«Das Nothilfesystem macht krank»: Asylsuchende nach Negativentscheid.

Medienmitteilung

Kantone schieben Verantwortung auf Bund, aber die unterschiedliche Praxis zeigt, dass Kantone Handlungsspielräume haben.

Abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz kommen in der Regel ins Nothilfesystem. Hier sind die Bedingungen menschenunwürdig und gesundheitsschädigend, kritisieren rund 500 Fachpersonen aus Medizin, Psychotherapie und Psychologie im Februar 2022 in einem offenen Brief. Die Antworten der kantonalen Behörden und Regierungsratsmitglieder zeigen, dass die Kantone die teilweise vagen Bundesvorschriften unterschiedlich umsetzen. Fachpersonen  fordern die Kantone auf, ihren Handlungsspielraum zugunsten der Betroffenen zu nutzen.

«Einige Kantonsvertreter*innen sehen laut ihren Antworten auf den offenen Brief durchaus das Dilemma zwischen Asylgesetz, Menschenrechten und humanitären Grundwerten. Sie anerkennen die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen eines langjährigen Verbleibs in der Nothilfe und bedauern die Härten des Nothilferegimes. Das Dilemma fasst Kaspar Sutter, Regierungsrat Basel-Stadt, zusammen: «Den betroffenen Personen innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens für die Zeit bis zu ihrer Ausreise ein möglichst würdiges Dasein zu ermöglichen, ist seit vielen Jahren eine Herausforderung — auch für den Kanton Basel-Stadt. Speziell im Fall von langfristigem Nothilfebezug ist es schwierig, sowohl der Logik und Kohärenz des Asylrechts wie auch humanitären Grundwerten gerecht zu werden.»

Alle Kantone weisen auf die nationale Gesetzgebung und Vorschriften zur Ausgestaltung der Nothilfe sowie ihre Pflicht hin, diese umzusetzen. Es entsteht so der Eindruck, dass diese Kantone kaum Handlungsspielraum bei der kantonalen Umsetzung der Nothilfe für abgewiesene Geflüchtete sehen (möchten) und sich dementsprechend aus der Verantwortung für allfällige Menschenrechtsverletzungen und Gesundheitsschädigungen in der Nothilfe  ziehen. Die Praxis zeigt jedoch, dass manche Kantone ihre Verantwortung bei der Umsetzung nicht zu scheuen versuchen. (Analyse, S. 5)

Die neue Analyse der unterschiedlichen kantonalen Antworten zeigt, dass die meisten Kantone die Verantwortung für die absichtlich schlechten, sogar gesundheitlich schädlichen Bedingungen in der Nothilfe beim Bund platzieren, jedoch nutzen einige Kantone in den folgenden Bereichen ihren erheblichen Handlungsspielraum aus, um das Leiden der rund 6000 Abgewiesenen, darunter 2300 Langzeitabgewiesenen (mehr als ein Jahr), zu lindern:

·       Finanzielle Unterstützung für Essen, Mobilität, Kommunikation, Hygiene usw. variiert zwischen «Sachleistungen ohne Geld» oder Fr. 7.50 täglich bis fast doppelt so viel (Fr.12.-). Das ist immer noch weit unten dem Existenzminimum, jedoch ein erheblicher Unterschied.

·       Unterkünfte auch für Kranke, Schwangere, Kinder: Abgewiesene Geflüchtete wohnen bis 10 Jahre oder länger in unmenschlichen unterirdischen Bunkern oder Massenunterkünften – oder je nach Kanton auch in menschenwürdigen Wohnungen und Wohngemeinschaften.

·       Mobilitätsverbote, Haft- und Geldstrafen: Manche Kantone verzichten auf Strafen für illegalen Aufenthalt und geben Ein- oder Ausgrenzungen nur bei nachweislicher Gefährdung, andere schränken die Mobilität auf Gemeinden oder die Kantonsgrenze ein, sprechen für illegalen Aufenthalt regelmässig unbezahlbare Strafen über Fr. 1000.– aus und inhaftieren Menschen mit Wegweisungsentscheid wiederholt.

·       Beschäftigung ist wichtig für die psychische Gesundheit und wird je nach Kanton total verboten, aber in anderen angeboten inklusive Ausbildung für Jugendliche.

       Kinderrechtskonforme Bedingungen: In manchen Kantonen gehen die Kinder in öffentliche Schulen und können eine Ausbildung abschliessen, in anderen werden der reguläre Schulbesuch sowie eine Ausbildung verboten. Manche Familien leben in Wohnungen, in anderen Kantonen leben Eltern und Kinder gemeinsam in einem kleinen Zimmer – mit voraussehbaren negativen Konsequenzen für die Kindsentwicklung.

      Regularisierung des Aufenthaltsstatus durch Härtefallgesuche wird in manchen Kantonen durch Beschäftigung und Zugang zu Sprachkursen gefördert, um die Vorbedingungen dafür zu erfüllen, andere Kantone leiten (fast) keine Härtefallgesuche an den Bund und unterstützen diese nicht.  

Manche kantonale Verantwortliche sehen ein, dass die Nothilfe als Langzeitmassnahme unhaltbar und zermürbend ist sowie die psychische und physische Gesundheit gefährdet. Andere behaupten, dass ihr Kanton keine andere Wahl hätte, weil sie den Handlungsspielraum nicht sehen oder nicht sehen wollen. Der Bundesrat, das SEM und das Parlament sollten anerkennen, dass Nothilfe für Langzeitnothilfebeziehende nicht menschenwürdig umgesetzt werden kann. Das Solinetz Zürich und NCBI, welche den offenen Brief mitkoordiniert haben, stellen das aktuelle Nothilfesystem grundsätzlich in Frage.

Ein aktuelles, tragisches und noch nicht in der Deutschschweiz berichtetes Beispiel: Wegen den schlimmen Lebensbedingungen und einer – trotz ärztlicher Einwände von suizidaler Gefährdung – geplanten Ausschaffung nahm kürzlich (am 6.12.22) ein abgewiesener junger Afghane in Genf sein Leben.

Doch im neuen Bericht wird aufgezeigt, dass manche Kantone bereits jetzt handeln und alle mehr unternehmen könnten, um das Leiden zu lindern. Die Antworten der Behörden auf den offenen Brief wurden sorgfältig analysiert und zeigen auf, wie die Kantone ihren Handlungsspielraum häufiger und positiv nutzen könnten, um die Menschenwürde und psychische Gesundheit der Betroffenen zu schützen.

Hier finden Sie die ausführliche Analyse der Antworten (PDF Dez 2022) inklusive im Anhang die einzelnen kantonalen Antworten.

Das National Coalition Building Institute NCBI Schweiz, das Solinetz Zürich und terre des hommes schweiz unterstützen das Anliegen der Fachpersonen aus Medizin, Psychotherapie und Psychologie. Alle drei Organisationen setzen sich für die Würde und Gesundheit von Menschen mit Fluchthintergrund ein und gegen Diskriminierung und Rassismus.

NCBI
11. Dezember 2022 | 09:21