sie noch erlebt?

Hersche: Ich habe mich geweigert, Uniformen für das Regime zu nähen. Deswegen kam ich in Einzelhaft, wo es nachts besonders kalt wurde. Ich musste nachts immer wieder aufstehen und in der kleinen Zelle joggen, um mich aufzuwärmen. So kann man nicht schlafen. Für mich ist das Folter. Und in einer anderen Zelle wurde das Radio so laut gedreht, dass es nicht mehr auszuhalten war. Ich musste in den Hungerstreik treten.

«Ich habe viel gebetet und Gott gespürt. Mein Glaube ist jetzt stärker.»

Was hat Ihnen geholfen?

Hersche: Gott. Ich bin eine gläubige Person, schon ein Leben lang. Ich bin nicht sonderlich religiös erzogen. Aber ich habe immer wieder mit meiner Mutter über den Glauben gesprochen. Und zu Festen wie Weihnachten oder Ostern sind wir in die Kirche gegangen. Als ich im Gefängnis war, hatte ich sehr viel Zeit, um meine Gedanken zu ordnen und über alles nachzudenken. Ich habe viel in der Bibel gelesen und darin Zuspruch gefunden: das Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein. Ich habe viel gebetet und Gott gespürt. Mein Glaube ist jetzt stärker.

Natallia Hersche am 18. Februar in Zürich.
Natallia Hersche am 18. Februar in Zürich.

Manche würden sich die Frage stellen: Gott, wo bist du?

Hersche: Bei mir war das anders. Ich wusste, warum ich das mache. Ich bin gegen das Regime in Belarus auf die Strasse und musste dafür die Konsequenzen bezahlen. Mir hilft der Glaube an Gott. Denn Gott selbst hat gelitten. Jesus sagte am Kreuz: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Haben Sie sich von Gott nie verlassen gefühlt?

Hersche: Nein. Gott war stets bei mir und hat mich beschützt. Ohne Gottes Hilfe hätte ich die Zeit im Gefängnis nicht so gut überstanden. Ich bin Gott sehr dankbar dafür.

«Gott wird mich nicht verlassen.»

Hatten Sie selbst in den dunkelsten Momenten Ihrer Haft keine Gotteskrise?

Hersche: Keine Krise, sondern traurige Momente. Aber ich war mir immer sicher: Gott wird mich nicht verlassen. Ich habe auch davon geträumt, mit Gott fest verbunden zu sein. Ich habe fest gespürt: Gott ist bei mir. Der Traum war zugleich schwierig, weil ich eine starke Angst vor Gott hatte.

Warum hat Gott Ihnen im Traum Angst gemacht?

Hersche: Mir wurde im Traum klar: Gott ist überall und weiss, was wer gemacht hat. Wir werden für unsere Taten zur Rechenschaft gezogen. Und dann habe ich plötzlich Schuldgefühle gespürt und Angst bekommen, weil mir klar wurde: Wenn Gott alles sieht, dann sieht er auch alle schlechten Seiten von mir. Alles kommt raus, also muss auch ich mich ändern. Als ich aufgewacht bin, wusste ich: Gott steht an meiner Seite. Und jetzt ist der Zeitpunkt, wo auch ich mich ändern soll, einen neuen Blickwinkel brauche.

Ein Diktator und von Putin abhängig: Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko,
Ein Diktator und von Putin abhängig: Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko,

Kamen Priester ins Gefängnis?

Hersche: Ein Priester kam ins Gefängnis. Aber nicht zu mir in die Zelle, sondern er war im Flur. Ich konnte den Weihrauch riechen. Ich habe den Wärtern gesagt, dass ich mich gerne mit dem Priester treffen würde. Aber mir wurde gesagt, wegen Corona sei das nicht möglich.

Welche Bibel-Stelle hat Ihnen am meisten Kraft gegeben?

Hersche: Eine Stelle aus dem ersten Petrus-Brief: «Aber auch wenn ihr um der Gerechtigkeit willen leidet, seid ihr seligzupreisen. Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken, heiligt vielmehr in eurem Herzen Christus, den Herrn!»

Was spricht Sie an dieser Stelle an?

Hersche: Bei meinem politischen Protest geht es um Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich weiss, dass Gott an meiner Seite steht.

«Ich bin gegen Lukaschenkos Willkür-Regime auf die Strasse gegangen.»

Ihnen wurde mehrfach angeboten, ein Gnadengesuch zu unterschreiben. Warum haben Sie sich geweigert?

Hersche: Ein Gnadengesuch zu unterschreiben wäre für mich wie ein Selbstverrat gewesen. Damit hätte ich Lukaschenkos Willkür-Regime unterstützt. Doch genau dagegen bin ich doch auf die Strasse gegangen.

Welcher Konfession gehören Sie an?

Hersche: Mich hat die russisch-orthodoxe Kirche geprägt, aber ich gehe auch oft in die katholische Kirche. Ich war vor ein paar Tagen in der Kathedrale von St. Gallen, das hat mir gutgetan. Die konfessionellen Unterschiede sind mir nicht wichtig. Es ist immer derselbe Gott. Und Gott ist überall präsent.

Friedensdemo in Solothurn, 4. März
Friedensdemo in Solothurn, 4. März

Sie sind am 18. Februar freigekommen – knapp eine Woche vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Wäre eine Freilassung aus Belarus nun schwieriger?

Hersche: Ich hatte Glück, dass ich vor Kriegsbeginn freigekommen bin. Lukaschenko steht an der Seite Putins und befürwortet seinen Krieg. Diplomatische Vorstösse dürften jetzt schwieriger sein.

Wie blicken Sie auf den Krieg in der Ukraine?

Hersche: Die Bilder aus der Ukraine machen mich sprachlos. Unschuldige Menschen werden zum Opfer von Putins Ideologie. Es ist ein Verbrechen, das Territorium von Belarus russischen Truppen zu überlassen, um eine freie Ukraine anzugreifen. Die Diktatoren Putin und Lukaschenko zeigen nun ihr wahres Gesicht. Sie sind zu ungeheuerlichen Taten fähig. Mich freut, dass die Menschen in Belarus auf die Strasse gehen: Hunderte von Menschen haben in Minsk gegen den Krieg in der Ukraine protestiert. Doch sie wurden festgenommen und bis zu 15 Tagen Haft verurteilt. Lukaschenko muss sein Amt aufgeben und für seine Taten bestraft werden.

Friedensdemo in Solothurn – mit den Flaggenfarben der Ukraine
Friedensdemo in Solothurn – mit den Flaggenfarben der Ukraine

Engagieren Sie sich an Schweizer Friedenskundgebungen?

Hersche: Ja, ich versuche, viele Demonstrationen zu besuchen. Es ist gut, dass von der Schweiz ein starkes Signal ausgeht: Nein zum Krieg! Ja zum Frieden!

Wie bewerten Sie die Rolle der Kirche?

Hersche: Ich kann nicht verstehen, warum die Kirchenleitungen in Belarus und Russland den Krieg nicht verurteilen. Stattdessen schweigen sie und scheinen so mit dem Krieg einverstanden zu sein. Umso wichtiger sind Menschen, die keine Angst vor dem Regime haben und sich ganz klar positionieren. Zum Beispiel Erzbischof Artemij Kischtschenko. Er hat im Sommer 2020 die Wahlfälschung zugunsten von Lukaschenko verurteilt und gesagt, die Kirche dürfe nicht gleichgültig sein. Daraufhin hat ihn Moskau abgesetzt.

Flüchtlinge an der gesperrten Grenze nach Polen im November 2021.
Flüchtlinge an der gesperrten Grenze nach Polen im November 2021.

Lukaschenko steht fest an Putins Seite. Was befürchten Sie für Belarus und die Ukraine?

Hersche: Mich macht wütend, dass Lukaschenko Belarus freigegeben hat für den Durchmarsch von russischen Soldaten. Mir ist klar, dass Lukaschenko von Putin abhängig ist. Und trotzdem empört mich, wie das belarussische Volk nun in Putins Fanatismus reingezogen wird. Die Menschen in Belarus haben schon so viel gelitten. Mir tun aber auch die jungen russischen Soldaten leid. Sie werden von Putin in einen sinnlosen Krieg geschickt und merken vor Ort: Die russische Propaganda stimmt nicht. Die jungen Soldaten müssen plötzlich feststellen, dass sie eine friedliche Bevölkerung angreifen.

Was halten Sie vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj?

Hersche: Mich beeindruckt er sehr. Er macht die Ukraine zum Symbol eines freien Landes. Er symbolisiert einen starken Widerstand und Freiheitswillen. Ich bete fest für die Menschen in der Ukraine. Mit Gottes Hilfe werden sie gewinnen.


Natallia Hersche kommt am 18. Februar auf dem Flughafen Zürich an. | © Keystone
18. März 2022 | 06:08
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