"Mein Gott diskriminiert mich nicht": Protest in Frankfurt beim Synodalen Weg.
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Nach Blockade bei der Sexualmoral: Jochen Sautermeister warnt vor einem «neuen Fall Galilei»

Ein Teil der deutschen Bischöfe hat ein Reformpapier zur Sexualmoral beim Synodalen Weg blockiert. Der Moraltheologe Jochen Sautermeister spricht von einem «gewaltigen, irritierenden Beben». Die Kirche müsse stärker wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. 

Raphael Rauch

Sie sind Moraltheologe an der Universität Bonn und haben den Lehrstuhl, den einst der Glarner Franz Böckle hatte. Eines Ihrer Schwerpunkte ist die Beziehungs- und Sexualethik. Warum haben manche Bischöfe auch noch im Jahr 2022 ein Problem mit Selbstbefriedigung, Verhütung und Homosexualität?

Jochen Sautermeister*: Tatsächlich steht auf dem Spiel, ob die Kirche überhaupt noch als moralische Autorität in der Gesellschaft Gehör finden kann und als kompetenter wie glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt wird. Auf dem Spiel steht aber auch, ob die Kirche ihrem Auftrag, wirkmächtiges Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes zu sein, in der Lebenswirklichkeit menschlicher Beziehungen noch gerecht werden kann.

Jochen Sautermeister ist Dekan der Bonner Fakultät. Hier mit dem Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey.
Jochen Sautermeister ist Dekan der Bonner Fakultät. Hier mit dem Bischof von Sitten, Jean-Marie Lovey.

Entgegen ursprünglichen Plänen hat Kardinal Woelki angekündigt: Die Priesteramtskandidaten des Erzbistums Köln fangen im Wintersemester bei Ihnen in Bonn an und nicht in Köln. Was passiert, wenn Ihnen ein Priesteramtskandidat in der Vorlesung widerspricht und darauf pocht, dass Selbstbefriedigung Sünde sei?

Sautermeister: Das gleiche wie in früheren Jahren: Selbstverständlich werden auch die lehramtlichen Texte behandelt. Es zählen moraltheologische Argumente. Und die haben sich im Diskurs zu bewähren – das unterscheidet das kirchliche Selbstverständnis in Moralfragen von fundamentalistischen Lehren.

«Der Grundtext bildet behutsam den theologisch-ethischen Diskussionsstand ab.»

Wie bewerten Sie das Abstimmungsergebnis zum Grundtext «Leben in gelingenden Beziehungen – Grundlinien einer erneuerten Sexualethik» der vierten Synodalversammlung des Synodalen Wegs?

Sautermeister: Ich habe die Synodalversammlung im Livestream mitverfolgt. Der Grundtext zu einer erneuerten Sexualethik, der debattiert und zur Abstimmung gebracht wurde, ist sehr solide ausgearbeitet und bildet behutsam den theologisch-ethischen Diskussionsstand ab. Dass er jedoch vielen noch nicht weit genug ging, kam ja auch deutlich zum Ausdruck. Dass trotz der hohen Zustimmung der Synodalversammlung dennoch keine Zweidrittelmehrheit der Bischöfe zustande kam, war doch ein gewaltiges, irritierendes Beben.

Protest gegen Entscheid der Bischöfe beim Synodalen Weg in Frankfurt.
Protest gegen Entscheid der Bischöfe beim Synodalen Weg in Frankfurt.

Sie sprechen von Beben. Für manche Synodalen war es sogar sehr verletzend: Manche Mitglieder der Synodalversammlung haben weinend den Raum verlassen. Am nächsten Tag sprach jemand von einem «Zusammenbruch».

Sautermeister: Mich hat das selbst erschüttert – sowohl menschlich als auch als Moraltheologe. Es wurde sehr schmerzlich deutlich, wieviel Verantwortung man hat, wenn man moralisch spricht und Urteile über Menschen fällt. Moralisches Sprechen und Urteilen kann zutiefst kränken, verletzen und auch missachten. Und darin anderen schweren Schaden zufügen: nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. 

«Die Abwertung und Stigmatisierung von Homosexualität und queerer Personen führt meistens zu massiven Belastungen.»

Was meinen Sie mit «auch körperlich»?

Sautermeister: Sozialwissenschaftlich und medizinisch ist klar belegt, dass junge Menschen mit homosexueller Neigung signifikant stärker gefährdet sind, suizidale Tendenzen auszubilden und einen Suizidversuch durchzuführen. Die Abwertung und Stigmatisierung von Homosexualität und queerer Personen führt meistens zu massiven Belastungen. Da kann dann ein Suizidversuch als einziger Ausweg erscheinen.

Der Basler Bischofsvikar Georges Schwickerath lobte in Frankfurt das Papier zur Sexualmoral.
Der Basler Bischofsvikar Georges Schwickerath lobte in Frankfurt das Papier zur Sexualmoral.

In der Synodalversammlung fiel das Stichwort «Suizidprävention». Meinen Sie das?

Sautermeister: Genau. Und nicht zu vergessen: Die Themen des synodalen Weges sind ja Konsequenzen aus der sogenannten MHG-Studie aus dem Jahr 2018 zu sexualisierter Gewalt von Klerikern gegen Kinder und Jugendliche in der katholischen Kirche. Hier wurde gerade die kirchliche Sexualmoral als reformbedürftig identifiziert. Ein personales Verständnis von Sexualität ist viel stärker zu beachten. Der Grundtext «Leben in gelingenden Beziehungen» will hierauf antworten.

«Weiterentwicklung und Vertiefung der theologisch-ethischen Grundeinsichten sind ein wichtiger Bestandteil der Treue zum Evangelium.»

Gegner des Forumstextes haben kritisiert, dass der Text nicht der kirchlichen Lehre entspreche und auch nicht der christlichen Anthropologie. 

Sautermeister: Es geht um eine Weiterentwicklung der kirchlichen Sexuallehre. Und Weiterentwicklung und Vertiefung der theologisch-ethischen Grundeinsichten sind ein wichtiger Bestandteil der Treue zum Evangelium. Papst Franziskus etwa hat die kirchliche Morallehre dahingehend vertieft, dass die Todesstrafe immer unzulässig ist. Zwei andere Beispiele: Die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Kirche ist erst eine Frucht des Zweiten Vatikanums, ebenso das personale Eheverständnis. Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen, die zeigen: Tradition ist geschichtlich und es gibt Lern- und Einsichtsprozesse auch in der kirchlichen Morallehre.

Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.
Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.

Auf welche Argumente können sich dann die Befürworterinnen und Befürworter des Textes stützen?

Sautermeister: Um die kirchliche Morallehre weiterzuentwickeln, bedarf es überzeugender Gründe. Wenn immer wieder vorgebracht wird, dass man der Lebenswirklichkeit der Menschen gerecht werden will, dann ist das eine abgekürzte Rede. Genau genommen stehen dahinter zwei Argumentationsstränge: erstens das Ernstnehmen der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zur menschlichen Sexualität und zweitens die Einsicht, dass selbstverständlich auch in queeren Beziehungen Liebe, Treue und Verantwortung gelebt werden kann. Wenn gesicherte empirische Erkenntnisse und Werteinsichten sich ändern, dann muss das auch in der ethischen Urteilsbildung Berücksichtigung finden.

Regenbogen mit Trauerflor: Die norwegische Kronprinzessin Mette-Marit gedenkt in der Osloer Kathedrale der Opfer eines homophoben Anschlags.
Regenbogen mit Trauerflor: Die norwegische Kronprinzessin Mette-Marit gedenkt in der Osloer Kathedrale der Opfer eines homophoben Anschlags.

Heisst das: Die lehramtliche Sexualmoral entspricht nicht mehr dem Forschungsstand der Humanwissenschaften?

Sautermeister: Das lässt sich nicht leugnen. Die Kirche sollte aus Fehlern früherer Zeiten lernen. Ansonsten hätten wir einen neuen Fall Galilei im 21. Jahrhundert – nur mit dem gravierenden Unterschied, dass es die Gestirne nicht tangiert, was Menschen über sie denken. Und mehr noch: Unzählige kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in verschiedenen pastoralen Bereichen, Verbänden, Sozialdiensten und Beratungsfeldern tätig. Sie sind gleichsam Wahrnehmungsorgane für die menschliche Lebenswirklichkeit. Vertreter der Fachverbände nehmen ja auch am Synodalen Weg teil. Ich frage mich ernsthaft, welche theologischen Erkenntnisquellen man für sich in Anspruch nehmen kann, diese professionellen Erfahrungen wie auch die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht hinreichend zu berücksichtigen.

* Jochen Sautermeister (47) ist seit 2015 Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Universität der Uni Bonn. Zu seinen Vorgängern auf dem Lehrstuhl für Moraltheologie gehört der Glarner Theologe Franz Böckle.


«Mein Gott diskriminiert mich nicht»: Protest in Frankfurt beim Synodalen Weg. | © KNA
11. September 2022 | 17:06
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