Nazar Zatorskyy
Schweiz

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: «Die Kirche ist eine wichtige Kraft für die Flüchtlinge»

Nazar Zatorskyy (44), Priester der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche, hat noch immer Familie und Freunde in der Ukraine. «Der Tod Nawalnyjs ist sicher nicht so gut für die Zukunft Russlands.» «Dennoch sieht er die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer – und den Wunsch nach Demokratie.»

Wolfgang Holz

Herr Zatorskyy, wie geht es Ihnen nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine?

Nazar Zatorskyy*: Na ja. Genauso wie vor einem Jahr. Es geht darum durchzuhalten. Standhaft zu sein. Seine Pflicht zu tun. Der Krieg wird morgen nicht vorbei sein. Deshalb muss jeder seinen Beitrag leisten.

«Der Luftalarm ist grausam und trifft einen bis ins Mark.»

Wann waren Sie denn das letzte Mal persönlich in der Ukraine?

Zatorskyy: Ich war Ende August, Anfang September letzten Jahres in der Ukraine, genauer gesagt, in Lwiw und Kyjiw. In Lwiw, meiner Heimatstadt, lebt meine Mutter. Als ich dort weilte, gab es Luftalarm. Der Luftalarm ist grausam und trifft einen bis ins Mark. Die Stadt wurde auch von russischen Raketen getroffen, darunter ein Kindergarten – der ist jetzt nur noch ein schwarzes Loch. In Kyjiw haben meine Freunde und Bekannten, die ich getroffen habe, auch schlecht geschlafen wegen Luftalarme. Alle sagen nur «Scheiss Russen»!

Lwiw (Lemberg) vor dem Krieg
Lwiw (Lemberg) vor dem Krieg

Stehen Sie mit Ihrer Familie in ständigem Kontakt? Was erzählt Ihnen diese über den Krieg?

Zatorskyy: Ja, wie gesagt, ich habe meine Mutter besucht. Sie hatte Krebs und arbeitet als Ärztin in der Blutbankstelle der Westukraine. Die Blutspenden haben sich im Vergleich zu vor dem Krieg mittlerweile verdreifacht. Die meisten Leute gehen ihrer Arbeit nach, die Kinder zur Schule. Es läuft. Die achtjährige Tochter Anna einer Bekannten hat zu ihrer Mutter nach einem Luftalarm gesagt: «Wir befinden uns alle in Gottes Händen.» Das ist eigentlich ein schöner Satz, aber gleichzeitig schrecklich, weil es bedeutet, dass jeder zu jedem Zeitpunkt hinweggerafft werden kann.

«Zwei meiner Cousins haben an der Front gekämpft und wurden verletzt. Inzwischen sind sie wieder an die Front zurückgekehrt.»

In Ihrem letzten Interview mit kath.ch sagten Sie, Sie wären bereit für den Frieden in der Ukraine an der Front zu sterben. Würden Sie das immer noch tun wollen?

Zatorskyy: Ja. Nur werde ich von der kirchlichen Seite natürlich nicht an die Front geschickt. Aber zwei meiner Cousins haben an der Front gekämpft und wurden verletzt. Inzwischen sind sie wieder an die Front zurückgekehrt. Bis jetzt ist, so weit mir bekannt ist, niemand aus meiner Familie im Krieg umgekommen.

Ein ukrainischer Soldat, der einige Tage Urlaub hatte, zündete ganz viele Kerzen in der armenischen Kathedrale in Lwiw an.
Ein ukrainischer Soldat, der einige Tage Urlaub hatte, zündete ganz viele Kerzen in der armenischen Kathedrale in Lwiw an.

Zwei Jahre Krieg in der Ukraine, verursacht durch die russische Militäraktion von Putin, sind eine furchtbare und lange Zeit gewesen. Viele Menschen wurden getötet. Andererseits hat die Ukraine viele Verbündete an ihrer Seite, aber momentan zu wenige Waffen. Wie lange, glauben Sie, wird der Krieg noch dauern?

Zatorskyy: Das hängt, ehrlich gesagt, von vielen Faktoren ab. Aber der Hauptfaktor ist tatsächlich der Nachschub mit Waffen. Von Nato-Experten ist die Sommeroffensive der ukrainischen Armee kritisiert worden. Dabei haben die ukrainischen Soldaten erst im Herbst die notwendigen Waffen aus dem Westen erhalten. Allerdings sind noch immer keine F-16-Kampfjets an die Luftwaffen geliefert worden, obwohl es jedem Nato-Experten klar ist, dass man keine erfolgreiche Militäroperation ohne die entsprechende Lufthoheit durchführen kann.

Und die Russen?

Zatorskyy: Die Russen beherrschen nach wie vor den Luftraum und haben für das Jahr 2024 dreimal soviel Geld für den Krieg budgetiert, wie für das vorherige Jahr – was absolut nicht darauf hinweist, dass Putin den Weg einer Verhandlungslösung einschlagen möchte. Im Gegenteil. Die jüngsten Widerständen im amerikanischen Parlament gegenüber der Waffenlieferung führte zum Verlust ukrainischer Städte wie Bachmut und Awdijiwka.

Nazar Zatorskyy auf Besuch in Lwiw und in Kyjiw
Nazar Zatorskyy auf Besuch in Lwiw und in Kyjiw

«Für die ukrainischen Flüchtlinge ist die Kirche ein Stück Heimat.»

Was macht denn die Kirche, die ukrainisch-griechisch katholische Kirche (UGKK) beispielsweise, um den Menschen in der Schweiz und in der Ukraine Kraft zu spenden? Sie sind Priester und der bischöfliche Delegierte.

Zatorskyy: Die Kirche erfüllt ihre Funktion. Die Kirche ist der Ort, wo Menschen Gott begegnen können, wo ihnen Trost gespendet wird, und wo sie Gemeinschaft erleben. Für die ukrainischen Flüchtlinge ist sie ein Stück Heimat. Der Kirchenbesuch hat sich seit dem Krieg mehr als verdreifacht. Ich arbeite ja als Priester in den ukrainischen Gemeinden Zürich und Basel. Es sind seit dem Krieg neue Gemeinden in St. Gallen, Chur und Interlaken entstanden – insgesamt sind es jetzt neun Gemeinden. Die Kirche ist mit Sicherheit eine wichtige Kraft für die Flüchtlinge.

Junge ukrainische Flüchtlingsmutter mit ihrer Tochter
Junge ukrainische Flüchtlingsmutter mit ihrer Tochter

Wie geht es den ukrainischen Flüchtlingen in der Schweiz?

Zatorskyy: Unterschiedlich. Diejenigen, die eine Wohnung gefunden haben, fühlen sich persönlich aufgehoben. Diejenigen dagegen, die sich in Gemeinschaftsunterkünften mit anderen Personen ein Zimmer teilen müssen, fühlen sich sicher noch nicht so zuhause. Denn diese Lebensgemeinschaften sind ja keine freiwilligen Gemeinschaften – wie etwa die Ehe. Andererseits haben viele Flüchtlinge Jobs in der Gastronomie und im Billiglohnsektor gefunden. Dadurch fühlen sie sich gebraucht und sie können zumindest für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen.

«Wer in der Ukraine ein eigenes Haus besitzt und gut gestellt war, möchte sicher bald wieder zurückkehren in die Heimat.»

Wollen die Flüchtlinge aus Ihrer Sicht irgendwann wieder zurück in ihre Heimat oder wollen Sie in ihrem neuen Leben in der Schweiz bleiben?

Zatorskyy: Auch das ist unterschiedlich. Wer in der Ukraine ein eigenes Haus besitzt und gut gestellt war, möchte sicher bald wieder zurückkehren in die Heimat. Andere, denen es nicht so gut gegangen ist, verspüren eher den Drang hierzubleiben. Das hängt auch damit zusammen, wie gut die Kinder integriert sind.

Alexej Nawalny ist tot.
Alexej Nawalny ist tot.

«Nawalnyj war noch eine Repräsentationsfigur des Widerstands.»

Jüngst ist der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj ums Leben gekommen. Wird Putin jetzt noch brutaler in der Ukraine vorgehen?

Zatorskyy: Wenn Putin das wirklich könnte, hätte er dies wohl schon längst getan. Eigentlich ist das eine rein russische Angelegenheit. Aber der Tod Nawalnyjs ist sicher nicht so gut für die Zukunft Russlands. Nawalnyj war noch eine Repräsentationsfigur des Widerstands, die es so jetzt nicht mehr gibt. Es ist zu befürchten, dass Russland sich künftig aufsplittert, weil die russischen Regionalchefs die Ressourcen fressende Politik Putins nicht mehr mitmachen wollen. In Tschetschenien ist es ja bereits soweit – dort werden russische Gesetze nicht mehr befolgt.

Der ukrainische Priester Nazar Zatorskyy.
Der ukrainische Priester Nazar Zatorskyy.

Und was macht Ihnen persönlich Hoffnung, dass es in der Ukraine irgendwann wieder Frieden gibt?

Zatorskyy: Die Entschlossenheit der Ukrainerinnen und Ukrainer. Und dass der Westen die Ukraine weiterhin unterstützt und auf die Demokratie setzt anstatt auf Diktatur. Die freie Welt, sprich, die Demokratie, muss sich gegen die Diktatur Putins wehren, der bereits andere Diktatoren hinter sich schart. Die Demokratie in der Ukraine ist zwar noch nicht auf dem Level westlicher Demokratie – aber im Vergleich zu Russland gibt es in der Ukraine Wahlen, eine Opposition und nach wie vor Presse- und Versammlungsfreiheit. Das ist der grosse Unterschied zu Russland, wo es das alles längst nicht mehr gibt. Und das ist letztendlich auch der Grund, warum Russland vor zwei Jahren mit seinem Einmarsch in der Ukraine seine Grossoffensive gegen die Demokratie gestartet hat.

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*Nazar Zatorskyy (44) ist Priester und bischöflicher Delegierter für die ukrainische Gemeinde der griechisch-katholischen Kirche in der Schweiz.


Nazar Zatorskyy | © Wolfgang Holz
22. Februar 2024 | 14:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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