Kasernen voll Wind

Gedanken zum 15. August 2016 – Maria Himmelfahrt (Lk 1,39–56)

Jacqueline Keune*

Meine Mutter hat sich vor Jahren ein Kostüm schneidern lassen, wie es damals total en vogue war. Als es dann in ihrem Schrank hing, haben meine Schwestern und ich sie jeden Sonntag neu bestürmt, nun endlich das Kostüm anzuziehen. Aber irgendwie war es einfach immer zu schön, um getragen zu werden. Und als dann eine Tante geheiratet und meine Mutter das Kostüm doch noch hervorgeholt hat, da war es ihr zu klein geworden …

Mit dem Deux-Pièces im Schrank geht es mir ein wenig wie mit der Mutter Gottes auf dem Altar der Verehrung, wo ihre eigentliche Identität doch eine ganz andere gewesen ist.

«In diesen Tagen stand Maria auf und machte sich auf den Weg …» Mutterseelenallein geht die Schwangere zu Fuss von Nazaret ins Bergland von Judäa – über 100 Kilometer, um mit dem, was sie erfahren hat, nicht allein zu bleiben und sich einer anderen Frau anzuvertrauen, die auf ähnlich wundersame Weise vom Himmel überrascht worden war. ‹Ein Kind, Sohn des Höchsten!›, hatte der Engel gesagt. Wer würde ihr das glauben? Wer anders als Elisabet, die doch selber so ein unerklärliches Kind erwartete.
Die Begegnung erschüttert die beiden Frauen gleichermassen. Die eine zu alt, um noch Mutter zu werden, eine Risikoschwangerschaft. Die andere zu jung, zu ledig und zu verlobt mit einem anderen denn dem Vater ihres Kindes. Aber nichts von all den Ängsten wird der Begegnung spürbar, sondern einzig Freude. Freude, die auch das Kind in Elisabet erfasst und sie augenblicklich erkennen lässt, dass da etwas überwältigend Neues im Kommen ist. Und auch Maria gerät ausser sich und singt ihr umwerfendes Lied. Kein frommes Gesäusel von Almosen, sondern ein rebellischer Gesang von Gerechtigkeit!
Nein, da erwartet Eine nicht bloss den Anfang eines neuen Lebens, sondern einer neuen Welt. Einer Welt, in der keiner mehr für ein paar lumpige Geldscheine ein Boot voller Hoffnung in den sicheren Tod schickt, in der sich keine Kinder mehr in den Schlaf weinen und in der es keine Rolle mehr spielt, welche Höhe ein Kontostand, welche Farbe eine Haut und welche Form ein Körper hat. Eine Welt, in deren Kasernen nur noch der Wind wohnt.

*Jacqueline Keune, 52, ist freischaffende Theologin und lebt in Luzern.

Jacqueline Keune | zVg
15. Juli 2016 | 08:08
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