Der Pfarrer meines Lebens

Wie hast dus mit der Religion? Ich gehöre zu einer der zahlenstärksten Gruppen innerhalb der Landeskirchen: Christen, die sich nicht entscheiden können, ob sie Christen sind. Fraglos bin ich «Christ», wenn es um die Erziehung geht, den kulturellen Hintergrund, das ethische Fundament, die religiöse Sozialisation (Gutenachtgebete, Unterricht, Jugendgottesdienste). Darum sollte hier besser stehen: Ich gehöre zu den vielen Christen, die sich nicht entscheiden können, wie religiös sie noch sind. Und wie viel sie noch mit der Kirche zu tun haben wollen.

Was mich vermutlich von anderen unterscheidet, die in einer ähnlichen Lage sind (man könnte es auch eine Nicht-Lage nennen oder Trägheit oder Entscheidungsschwäche oder spirituelles Wachkoma): Im Gegensatz zu anderen Weissnichtgenau-Irgendwieschon-Christen habe ich einen Pfarrer des Lebens. Dieser war schon als junger Vikar bei meiner Erstkommunion dabei. Als aus mir ein rebellischer Teenager und Frühzwanziger wurde, war er dann der hauptsächliche Grund, dass ich mich nicht ganz von der Religion abwandte. Wie er seinen Glauben lebte, was er predigte, die Selbstverständlichkeit, mit der er – und viele andere in der Kirchgemeinde – meinen ungetauften, dunkelhäutigen Vater am Leben in der Pfarrei teilnehmen liess, das war gar nicht so weit weg von meinen langhaarigen Ansichten punkto Solidarität, Gerechtigkeit, Pazifismus etc. Bloss gab es dafür ein weniger cooles Wort: Nächstenliebe.

Der Vikar, der zum Pfarrer meines Lebens werden sollte, zog weg und wurde Pfarrer in einer anderen Gemeinde. Als meine schwer kranke Mutter dem dortigen Kirchenchor beitrat, begegnete ich ihm wieder. Natürlich war er es dann, der meine Eltern beerdigte, als sie kurz hintereinander starben. Später traute er meine Frau und mich, ein paar Jahre vor seiner Pensionierung taufte er auch noch unseren Sohn.

In der Gemeinde der Lauwarmen gibt es viele, die früher oder später aus der Kirche austreten. Gerade die römisch-katholische Kirche liefert mannigfaltigen Anlass dazu, wobei ich den Verdacht habe, dass es häufig genau das ist: ein Anlass, ein Vorwand, das zu tun, was man ohnehin hatte tun wollen, unabhängig davon, wie haarsträubend oder makellos die Kirchenoberen agieren. Ich habe nie über einen Kirchenaustritt nachgedacht, auch jetzt nicht, nach der miesen Entlassung des aufgeschlossenen, im Kirchenvolk beliebten Generalvikars Martin Kopp durch das Bistum Chur. Die Abservierung steht im Zusammenhang mit der Wahl eines neuen Bischofs. Einer der Kandidaten für den Posten wurde als «Steve Bannon der katholischen Kirche» bezeichnet. (Die anderen sind etwa gleich schlimm.) Als Passiv-Christ, so fand ich immer, steht mir Indignation in innerkirchlichen Angelegenheiten nicht zu. Der Fussballer Alexander Frei formulierte dieselbe Überlegung für die Welt des Sports einst so: «Nichtspieler Maul halten.»

Nun aber senden mir die Schwiegereltern einen Leserbrief aus ihrer Regionalzeitung. Der Brief stammt vom Pfarrer meines Lebens. Er schreibt: «Ich habe die Bischöfe Wolfgang Haas und Vitus Huonder ertragen. Einen dritten Bischof desselben Schlags überlebe ich nicht. Mir sind die Energie und die Freude ausgetrieben worden  Ich verstehe mich nicht mehr als Mitarbeiter des Bischofs, in seiner Kirche fühle ich mich nicht mehr daheim und beende meine Arbeit entsetzt über den Stil und das Gebaren solcher Bischöfe.»

Jener Mensch, der – ohne es zu wissen – am meisten dazu beigetragen hat, dass ich nie aus der Kirche ausgetreten bin, ist nun Auslöser dafür, dass ich zum ersten Mal ernsthaft über diesen Schritt nachdenke. Wenn selbst einer wie er verzagt, was soll dann einer wie ich noch hier?

Bruno Ziauddin

Quelle: Das Magazin

Das Magazin
25. April 2020 | 08:09